Auf
dem Weg zur „Rechtsphilosophie“: Zwischenstation „Phänomenologie“
(Der
ökologische Gehalt der „Phänomenologie des Geistes“)
1.
Der rote Faden
Hegels Geschichtsbild ist nicht das einer
„Geschichte der Klassenkämpfe“ bzw. einander ablösender Klassengesellschaften, sondern die Geschichte zweier
Naturen, der „vorgefundenen“[1] oder „primären“ und der menschgeschaffenen
oder „produzierten“ Natur und ihres Verbundes im „Gemeinwesen“.[2]
Und diese Geschichte ist es, die
gerade einem dramatischen Wandel unterliegt.[3]
Eine „Zeit der Geburt und des Übergangs zu
einer neuen Periode“[4]. Wir stehen vor dem Zerfall des bisher
Einheitlichen. Der Prozess einer „entgegensetzenden Verdoppelung“ vollzieht
einen „qualitativen Sprung“, der, „ein Blitz, in einem Male das Gebilde der
neuen Welt hinstellt.“[5]
Und gemeint ist damit dies:
Vor den Augen des Publikums zerfällt auch im
verspäteten Deutschland jenes „naturwüchsige“, auf „Blut und Boden“ beruhende,
Gemeinwesen, in dem bisher die beiden Naturen, zur Einheit gebracht waren. Ein
Zerfall, der die bürgerliche Gesellschaft ans Licht bringt.
Dabei
treten „Phänomene“ auf; neuartige Phänomene. Ihnen gilt Hegels Interesse. Sie
werden die Gegenstände seiner Philosophie. Seine „Phänomenologie“ wird zum
Platz ihrer Sammlung, ersten Sichtung und Auseinandersetzung mit ihnen. All das
wird gezeigt, was dieser Zerfall auf den drei Ebenen der menschlichen Existenz:
der des Menschen (Ebene der Einzelheit), der der Familie (Ebene der
Besonderheit), der des Gemeinwesens (Ebene der Allgemeinheit) beseitigt und neu
hervorbringt. Ein „Zerfall“ und ein „Neubau“.
Was wird
mit dem Alten, was entsteht an Neuem?
Vor dem Zerfall waren „Mensch“, „Familie“ und
„Gemeinwesen“ geprägt durch die naturwüchsig hergestellte und gewahrte Einheit
zweier entgegengesetzter Naturen und Prinzipien. Sie waren sinnlich erfahrbare
Organismen – hier deutlicher, dort weniger deutlich. Sie waren „Gestalten“. Der
jetzige Zerfall zerstört diese. Das in ihnen Zusammengeschlossene wird frei
gesetzt. Der Mensch wird zu „Subjekt“ und „Person“, die ehemalige
„Wirtschaftsfamilie“[6]
wird „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“, das ehemalige Gemeinwesen wird „Staat“ und „bürgerliche
Gesellschaft“, die frühere Sittlichkeit wird
„Recht“ und „Moral“.
Wir stehen vor der „Tragödie im Sittlichen“[7].
Das alte
„Ganze“ geht verloren. Mit ihm die frühere, über den „Organismus“ hergestellte,
Einheit. An ihre Stelle tritt die „Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit beider
Teile.“[8]
Die Teile. Scheinbar sind jetzt sie das neue „Ganze“.
Soll es dabei bleiben?
Es ist das Schicksal des Menschen, Geschöpf und Schöpfer, Tier und „Geist“[9] zugleich zu sein. Als Geschöpf, als
„Tier-Mensch“, ist er Bestandteil der „vorgefundenen“ Natur. Was ihn aber als
„Geist-Mensch“ daraus heraushebt, ist, dass er als solcher „tätiger Geist“ ist; „Wille“, der sich eine
eigene Natur erschafft. Als „zweite“[10],
als „produzierte“ Natur, tritt sie zur „vorgefundenen“ hinzu.
Im Organismus verhielten sich beide Naturen,
beide Menschen, als arbeitsteilig zusammen wirkende „Verschiedene“. Nun aber sind
sie „Entgegengesetzte“[11]. Damit ist eine neue Qualität erreicht. „Zwei
Welten“[12],
zwei Menschen sind entstanden. Auf allen Ebenen stoßen wir auf diese Teilung
und diese Entgegensetzung. Das „furchtbare Schicksal“[13]
des Menschen ist offenbar geworden.
Der „Naturzustand“ ist verlassen. Welcher
Zustand sichert jetzt das Überleben?
Das Generalthema seiner
praktischen Philosophie ist eröffnet. Es bewegt ihn schon in Bern und
Frankfurt. Aber erst in Jena, dem damaligen Mekka der deutschen Philosophie,
legt er im „Naturrechtsaufsatz“ eine erste umfassend begründete Antwort vor. Er
steht ziemlich allein mit ihr, stößt auf wenig Resonanz. Aber er ist überzeugt,
auf dem richtigen Weg zu sein; er bleibt dran; er macht weiter. Und er verlässt
Jena mit dem Manuskript der „Phänomenologie“ in der Tasche.
2.
Der neue Begriff „Geist“
Der „Zerfall“ bringt das Phänomen „Geist“
hervor. Unter all dem Neuen ist es besonders er, für den sich Hegel
interessiert. Die Ausführungen zu ihm nehmen im Werk den größten Platz ein.
„Mensch“, „Familie“, „Gemeinwesen“, erfasst von dem jetzigen „Zerfall“, werden
ihrer früheren Einheit beraubt und insoweit zu „Geistern“. Zu „Geistern“, die
darauf warten, in eine neue Gestalt überführt zu werden.
Hegel betont: Der „Zerfall“ ist ein
Zwischenergebnis, das von der Philosophie der Aufklärung „verwirrt und
revolutioniert“[14] worden sei. Die Folge:
Die Zerfallsprodukte des „Ganzen“ seien sehr verschiedenen Ebenen zugeteilt
worden. Die Teile dem Diesseits, das Ganze dem Jenseits. Aber dieser aus dem
„Ganzen“ hervorgegangene „Geist“ ist nicht jenseitiger, sondern irdischer
Geist. Er ist Sein, „an dem alles Bestimmte und Endliche negiert ist.“[15]
Begrifflich gesehen, ist mit ihm jenes „gestaltlose Sein“ vorbereitet, das
Hegel später zum Gegenstand seiner „Wesenslogik“ macht.[16]
Der „Geist“, dieser „erhabenste Begriff“[17],
bezeichnet die Zwischenstation zwischen alter, jetzt untergegangener und der
neuen, der Zukunft vorbehaltenen, Gestalt. Er bezeichnet das nach ihrer
Negation zurückbleibende Wesen; das Wesen des „Ganzen“. Obwohl er ihn nicht an
erster Stelle abhandelt: Dieser „Geist“ ist der zentrale Teil der
„Phänomenologie“. Er versteht sich als Vorstufe zur sechs bzw. neun Jahre
später erschienenen Wesens- und Begriffslogik.[18]
Und noch einmal: Dieser Geist ist Geist, „der existiert und gilt“[19]!
„Das Geistige
allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende“, das von
uns als „aufgehobener Gegenstand“[20]
erkannt, also zum „Begriff“ geführt wird, um dann als die jetzt fällige
„Vernunftgestalt“ in die Praxis überführt zu werden.
1817, spätestens 1821, ist er sich sicher, die
„Vernunftgestalt“ in der konstitutionellen Monarchie gefunden zu haben.
Der Begriff „Geist“ der „Phänomenologie“
unterscheidet sich von jenem „Geist“, der in der „Enzyklopädie“ Gegenstand der
„Geistphilosophie“ ist sowie von jenem, der in der „Rechtsphilosophie“ zur
Sprache kommt. Ersterer bezeichnet den Übergang des „Ganzen“ in einen anderen
„Aggregatszustand“. Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen wird „gestaltlos“, es wird
„Geist“, ehe es von uns, aus dieser Zwischenstation heraus, in die
„Vernunftgestalt“ überführt wird. Kurz: dieser Geist ist der spätere
„objektive“, der vermittelnde Geist. Der Geist der „Enzyklopädie“ fungiert hingegen vornehmlich als der Name
für die von uns geschaffene „produzierte“ Natur. Er bezeichnet einen tätigen
Geist, einen „Willen“, der darauf programmiert ist, die Aneignung seines Gegenübers zu betreiben. Ein subjektiver,
ein egoistischer Geist. Er ist gemeint,
wenn es in § 4 R heißt, dass der „Boden des Rechts … das Geistige“ ist.[21]
Der
Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens: Er hat auch in Deutschland dessen
Teile bloßgelegt, die beiden Naturen. Diese sind nun ihrer bisherigen
Verklammerung los und ledig. Beide sind nun frei – wenn auch „frei“ auf sehr
verschiedene Weise. Und der Zerfall hat auch ihn hervorgebracht: den „Geist“ –
den Geist des „Ganzen“. Bleiben wir zunächst bei den Teilen. Jenes, das bisher
im Schatten stand, steht nun im Licht: die „produzierte“ Natur. Sie, die jetzt
einen Namen bekommt und „bürgerliche Gesellschaft“ heißt, gibt vor, die menschliche Natur zu sein. Und war es
so, dass im „naturwüchsigen“ Gemeinwesen die „primäre“ Natur vorherrschte, so
ergreift jetzt sie die Vorherrschaft. Ein Wechsel, der auf der Ebene des Rechts
von der Herrschaft des „älteren“ zu jener des „neueren“ Naturrechts führt. Er
wird von der tonangebenden Philosophie wie auch von der Rechtswissenschaft
begrüßt. Anders Hegel. Er sieht darin eine ungeheure Verschärfung jener Frage,
die er als die Schicksalsfrage des
Menschen ansieht – die Frage seines jetzigen und künftigen Umgangs mit der
„primären“ Natur. Denn mit der „produzierten“ erwächst ihr ein Gegner, der – werden
ihm keine Grenzen gesetzt – das Potential in sich trägt, sie unter sich zu
begraben.
Die
eine, die „produzierte“ Natur ist frei geworden. Freiheit! Sie ist frei
geworden von jeder Verpflichtung gegenüber der anderen Natur; sie ist jetzt
„Herr“. Die „primäre“ Natur ist zwar ebenfalls frei, aber im Sinne von
„vogelfrei“. Sie wird ökonomisch und rechtlich zum bloßen Objekt; sie ist jetzt
„Knecht“. Was beide „Vorherrschaften“ unterscheidet: die „primäre“ Natur hat
ihrem Gegenüber nie die Subjektivität abgesprochen. Anders jetzt. Nun zur
Herrschaft gelangt, degradiert die „produzierte“ Natur ihr Gegenüber zur
(sprach- und rechtlosen) Sache.
3. Die
Neuorganisation des „Ganzen“
Die Konturen des Neuen sind noch unscharf, als
Hegel seine „Phänomenologie“ zu Papier bringt. Klar ist nur, dass das Alte
ausgelebt hat. Hohe Zeit, dass es auch hier, in Deutschland, von der Bildfläche
verschwindet. Darin
ist sich Hegel einig mit den meisten seiner Kollegen. Was ihn aber vom
Mainstream unterscheidet, ist sein philosophischer Ausgangspunkt: der „Begriff
des Ganzen“. Ein tragender Begriff, der auf allen drei Ebenen des menschlichen
Daseins Geltung hat. Denn das „Wahre ist das Ganze“.[22]
Es unterscheidet sich von den „Ganzen“ seiner Kollegen, weil es sich als die
Einheit entgegengesetzter Teile versteht und nicht bloß als „leere Eins“. Es
ist dialektisches Verhältnis des
Ganzen und der Teile. Das oberste und allgemeinste von ihnen, das „Gemeinwesen“, verliert gerade
seine feudale Gestalt. Und es scheint keinen Nachfolger zu haben, es scheint
das letzte „Gemeinwesen“ zu sein, es scheint für alle Zukunft von der
bürgerlichen Gesellschaft[23]
abgelöst zu sein. So sieht es die Mehrheit seiner Kollegen. Anders Hegel. Seine
Position: Das „Ganze“ bleibt erhalten. Es verliert nur seine bisherige Gestalt.
Und nicht die bürgerliche Gesellschaft folgt ihr nach! Sie ist nur eines der
Teile, die aus dem Zerfall des alten „Ganzen“ hervorgehen. Soweit sie sich
jetzt als „Ganzes“ geriert, stellt er klar: Sie ist nur ein Scheinganzes.[24]
„Dieser Untergang der sittlichen
Substanz und ihr Übergang in eine andere Gestalt“[25]:
Er bedeutet das Aus für das als Organismus organisierte „Ganze“. Was von
ihm zurückbleibt ist sein „Geist“. Aber dieser „Geist“ ist keineswegs ein
Nichts. Die Entwicklung mag den alten Rahmen gesprengt, die Teile mögen sich
weiter verselbständigt haben: Das „Ganze“ besteht fort – z.B. als die
„unsichtbare Hand“ der klassischen Nationalökonomie. Beweis seiner
Materialität, die es auch als „Nicht-Gestalt“ besitzt, ist die „Kraft“[26],
die es auch weiterhin entfaltet. Allerdings nur als ein Wirken im Nachhinein.
Das aber genügt nicht und ist keine
Dauerlösung.
Eben noch, im Rahmen des
Organismus, standen sich die beiden Naturen als „Verschiedene“ zur Seite. Ihre
Kräfte, koordiniert durch das „Ganze“, waren Kräfte des Miteinander. Jetzt sind
beide Naturen „Entgegengesetzte“[27],
deren Kräfte „Bewegung gegeneinander“[28]
ist. Aber dabei kann es nicht bleiben; dieser „Zwischenzustand“[29]
darf nicht „fest“ werden. Das „Ganze“ muss wiederhergestellt werden. Und mit
ihm die „Einheit der Identität und der Verschiedenheit“[30].
Es kommt anders. Eines der Teile,
die „produzierte“ Natur, maßt sich an, das jetzige „Ganze“ zu sein. Eine
Umschichtung findet statt. Vor allem aber: eine Umwertung der Teile zu Lasten
der „primären“ Natur und des „Ganzen“. Aber das ist und bleibt Anmaßung.
Allerdings eine Anmaßung, die den Schein
der Wahrheit für sich hat - jedenfalls für den gesunden Menschenverstand. Aber:
Teil bleibt Teil. Es kann seinem Gegenüber nicht Ganzes sein, ohne seine
Kompetenzen zu überschreiten. Und zwar auf Kosten des anderen Teils. Und
selbstverständlich nicht ohne Folgen für diesen und auch für sich selbst. Denn „Krankheit und der Anfang des Todes [ist]
vorhanden, wenn ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft des
Ganzen entzieht“[31]. Beide Teile sind im Rahmen des (echten)
„Ganzen“ relativ selbständig. Wenn sich nun eines der Teile zum „Ganzen“
erklärt, muss es, zum einen der Logik halber, wichtiger aber noch: um diesen
Anspruch in der Praxis durchzusetzen, den Rang des anderen Teils herabsetzen.
Wie es ja auch geschieht. Während die Mehrheit seiner Kollegen dies hinnimmt
und für richtig befindet, fragt Hegel, was mit der anderen, der „primären“
Natur wird, wenn sie jetzt als unselbständiger und „mundtot“ gemachter
Bestandteil in eine politische Organisation „eingebaut“ wird, deren Prinzip und
System „auf Besitz und Eigentum geht“[32]?
Das bisherige Gemeinwesen wies
die Besonderheit auf, dass die „primäre“ Natur, ein Teil, darin in einer Art
„Personalunion“ zugleich die Funktion des Ganzen ausübte. Damit ist nun
Schluss. Die Ausbildung der „produzierten“ Natur ist soweit fortgeschritten,
dass ihr diese Konstellation nicht mehr gerecht wird. Sie emanzipiert sich. Ja,
sie entreißt der „primären“ Natur die Vorherrschaft und tritt an ihre Stelle.
Ein Wechsel, eine Revolution, die
weitreichende Folgen nach sich ziehen – in der Summe vorwiegend zu
Lasten der „primären“ Natur. Diese wird den Prinzipien der „produzierten“ Natur
unterworfen, was heißt: Sie wird entsubjektiviert und zur „Sache“ gemacht.
Juristisch gesehen: Sie wird unter den „Rechtszustand“ gesetzt, der jetzt die
frühere Sittlichkeit ablöst. Aber sie tritt diesem Zustand nicht auf Gewinner-,
sondern auf Verliererseite bei, weil sie nicht zur „Person“ erhoben, sondern zu
„Eigentum“ erniedrigt wird. Was im antiken Rom im Kleinen geschah, die Versklavung
eines Teils der Menschen, geschieht jetzt im Großen. Eine ganze Natur ist davon
erfasst.[33].
Um sein Anliegen zu verdeutlichen
wechselt Hegel die Ebenen, erläutert die Problematik einmal anhand des
Gemeinwesens, andere Male anhand der Familie und immer wieder anhand des
Menschen. Überall zeigt sich das prinzipiell gleiche Bild: Verlust der Einheit,
„Halbierung“, Aufwertung eines Teils bei gleichzeitiger Abstufung des anderen.
Was nicht ausschließt, dass im Detail große Unterschiede bestehen. So verhindert
auf der Ebene der „Einzelheit“ die Leiblichkeit, dass der Mensch sichtbar in „zwei Menschen“ zerfällt.
Und dennoch ist es so, er wird zu „Person“ und „Subjekt“; er lebt fortan weiter
als ein innerlich zerrissener, „uneinheitlicher“ Mensch.
Ein bloßer Wechsel in der
Vorherrschaft der Naturen? Die lange Zeit der bisherigen „Personalunion“ hat
ein Bewusstsein vom Verhältnis der Naturen „fest“ werden lassen, dass diese
nicht nebeneinander (gleichgeordnet) zeigt, sondern übereinander (über- und untergeordnet).
Das begünstigt, was jetzt geschieht: die „Umkehrung“ ihres Verhältnisses
zueinander. Kein Wunder also, dass die Kollegen Hegels sie mehrheitlich begrüßen.
Noch dazu, da die „Umkehrung“ für die „produzierte“ Natur wie für ihre
Mitglieder „Freiheit“ bedeutet. Ein Grund zur Freude, kein Grund zu kritischer
Reflexion. Im Gegenteil, sie sehen hierin einen längst fälligen Nachvollzug
dessen, was anderswo schon längst unhinterfragter Bestandteil der Praxis
geworden ist. Ein Wechsel, der sich ihnen als Akt ausgleichender Gerechtigkeit
zeigt. Anders Hegel. Er meldet prinzipielle Bedenken an. Er lenkt den Blick auf
den Staat, trägt vor, dass mit dem „Ganzen“ auch der richtige Staat wegzufallen
droht. Aber man redet einander vorbei. Während Hegel für einen neuen
„sittlichen“ Staat plädiert, orientieren sich die Kollegen an England und
Frankreich, wo die „Umkehrung“ längst „fest“ geworden ist und Staaten zur
Ausbildung gekommen sind, die sich ganz selbstverständlich nur als Staat der
„produzierten“ Natur verstehen. Er wird nun auch für Deutschland gefordert,
diese Art Staat also, den Hegel den „Not- und Verstandesstaat“ nennen wird. Der
Staat des „geistlosen Gemeinwesens“, der Staat der „leeren Allgemeinheit“[34].
Mit ihm wird das „Prinzip des Rechtszustandes“ nun „wirkliche Welt“[35].
Was fehlt und was nach dem Willen der Befürworter des Neuen auf Dauer fehlen
soll, ist der sittliche Staat beider Naturen.
Weiterhin existieren zwei
Naturen. Trotzdem hat sich die Welt grundlegend verändert. Denn beide Naturen
stehen sich jetzt nicht mehr als zwei Subjekte, sondern als Subjekt und als Objekt
gegenüber. Und daran ändert auch nichts, dass sich dieses halbe Ganze
aufspaltet in „Staat“ und „Gesellschaft“ und damit den Schein eines „Ganzen“
erweckt.
Die „primäre“ Natur wird
herabgestuft. Und das gleich zweifach. In Ordnung ist, dass sie jetzt ihre
Vorherrschaft verliert. Nicht in Ordnung aber ist, dass diese Vorherrschaft jetzt auf die „produzierte“
Natur überwechselt, während die „primäre“ die ihre nicht nur einbüßt, sondern
mit ihr auch ihre Subjektivität. Sie wird zur Sache[36]
gemacht, mit der die „produzierte“ Natur verfährt, wie sie intern seit eh und
je mit jenen Teil ihrer Mitglieder verfährt, der gezwungen ist, vom Verkauf der
eigenen Arbeitskraft zu leben.
Wie vergleichsweise milde war
dagegen die Vorherrschaft der „primären“ Natur!
„Umkehrung“ bedeutet, dass das
„Ganze“ unbeachtet bleibt bzw. dass der ablaufende Prozess nur auf der Ebene
der Teile vollzogen wird. So gesehen liegt es nahe, in dem, was jetzt geschieht,
nur einen einfachen „Führungswechsel“ zu sehen. Ist es dazu gekommen, gelangt der Prozess vorläufig zum Stillstand – und
weil er uns das vorteilhafteste Ergebnis zu sein scheint, wird es eilig
festgeschrieben. Der Prozess wird gestoppt, wird für beendet erklärt, obwohl er
gerade erst den Durchgangspunkt erreicht hat.
Philosophisch gesehen sind wir
damit bei der „Aufhebung“.
„Aufhebung“ bedeutet: „ein
Negieren und ein Aufbewahren zugleich“[37].
Und so ist auch der „Zerfall“ zu
sehen. Aus ihm gehen die Teile nicht als „Totalitäten“ hervor, sondern nur als
„relative Totalitäten“.[38]
Sie werden nicht „frei“, sondern nur „freier“.
Negiert werden der „Organismus“
und die Vorherrschaft, gleich welcher Natur. Gleichheit soll herrschen;
Gleichheit der Naturen. Aber wie soll diese hergestellt und aufrechterhalten
werden bei dem, der „produzierten“ Natur innewohnenden, Hang zur Maß- und
Zügellosigkeit? Indem das „Ganze“ als Korrekturinstanz bleibt! Jedoch nicht in
seiner Gestalt als „Organismus“; diese verlässt für alle Zeiten die Geschichte.
Aber nicht ein „Nichts“ folgt ihr nach, „sondern ein bestimmtes Nichts“[39],
nämlich „Geist“. Er zeigt an, dass der Prozess noch nicht beendet ist. Beim
„Geist“ bleibt es nur „zunächst“. Der Prozess, der bisher „naturgesetzlich“ verlief,
legt eine Pause ein, er wartet auf unsere Mitwirkung. Denn die jetzt fällige
„Vernunftgestalt“ stellt sich nicht von selbst her. An dieser Mitwirkung fehlt es. Das ist der Grund, warum sie bis
heute aussteht.
Warum leisten wir unseren Beitrag
nicht?
Zum einen hindert uns das
„Glück“, dass uns die jetzige „Umkehrung“ beschert. Wir fühlen uns wie zu
Weihnachten. Von allen Seiten prasseln die Gaben auf unseren Tisch. Zwar sind
sie höchst ungleich verteilt. Aber insgesamt sind es genug, um uns bei der
Stange zu halten. Der Konsument in uns obsiegt, gibt den Ton an. Bestärkt
werden wir in unserer Haltung, weil wir die „primäre“ Natur lange Zeit als ein
unerschöpfliches Füllhorn ansehen.[40]
Warum also sollten wir uns Zurückhaltung auferlegen?
Dieses Glück aber, mit dem die
„produzierte“ Natur unseren Beifall und unsere Zustimmung erlangt und von dem
wir uns korrumpieren lassen, ist das Unglück der „primären“ Natur. Wer, wie
Hegel, dagegen Einwände erhebt, wird nicht gehört. Hinzu kommt, dass die sich
in der Praxis vollziehende „Umkehrung“ einflussreiche Fürsprecher findet. Auch in der Philosophie. Dort ist es
L. Feuerbach, der der praktischen Umkehrung seine „Umkehrmethode“ zur Seite
stellt. Sie ist der Kern der „Feuerbachschen Dialektik“[41]. K. Marx greift sie auf und macht sie zum
festen Bestandteil seines philosophisch-ökonomischen Systems.
Niemand hat für einen langen
Zeitraum ein Interesse daran, dem Prozess Fortgang zu geben. Das „Glück“ soll
andauern. Streit gibt es nur noch darum, wie die Glücksgüter zu verteilen sind.
Das „Ganze“ ist vergessen und bringt sich erst 200 Jahre später auf unliebsame
Weise in Erinnerung.
4. „Vermittlung“
Auch die „Vermittlung“ ist ein Schlüsselbegriff
der „Phänomenologie“. Besonders im Abschnitt zum „Geist“ wird er breit
abgehandelt. Wie dieser nimmt er (folglich) sechs Jahre später in der
„Wesenslogik“ einen zentralen Platz ein und wird weitere acht Jahre später
unverzichtbarer Bestandteil auch der „Rechtsphilosophie“.
Ein spannender, ein umstrittener
Begriff!
Und was wird vermittelt? An
erster und oberster Stelle die beiden im „Gemeinwesen“ zur Einheit gebrachten
Naturen.
Das Interesse der „produzierten“
Natur an ungehinderter, zügelloser Expansion „ruft jene Freiheit [des Gewerbes
und Handels] gegen die höhere Regulierung an, bedarf aber, je mehr es blind in
den selbstsüchtigen Zweck vertieft ist, um so mehr einer solchen, um zum
Allgemeinen zurückgeführt zu werden“. Jedenfalls darf diese Freiheit „nicht von
der Art sein, dass das allgemeine Beste in Gefahr kommt.“[42]
„Vermittlung“ dieser Art, also
ausgehend vom „Ganzen“ bzw. von der „Vernunftgestalt“, wird damals wie heute,
wie die Hegelsche Dialektik überhaupt, abgelehnt, mindestens aber mit Skepsis
betrachtet. Wer das „Ganze“ als Spukgestalt ansieht oder es jetzt als „aufgelöst“
betrachtet – aufgelöst im Sinne von „endgültig“ -, weist sie entschieden
zurück. Ein Fehler, steht für Hegel fest. Gegen Fichte und Schelling gewandt,
schreibt er: „Dies Perhorreszieren stammt aber in der Tat aus der
Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens
selbst.“[43]
Im Anschluss charakterisiert er
die Vermittlung als „sich bewegende Sichselbstgleichheit“[44],
als das „Ganze“ bzw. die „Einheit“ bewahrende Tätigkeit also. Das kann so
interpretiert werden: Auseinanderbewegung in Maßen. Partielle und temporäre
Ungleichentwicklung ist unvermeidbar. Aber anzustreben ist „ein ruhiges
Gleichgewicht aller Teile.“[45] Wo
doch Ungleichheit entsteht, besteht die Pflicht, dass diese „von der
Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.“
Davon will jetzt niemand etwas
wissen.
Wie sieht es dort aus, wo die
Dialektik positiv gesehen wird, bei Marx und den Marxisten?
Wenden wir uns G. Lukacs zu.
„Vermittlung“, sagt er, muss sein. Sie ist unverzichtbares Instrument „ontologischer
Selbstkorrektur“[46].
Aber wie Hegel vermittelt, nämlich
„gleichgewichtig“, gefällt ihm nicht. „Gleichgewicht kann zwar nur dadurch lebendig sein, dass Ungleichheit in ihm entsteht
und von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.“[47]
Seine Kritik setzt dort an, wo Hegel zum Ausdruck bringt, dass die
„Vermittlung“ notwendig ist, um die „entgegensetzende Verdoppelung“ und ihre
Folgen durch eine „wiederherstellende Gleichheit“[48]
in ein erträgliches Koexistieren zu korrigieren.
Die Einschränkung, auf die sich
„zwar“ bezieht:
Diese Art der „Vermittlung“ lässt
zu wenig Bewegung zu, ja, sie ist geradezu der Tod jeder Bewegung. Schon das
„Ganze“, von dem sie ausgeht, diese Spukgestalt, die sich aus seinem „System“
erklärt, habe im Sein keine Basis. Vermittlung, ja! Aber auf die Weise des
„Übergreifens“ einer Seite über die andere. „Vermittlung“ so, wie sie schon von
Aristoteles, Fichte, Schelling verstanden wurde. „Vermittlung“, wie sie über
Feuerbach und Marx zum festen Bestandteil des Marxismus geworden ist. Also eine
„Vermittlung“, die von einer „primären, bestimmenden Seite“[49]
ausgeht, kurz: die eingebettet ist in die „Einheit und den Kampf der
Gegensätze“. Eine Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen.
Zu fragen ist also:
Welche der beiden Seiten greift jetzt über? Wie Marx steht Lukacs auf
Seiten der „produzierten“ Natur. Sie ist es, die jetzt „übergreift“, deren
Interessen den Vorrang haben vor denen der Gegenseite. Und aus dieser Sicht
haftet der Hegelschen Art der „Vermittlung“ der Makel an, eine Homogenisierung
der wechselwirkenden Gegenüber zu bewirken. „Ohne Frage gibt es Fälle, wo dies
[die Gleichgewichtslage] den Tatsachen entspricht. Für die reale, für die
ontologisch bedeutsame Entwicklung sind jedoch vor allem jene Wechselwirkungen
ausschlaggebend, in denen das, was Marx später als das ‚übergreifende Moment‘
genannt hat, zur Geltung kommt.[50]
Die „wechselwirkende“
Vermittlung. Ihr Ausgangspunkt ist nicht das „Ganze“, sondern das
„Scheinganze“. Und auch das ist nur die halbe Wahrheit. Die „Scheinganzheit“,
die bloß angemaßte Ganzheit impliziert, dass der andere Teil, das
„Entgegengesetzte“, überhaupt aus der dialektischen Paarung ausgeschlossen ist.
Im früheren Ganzen waren zwei Subjekte vereint. Jetzt ist der eine Teil von
vornherein zur „Sache“ erklärt, die keinen Partner einer dialektischen
Beziehung abgeben kann.
Dialektik heißt „Bewegung“. Und
schon der erste Blick auf die Hegelsche „Vermittlung“ zeigt auf, dass diese die
Bewegung nicht fördert, sondern eindämmt. Bestätigt das nicht die Kritik, die
Hegel von Seiten des Liberalismus wie des Marxismus entgegenschlägt?
Das Bild einer „Planwirtschaft“ drängt
sich auf. Hegels „Vermittlung“ korrigiert und entschärft die „entgegensetzende
Verdoppelung“ durch eine „wiederherstellende Gleichheit“[51].
Sie erreicht das, wenn nötig, durch die Einnahme einer „unterdrückenden
Haltung“[52]
gegen die „produzierte“ Natur. Ressourcenzuteilung an sie, die auf die
Reproduktionskraft der „primären“ Natur abgestimmt ist. Praktizierte
Nachhaltigkeit. Die „produzierte“ Natur wird an die Kandare genommen. Zügelung ihres Treibens, Einschränkung ihrer
frisch gewonnenen Freiheit. „Vermittlung“ heißt Koordinierung, bedeutet
Abstimmung der „Produktivitäten“ und „Produktionen“ beider Naturen aufeinander.
Das widerspricht den Grundsätzen beider: der Liberalen und der Marxisten. Ja
der Marxismus übertrifft die Liberalen in der Radikalität ihres Verständnisses
vom „Übergreifen“ der einen über die andere Natur, weil ja im Kommunismus alle
Springquellen fließen sollen und müssen, wenn das von der bürgerlichen
Gesellschaft verheißene „Glück“ nicht nur Wenige, sondern Alle erreichen soll.
Es richtet sich deswegen auch gegen das Wirken der unsichtbaren Hand, das dem
Treiben der Marktkräfte einen gewissen Widerstand entgegensetzt, ja soll gerade
auch dieses Wirken außer Kraft setzen.
Nicht die Planwirtschaft Lenins,
die auf ungezügeltes Wachstum abzielt, sondern eine, die der „produzierten“
Natur überall dort Stopzeichen setzt, wo ihr Treiben mit dem Bestand der
„primären“ Natur auch den des „Ganzen“ infrage stellt. Ihr Bewegungsraum, ihre
„Freiheit“, wird durch die „Vermittlung“ eingeschränkt. Eine langsamere
Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wäre die Folge. Viele ihrer
„Glücksgüter“, die uns heute zugänglich, ja selbstverständlich sind, stünden
uns wahrscheinlich noch nicht zur Verfügung. Aber dafür stünden wir nicht vor
dem jetzigen Abgrund; wir hätten uns die Zukunft bewahrt.
Planmäßigkeit also in einem ganz
anderen Sinne als diejenige, die (z.B.) der „reale Sozialismus“ betrieb und die
sich in der Praxis als „Tonnenideologie“ und Raubbau an der „primären“ Natur
zeigte. Und trotzdem. Aus der Sicht der „Umkehrung“ heraus bedeutet sie „Unfreiheit“.
Ein Pauschalurteil, das ihren Zweck: Erhalt der „primären“ Natur, ignoriert.
Größer kann der Unterschied nicht sein. Hier eine Planwirtschaft zugunsten der
„produzierten“ Natur, hier eine Planwirtschaft, die dem Erhalt des „Ganzen“ und
damit unserem eigenen Besten dient.
Hegel teilt nicht den Optimismus
der Ökonomen, die meinen, dass die Marktkräfte das „richtige Verhältnis im
Ganzen von selbst“ herstellen. Dazu reicht deren Kraft nicht aus. Außerdem ist
es eine zerstörerische Kraft, weil sie im Nachhinein wirkt. Da letztendlich
alle Entwicklung der „produzierten“ auf Kosten der „primären“ Natur geht,
müssen die sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sie sich
entwickeln aufeinander abgestimmt werden, soll dem Anfang der bürgerlichen
Gesellschaft nicht ihr baldiges Ende folgen. Daher plädiert er für eine „mit
Bewusstsein vorgenommene Regulierung“[53],
hauptsächlich dort, wo es die „Produktivitäten“ beider Naturen aufeinander
abzustimmen gilt.
Eine Homogenisierung der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sich beide Naturen durch Raum
und Zeit bewegen. Das Ziel: Ein „ruhiges Werden der einen Macht desselben [des
sittlichen Reiches] zur anderen, so dass jede die andere selbst erhält und
hervorbringt. Wir sehen sie zwar in zwei Wesen und deren Wirklichkeit sich
teilen; aber ihr Gegensatz ist vielmehr die Beziehung des einen durch das
andere“[54].
Aber wie die Geschwindigkeit der
Schneckenpost und der des ICE vermitteln? Und wo sollen wir beginnen, jetzt, wo
wir fünf Minuten vor dem Abgrund stehen und eine Schnellbremsung Not täte? 200
Jahre haben wir ungenutzt verstreichen lassen. Zeit einer zügellosen Plünderung
der Ressourcen der „primären“ Natur. Wo jetzt anfangen, wo sie ausgelaugt am
Boden liegt. Als das Problem erkannt wurde, vor nunmehr fast 50 Jahren, lebten
3 Milliarden Menschen auf der Erde. Damals deckte sich die Reproduktionskraft
der „primären“ Natur noch mit unserem Naturverbrauch. Jetzt sind es circa 8
Milliarden. Und man kann annehmen, dass heute jeder einzelne Mensch mehr
Energie verbraucht als der Mensch des Jahres 1970.
5.
Der Staat als „vernünftige
Institution“[55]
(Vernunftgestalt
„konstitutionelle Monarchie“)
Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen“
ist zerfallen und verharrt im Zwischenzustand „Geist“. Nun, nach dem Sturz der napoleonischen
Fremdherrschaft rückt die deutsche Frage in den Mittelpunkt. Was folgt dem
ehemaligen Reich nach, welcher Staat steht auf der Tagesordnung?
Fragen, die sich auch Hegel stellt.
Der in Württemberg entbrannte Streit um den vom König vorgelegten
Verfassungsentwurf wird ihm aktueller Anlass, sich zur „Staatsfrage“ zu äußern.
Die „Landständeschrift“ des Jahres 1817 entsteht. Eine Art Vorstudie, die in
der „Rechtsphilosophie“ des Jahres 1821 zur Konzeption eines zeitgemäßen
„Vernunftstaates“ fortgeführt wird.
Beide Schriften haben Hegel bis
heute den Ruf eingetragen, ein philosophischer Bannerträger der Restauration zu
sein, ja sich mit ihnen seinem (nächsten) Dienstherrn, dem preußischen König,
angedient zu haben. Vom Standpunkt der „Umkehrung“ her gesehen, also vom
Standpunkt der jetzt herrschend gewordenen „produzierten“ Natur, ist das auch
richtig. Denn je „umgekehrter“ oder, was auf das Gleiche hinausläuft, je
positivistischer wir die „Rechtsphilosophie“ interpretieren, auch: je
anthropozentrischer, umso mehr wird sie aus dieser Sicht zu einer Fehlleistung
erster Ordnung.
Aber die „Umkehrung“ verstellt
den Blick darauf, dass sich das Staatsverständnis Hegels sowohl von dem
Metternich/Gentz‘ wie auch von dem des preußischen Königs grundlegend
unterscheidet. Hegels Staat verhält sich von dem der Genannten wie das
trojanische Pferd von einem richtigen Pferd. Während das erstere aber half,
Troja zu erobern, muss Hegel am Ende seines Lebens verbittert konstatieren,
dass der Versuch, die konstitutionelle Monarchie mit seiner Philosophie zu
unterwandern[56],
gescheitert ist. Die Entwicklung geht andere Wege. Sie verwirft Hegels Version;
und es ist ihm gewiss kein Trost, dass auch die Metternich/Gentzsche dem Sturm
nicht stand hält, der auch Deutschland auf den „Parlamentsstaat“ zutreiben
wird.
Sieht man die Praxis als das
Kriterium der Wahrheit an, scheint auch diese den damaligen und heutigen
Kritikern Recht zu geben. Aber auch die Verelendung der „primären“ Natur ist
Praxis. Und diese Praxis bestätigt Hegel.
Wir haben die Bedeutung der
„Vermittlung“ bereits erörtert“.
„Vermittlung“ heißt für Hegel,
dass die „Gerechtigkeit des menschlichen Rechts“
(wieder)hergestellt wird. Ihr obliegt es, das „aus dem Gleichgewichte tretende
Fürsichsein … in das Allgemeine“ zurückzubringen. „Menschliches“ Recht. Die
Betonung sagt uns, dass es hier nicht um das uns bekannte, um das in der
„Phänomenologie“ unter „Rechtszustand“, beschriebene Recht geht, sondern um ein
stets gefährdetes Recht höherer Art, dass nur durch die „Vermittlung“ erhalten
bzw. zurückerobert werden kann. Ein Recht, das uns zum Staat führt. Nicht zum
„Not- und Verstandesstaat“[57],
der sich als Garant der Rechte, die die Mitglieder der bürgerlichen
Gesellschaft gegeneinander und – alle zusammen – gegen die „primäre“ Natur
geltend machen, betätigt und bald „Rechtsstaat“ heißen wird, sondern zu jenem
„sittlichen Reich“[58],
dass auf allen Ebenen menschlicher Existenz die Einheit wiederherstellt.
Seit Bern, vor allem aber seit
Jena ist Hegel auf der Suche danach, sucht er jene „Vernunftgestalt“, die
jetzt, nach Untergang des Alten, die Vermittlung der beiden Naturen exekutiert.
Er ringt mit dem Stoff. Er wertet die Geschehnisse in Frankreich aus. Er macht
sich mit den Erkenntnissen der englischen Nationalökonomen vertraut, mit den
englischen Verhältnissen überhaupt. Was ist von dort zu lernen, was nicht?
Es ist Zeit Bilanz zu ziehen. 25
Lehr- und Experimentierjahre sollten ausgereicht haben, „um die falschen
Rechtsbegriffe und Vorurteile über Staatsverfassungen zu zerstampfen“[59],
hofft er.
Kommen wir auf den
Württembergischen Verfassungsstreit zurück:
Seine Kritik gilt beiden Seiten.
Der Entwurf des Königs, im März 1817 den
Ständen vorgelegt, von diesen aber Anfang Juli mehrheitlich abgelehnt, geht ihm
dort zu weit, wo er „dem demokratischen Prinzip durch die Wählungsart der
Repräsentanten“ zu viel Ausdehnung, ja „beinahe völlige Ungebundenheit“[60]
gewährt. Das bezieht sich auf den Vorschlag, einen aus zwei Kammern bestehenden
Landtag einzurichten, wobei die Abgeordneten der einen Kammer direkt vom Volk
gewählt werden sollen. Zu loben ist aber, dass der Entwurf weder an das
Staatsrecht „eines verschwundenen Zustands“ noch an das „entgegengesetzte
Extrem einer abstrakten Theorie und eines seichten Geschwätzes“ anknüpft,
sondern die „Verfassung in das Gebiet des vernünftigen Staatsrechts“ verlegt.[61]
Den Landständen gilt seine
Kritik, weil diese mit ihrer Verweigerung, mit ihrem Taktieren, mit ihrem
Feilschen um die „verbrieften“ Privilegien das „verkehrte Schauspiel“ abgeben, als
Verteidiger des Überlebten aufzutreten.
Hegel hält beiden Seiten vor:
Weder das Staatsrecht „eines verschwundenen Zustandes“ noch das
„entgegengesetzte Extrem“[62]
können jetzt Geltung verlangen.
Und beide Seiten berufen sich auf
das Volk! Missbilligend hält Hegel ihnen
entgegen: Niemand kann
„weniger Geschick haben …, eine Verfassung zu machen, als das, was man das Volk
nennen mag.“[63]
Das berührt einen „wunden Punkt“,
der Hegel immer wieder, damals wie heute vorgehalten wird: sein distanziertes Verhältnis
zu „Volk“ und „Volksvertretung“; eine Haltung, die sich durch sein gesamtes
Werk zieht. Er favorisiert jenen Verfassungstyp, der den deutschen Staaten in
Artikel 13 der 1815 in Wien beschlossenen Bundesakte kurz und knapp so
vorgeschrieben wird:
„In allen Bundesstaaten wird eine
landständische Verfassung Statt finden.“
„[A]ls ob das Volk das Ganze
wäre“[64]! „Volk“
ist für ihn ein flatterhafter, ein nebulöser Begriff. Ein Allzweckbegriff,
vielleicht sogar eine Allzweckwaffe. Sehr geeignet für das populäre, sich auf
„Volk“ berufende, „blinde Geschrei der Freiheit“[65]. Nun
ist es gewiss falsch, ihm gar keine Bedeutung zuzumessen. Gerade im zersplitterten
Deutschland steht damals auf der politischen Tagesordnung, was Hegel in § 181/A
R anklingen lässt: Die Erweiterung der Familie „zu einem Volke, einer Nation“. Der Staat als Nation, als
Nationalstaat, berührt jedoch nur die quantitative Seite der aktuellen
Fragestellung. Im Zentrum des „Vernunftstaates“ steht das qualitative Element:
das „Ganze“ und dessen Wiederherstellung. Dieses Kernproblem wird verdeckt bzw.
verdunkelt, wenn das „Volk“ in die Mitte gestellt wird. Und hat Hegel damit
nicht Recht, wenn man sieht, dass es weltweit kaum ein Staatswesen gibt, dass
sich, mag es auch noch so „unvernünftig“ organisiert sein, nicht auf das „Volk“
beruft. Ein verwaschener Begriff, der nirgendwo justiziabel ist. Selbst in
einem Staatswesen wie dem unseren, in dem nahezu alles und jedes justiziabel
ist, kann er nicht vor Gericht gebracht werden.[66]
Und was soll verdeckt werden? Die
Allein- oder auch nur Vorherrschaft der „produzierten“ Natur! Ihre Freiheit ist
unter einer „Volksvertretung“ am sichersten. Eine der Aussagen in der
„Landständeschrift“ ist also die: Eine sich auf „Volk“ stützende Repräsentation
ist eine solche, die die „primäre“ Natur ausschließt. Repräsentation ja. Aber die
der „Stände“ der modernen bürgerlichen Gesellschaft[67], nicht
die des Volkes. Diese Stände, diese Kräfte müssen darin zu Wort kommen,
aber über sie auch gezügelt werden können. Ihre Interessen sind relativ klar
definiert und als solche erkennbar, die Interessen des Volkes hingegen nicht. Und
wie die weltweite Praxis der Repräsentationssysteme zeigt: es wird
Interessentenpolitik betrieben, nicht Politik für das Volk. Folgt man den
offiziellen Strukturen des „Parlamentsstaates“, so sehen wir, dass gerade die
Hauptinteressenten, die Unternehmen, nicht im Staat vertreten sind, weil sie
als Privatsache gelten. Wenn es um
die Pflichten dem „Ganzen“ gegenüber geht, stehen sie außerhalb des Staates,
wissen aber, wenn es um „handfeste“ Teilhabe am Staat geht, wie sie diese
einzufordern haben.
Gehör findet, wer eine Lobby hat.
Wem sie fehlt, weil er sich eine solche nicht leisten kann, bleibt in aller
Regel ungehört. Bleibt dieser philosophisch-ökonomisch-soziologische
Hintergrund unerkannt oder wird er ignoriert, ist damit auch das Urteil über
Hegel gefällt: Er ist dann in puncto „Staat“ einer, der zusammen „mit Gentz den
breiten Strom der Restauration zugunsten des später immer stärker
anschwellenden Seitenarms der Reaktion“ verlässt.[68]
Der Zwillingsbruder des
„Volksstaates“ ist der „Vertragsstaat“. Und jede Art „Vertragsstaat“ erschöpft
sich letztlich in jenem „Not- und Verstandesstaat“, der nicht „vermittelt“,
sondern der nur das Nötigste tut um zu verhindern, dass sich die Mitglieder der
bürgerlichen Gesellschaft bei ihrer Jagd auf die Reichtümer der „primären“
Natur nicht gegenseitig behindern oder gar totschlagen. Beide Typen genügen den
Anforderungen der Vernunft nicht.
Aus zwei Gründen ist für Hegel
der Zugriff des „Ganzen“ auf die Sphäre der Aneignung wichtig: Einmal, um
darüber die Interessen der „primären“ Natur zur Geltung zu bringen; sie vor
Überforderung ihrer Leistungskraft in Schutz zu nehmen. Zum anderen geht es ihm
um das Wohl jener Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die jetzt nicht auf
der „Siegerseite“ stehen. Das sind jene, die nichts besitzen außer ihrer
Arbeitskraft, jetzt aber den früheren
sozialen Rückhalt verloren haben, den die „Wirtschaftsfamilie“ ihnen bot.
Was also aussieht wie ein Zurück
zum Alten, ist ein Aufbruch zu einem Neuen, zu einem Staat, der „vernünftige
Institution“ im zweifachen Sinne ist. Einmal, weil er dafür sorgt, dass das
Naturganze überlebensfähig bleibt. Zum anderen, um jetzt, nach Wegfall der
sozialen Funktion der „Wirtschaftsfamilie“, das Ganze des Bereichs der
„Besonderheit“ wiederherzustellen. Das widerspricht der Staatsdoktrin der
Liberalen, die mit dem Untergang der „Wirtschaftsfamilie“ auch deren soziale
Funktion ersatzlos untergehen lassen. Anders Hegel. Was diese ersatzlos
streichen, wird für ihn die alte und neue Aufgabe der früheren „Korporationen“.
Sie werden daher, neu gestaltet, Bestandteile seines Staates.[69]
Hegel wird so zum Vordenker nicht nur des um das Naturganze besorgten
„Vernunftstaates“, sondern auch der des modernen Sozialstaates.[70]
6.
Unterschiedliche Zuständigkeiten:
Verstand und Vernunft
(Die Trennung von Vernunft und
Verstand)
Die Vernunft ist ein Derivat des
„Ganzen“. Wenn dieses zerfällt, bleibt die Vernunft nicht verschont. Die Folgen ihres Zerfalls beschäftigen Hegel
bereits in der „Differenzschrift“ und in „Glaube und Wissen“. Und auch hier, in
der Phänomenologie, benennt und beschreibt er sie in immer neuen Wendungen.
Einer der Kernsätze lautet:
Die dem „Ganzen“ innewohnende
Vernunft findet sich zum einen als in den Himmel abgeschobener Glaube wieder.
Zum anderen wird sie „zum Verstand herabpotenziert“[71].
Das ist gegen die Aufklärung
gerichtet. Ihre Vernunft ist eine solche, die „nur Verstand ist“[72]. Sie
hat Vernunft und Verstand in einen Topf geworfen, in den Topf „Verstand“. Aber
es gilt, beide auseinander zu halten. Beide haben verschiedene Wahrheiten und
Zuständigkeiten.[73]
Wieder geht es ihm um unsere
Haltung zur „primären“ Natur. Jetzt, wo diese entsubjektiviert ist, wo wir sie
als unser „Gegenüber“ verstehen, sehen wir sie mit fremden Augen. Mit den Augen
des theoretischen und praktischen Eroberers. Als Teil einer „Einheitsnatur“
muss ihr aber nicht nur „verständig“, sondern vor allem „vernünftig“ begegnet
werden. Das heißt u.a., dass nicht alles Wissen, das wir über sie erlangen,
auch gegen sie eingesetzt werden darf.
Wo das „Ganze“ ins Jenseits
abgeschoben wird, wird die Vernunft zum „Glauben“. Im Diesseits verbleibt der
Verstand. Und wie der „Zerfall“ des „Ganzen“ und die „Umkehrung“ des
Verhältnisses der Teile zueinander zur Vorherrschaft der „produzierten“ Natur
führt, führt der gleiche Prozess zur „Herrschaft der Reflexion“[74].
Die Folge: Wir sehen jetzt die „primäre“ Natur mit den kalten Augen des
Verstandes. Sie, die unsere Nährmutter ist und von uns so geschätzt und
behandelt werden sollte, wird uns nun bloßes Objekt der Ausbeutung.
„Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende
Vernunft“ über den Glauben zu erringen vermeinte, führt zu einer Vernunft, die
– „bei Lichte betrachtet“ – „nur Verstand ist.“[75]
Der Verstand ist den Mitgliedern der „produzierten“ Natur zugeordnet. Er dient
dazu, der anderen Natur ihre Geheimnisse „abzulisten“. Er ist auf und gegen sie
gerichtet. Die Vernunft verbietet solches Wissen nicht, verbietet aber seine
praktische Nutzung, wenn sie das „Ganze“ in Gefahr bringt. Der Bau der
Atombombe wäre also, legt man diesen Maßstab an, als ein Beispiel eines solchen
Verstoßes gegen die Vernunft anzusehen.
Vernunft ist „zweckmäßiges Tun“ im
Interesse beider, des „Ganzen“ und
der Teile. Sie hat mit „Einsicht“, mit Selbstbeschränkung“, mit „Verzicht“ zu
tun. Und natürlich auch mit „Vermittlung“. Aber wenn die „Vermittlung“ zusammen
mit dem „Ganzen“ perhorresziert wird, wie das jetzt der Fall ist, und trotzdem
weiter von „Vernunft“ gesprochen wird, bedeutet dies, die Vernunft auf die
Ebene des Verstandes „herabpotenzieren“. Faktisch ist das ein „Verkennen der
Vernunft“[76].
Denn sie ist zwingend mit der „Vermittlung“, also mit dem Ganzen und den Teilen verbunden. Speziell an
Schelling gerichtet, kommentiert er den Satz, dass „das Wahre … das Ganze“ ist.
Er schreibt: „Es kommt nach meiner Einsicht … alles darauf an, das Wahre nicht
als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“[77]
Er sagt damit: Die Teile sind
nicht Subjekt oder Prädikat, stehen sich nicht derart gegenüber, sondern sie
sind je beides, weil sie zu einem „Ganzen gehören.
So sollte es gesehen werden. Doch
hat jetzt die „Erhebung der vermeinten Natur über das misskannte Denken … die
Form des Zwecks überhaupt in Misskredit
gebracht.“[78]
Die Scheidung des bisher
Ungeschiedenen ist die Stunde der modernen Naturwissenschaften. „Sie setzt die
ungeheure Macht des Negativen“ frei.[79] Sie wird zur Quelle des analytischen Denkens.
Denn nun, wo der Verstand seinen Sitz in der „produzierten“ Natur nimmt, hat er
in dessen Gegenüber sein dauerhaftes Erkenntnisobjekt gefunden. Die
Naturwissenschaften gehen voran. Sie erhalten gewaltigen Auftrieb. Ihre Aufgabe
ist es, dem Verstand der anderen Natur auf die Spur zu kommen, ihre Gesetze zu
erkunden. Freiheit der Wissenschaft und Gewerbefreiheit gegen Hand in Hand. Der
theoretischen Eroberung der „primären“ Natur folgt deren praktische durch die
moderne Produktion. Erst wird sie ausgekundschaftet, dann ausgeplündert. Und
auf beiden Gebieten geht es gewaltig voran!
G. Lasson vor hundert Jahren
kommentierend dazu:
Ohne diese „Herrschaft der
Reflexion“ würden die „unerhörten
Fortschritte, die unsere Zeit in der Beherrschung der Natur … gemacht hat,
vielleicht gar nicht möglich gewesen sein.“[80]
Verständlich aus der Sicht dieser
Fortschritte, dass der Philosophie abgesprochen wird, weiterhin für diese Natur
„zuständig“ zu sein. F. Engels 1888: „Heute ist die Naturphilosophie endgültig
beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, er wäre ein Rückschritt.“[81]
Was früher Naturphilosophie war, wird jetzt zur „sogenannten Naturphilosophie“.
Sie sei nicht mehr nötig, weil an die Stelle der von ihr hergestellten
„ideellen“ und „phantastischen“, die Kenntnis der „wirklichen Zusammenhänge“
getreten sei.[82]
Aber ist das so? Wird diese
Kritik dem Anliegen Hegels gerecht? Nicht, wenn man wie dieser vom Fortbestand
des „Ganzen“ ausgeht. Hegel weigert sich also nicht grundlos „philosophische Fragen und Methoden
nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theorien zu entwerfen“[83]. Die Wahrheit des Geometers eine andere
ist als die des Philosophen.[84]
Daran hat sich nichts geändert.
Das „Ganze“ ist in Gefahr. Und
mit ihm das Wohl der „primären“ Natur, von der alles weitere Wohl abhängt. Wer könnte
besser als die Philosophie diese Gefahr zur Sprache bringen? Es mag sein, dass
große Teile dessen, was Hegel in den §§ 245-376 der „Enzyklopädie“ zu den Gegenständen der Naturphilosophie zählt,
besser bei den Naturwissenschaften aufgehoben ist. Aber das gilt, isoliert
betrachtet, ebenso für die meisten Gegenstände der „Geist-Philosophie“. Die
Philosophie des „Ganzen“ aber bleibt erhalten - zum Wohle beider Naturen. In
diesem Rahmen bleiben beide Naturen weiterhin auch ihre Gegenstände. Das schließt
selbstverständlich nicht aus, dass sie auch zum Gegenstand der
Naturwissenschaften werden. Nur die Philosophie vermag die „primäre“ Natur als
Subjekt zu sehen, das Rechte an uns hat, dem gegenüber wir also verpflichtet
sind. Wer macht diese Rechte und diese Pflichten zum Gegenstand
wissenschaftlichen Erkennens, wer verschafft dieser Natur Gehör, wenn nicht sie?
Was für Marx/Engels und ebenso
für ihre liberalen Gegenspieler in Ordnung geht, die Reduktion der Philosophie
auf Gegenstände, die nur die „produzierte“ Natur betreffen, führt aus der Sicht
Hegels zu „unvollkommene[n] Philosophien“[85]. Eine
Zeit des Mangels an echter Philosophie bricht an, das Zeitalter der Ideologien.
7.
Betrug und Selbstbetrug. Oder: Die
Irrfahrt des Bewusstseins
Das frühere „Ganze“ war als
Organismus sichtbar, hatte „Gestalt“ und war als solche im Bewusstsein
widergespiegelt. Dieses sichtbare
Ganze zerfällt. Es scheint so, als
wäre mit ihm auch die „Einheit“ aus der Welt, die es gestiftet hatte. Und es
scheint so, als sei an dessen Stelle ein neues „Ganzes“ getreten, die
bürgerliche Gesellschaft. Und diese bestärkt das Bewusstsein darin; sie setzt
ihm zu, immer wieder und solange, bis ihm „Hören und Sehen“[86]
vergeht und es dem Schein Glauben schenkt. Aber wie Hegel erkennt und nicht
müde wird, in immer neuen Wendungen vorzutragen: Das Bewusstsein irrt sich bzw.
wird betrogen. Und weil es nicht imstande ist, den Betrug aufzuklären, wird
dieser „fest“, wird fester Bestandteil des Bewusstseins.
Das Bewusstsein wird getäuscht
und täuscht sich selbst. Ein Betrug und ein Selbstbetrug, den Hegel in der „Phänomenologie“ von allen Seiten beleuchtet.
Er zeigt, wie dieses, zunächst
orientierungslos gewordene, Bewusstsein nach einem neuen Halt sucht und ihn in
der jetzt herrschend gewordenen „produzierten“ Natur zu finden meint. Aber da
wird etwas bloß „falsch gewusst“[87]! Ist die „produzierte“ Natur das neue
„Gemeinwesen“ oder maßt sie sich diese Stellung nur an? Und auf der Ebene der
Einzelheit: Ist die „Person“ der neue oder nur der angemaßte neue Mensch? Haben
wir das richtige Wissen von uns selbst? Leiden wir an einem gefährlichen
Größenwahn?
Bereits in der „Vorrede“
beschreibt Hegel die Auswirkungen des Zerfalls des ursprünglichen Ganzen auf
das menschliche Bewusstsein. Das „einfache“ oder „geistlose“ Bewusstsein dockt
an die „einfache Unmittelbarkeit“ an, die aus diesem Zerfall hervorgeht. Es
nimmt diese „einfachen Unmittelbarkeiten“[88]
als die neuen „Ganzen“. Die „erste Negation“ des Ganzen und deren Ergebnis, die
jetzt bloß gelegten Teile, werden als „unbegriffene Unmittelbarkeit“ vom
Bewusstsein reflektiert, gehen als solche „in die Vorstellung“ über.[89]
Das „Ganze“ wird damit dem Bewusstsein als Summe seiner Teile, als „unechtes“
Ganze“, bekannt. Und es wird dauern, ehe dieser Irrtum korrigiert wird.[90]
Noch dazu, wenn es Kräfte gibt, die dieses Aufschließen des Bewusstseins zum
(neuen) Ganzen dauerhaft zu verhindern
suchen.
Das Unmittelbare, das Sichtbare,
das Dinghafte gewinnt das Rennen – und zwar jene von ihnen, die „herausfallen“ aus dem Gewohnten[91],
vorzugsweise jene, die sich mit dem Glücksversprechen der jetzt zur Herrschaft
gelangten Natur verbinden. Die Dinge sind er Maßstab, nicht die Dinge hinter
den Dingen. Nur sie werfen einen Schatten, der vom Bewusstsein reflektiert
wird. Was unsichtbar ist, das Wesen, der Prozess, bleibt unreflektiert. Hegel
verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die vonstatten gehende
„Aufhebung“[92].
Sieht man es dinghaft, so hat die neue Welt auf Seiten der „produzierten“ Natur
unzweifelhaft mehr zu bieten als die alte. Dass die Bereicherung dieser Natur
zur Entreicherung der anderen führt, wird in Kauf genommen und aus dem
Bewusstsein verdrängt.[93]
Wenn die „Dinge“ in den
Vordergrund gestellt sind, hat das zur Folge, dass die Tragweite der
Veränderung einerseits hervorgehoben, zum anderen aber herabgesetzt wird. Das
Neue wird an den neuen Dingen fest
gemacht; diese schieben sich in den Vordergrund. Sie sind der Köder, der das
Bewusstsein korrumpiert.
„Aber das sittliche Wesen hat sich selbst in
zwei Gesetze gespalten, und das Bewusstsein als unentzweites Verhalten zum
Gesetze, ist nur einem zugeteilt.“[94]
Der Grund:
Das Bewusstsein ist „einfaches
sittliches Bewusstsein“ und als solches „hat es sich dem einen Gesetze
zugewandt, dem anderen aber abgesagt und verletzt dieses durch seine Tat.“[95]
Zugesagt haben wir damit ein
Handeln für die „produzierte“ und gegen die „primäre“ Natur. Die „Schuld“ kommt
in die Welt, unsere Schuld gegenüber der „primären“ Natur. Aber wir können uns
nicht erlauben, unschuldig zu sein, denn: „Unschuldig ist … nur das Nichttun“[96].
Immer wieder kommt Hegel darauf zurück:
Bisher hat das Bewusstsein das alte „Ganze“ widergespiegelt. Jetzt aber, nach
dessen Zerfall, wird es, aus seinem früheren Koordinatensystem gerissen, ein
halt- und zielloses Bewusstsein; ein Bewusstsein, das, auf der Suche nach einem
neuen Halt, zwischen den Fronten und in den Trümmern des Alten herumirrt. Dann
dies: die „produzierte“ Natur schiebt sich in den Vordergrund. Sie übernimmt
nicht nur die Vorherrschaft, sondern geriert sich überhaupt als die einzige
Natur, als das neue Ganze. Und sie tut alles, damit diese Anmaßung im
Bewusstsein ihrer Mitglieder Fuß fasst und dort zu ihrem Selbstbewusstsein wird. Und das gelingt auch. Bald zweifelt das
Bewusstsein nicht mehr daran, dass die „produzierte“ Natur das neue Ganze ist.
Streit gibt es nur noch um deren Binnenorganisation. Ideologien kommen auf, die
einzelne „Bestimmtheiten“ – „Volk“, „Proletariat“ – in den Mittelpunkt stellen.
Streit kommt auf, ob die „produzierte“ Natur kapitalistisch oder sozialistisch
organisiert, ob sie als bürgerliche Demokratie oder „Diktatur des Proletariats“
verfasst werden sollte. Unser ausbeuterisches Verhältnis zur „primären“ Natur
bleibt von diesem Streit weitgehend unberührt. Aber wenn auch alle oder
jedenfalls fast alle so denken: Da werden „mathematische Wahrheiten“[97]
an die Stelle der philosophischen Wahrheit gesetzt.
Wir stehen vor dem „Endsieg“ des
falschen Bewusstseins. Es macht uns über zwei Jahrhunderte blind für die
Gefahren, die von dem jetzigen Scheinganzen ausgehen. Das „sittliche Wesen“
spaltet sich auf: in „zwei Gesetze“, in ein „menschliches Recht“[98]
der Gerechtigkeit und in ein, jetzt tonangebendes, „Recht der Gleichheit“. Das
Bewusstsein aber ist parteiisch. Es vollzieht diese Teilung und Entgegensetzung
nicht mit, es ist nur einem Gesetz
und einem Recht „zugeteilt“ und
spiegelt daher weiterhin ein „unentzweites Verhalten zum Gesetze“ ab.[99]
Das Bewusstsein bewegt sich „im
ruhigeren Bette des gesunden Menschenverstandes“, dem die „trivialen
Wahrheiten“ die liebsten und einleuchtenden Wahrheiten sind.[100] Und
dieses „gemeine“ Bewusstsein, wie er es im Unterschied zum „philosophischen“
bezeichnet[101],
wird darin leider von all zu vielen Kollegen – Hegel wendet sich gegen die
Vertreter des Skeptizismus – bestärkt. Philosophien kommen auf, „die eins mit
dem [diesem] Bewusstsein“[102]
sind. Die Reflexion der Dinge wird zur „Reflexionskultur“ gesteigert, zur
„Kultur des gemeinen Menschenverstandes“[103].
Sie tragen so dazu bei, diesen „gesunden Menschenverstand“ hoffähig zu machen.
Sie ersparen damit sich und ihm die Anstrengung des Begriffs, also das
Weiterdenken des angeblichen Nichts zur neuen Gestalt. Dienstleister der „produzierten“ Natur zu sein, lautet
der indirekte Vorwurf gegen diese Kollegen. Sie lassen sich dafür bezahlen,
diese Natur auf „wissenschaftliche“ Art dem Bewusstsein selbst jener
Zeitgenossen als die einzige Natur schmackhaft zu machen, die nur
„gutmütigerweise“ den Schein für die Wirklichkeit nehmen.[104]
Aber, sagt Hegel zum „sogenannten
gesunden Menschenverstand: „er, der sich für das gediegene reale Bewusstsein
nimmt“ …, er ist überhaupt immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu sein
meint.“[105]
Er irrlichtert zwischen den „Dingen“ umher, verliert sich „in ihrem wirbelnden
Kreise“[106],
täuscht sich und lässt sich täuschen.
Die „produzierte“ Natur siegt
über das Bewusstsein. Sie ist dem Individuum nun das „Ganze“. Sie zeigt sich in
ihm/an ihm „in der Gestalt des
Wollens, als Triebe und Neigungen.“ Sie ist für sich gesehen eine „eigene bestimmte Wesenheit“ des Menschen. Diese
Natur ist der anderen Natur, die ebenso sehr die Seinige ist, entgegengesetzt.
Aber das macht diese Natur dem Bewusstsein vergessen.
Beide Naturseiten im Menschen
„sind an sich ein Bewusstsein“, was
heißt, dass das Bewusstsein sich des Gegensatzes bewusst ist. Logisch wäre nun,
dass der Gegensatz „bewusstseinsmäßig“ zu einer Einheit fortgeführt würde, die
aus dem „gewussten Gegensatze beider hervorgeht.“ Indes:
„Diese Einheit ist … ein
postuliertes Sein; sie ist nicht da“. Die Erwartung, dass aus dem „Widerstreit
der Vernunft und der Sinnlichkeit … die Einheit beider hervorgehe“, erfüllt
sich nicht.[107]
Eine Erkenntnis, die uns zeigt, welche unwiderstehliche Anziehungskraft die
„produzierte“ Natur und das von ihr verheißene Glück haben. Anders herum: wie
wenig attraktiv uns deswegen eine Vernunft vorkommt, die uns zum Verzicht auf
so manches Glücksgut, auf so manchen Spaß auffordert. Bestenfalls wird die
Notwendigkeit der Einheit verbal anerkannt, aber nur, um die „Vollendung derselben
… ins Unendliche hinauszuschieben“[108].
Eine Vielzahl von uns ist breit einzusehen, dass Handeln gefordert ist. Die
gleiche Vielzahl ist jedoch geneigt, dieses Handeln in die „dunkle Ferne der
Unendlichkeit zu schieben“[109].
Das Bewusstsein wird getäuscht und
lässt sich täuschen. Es nimmt nur das Seiende, das Unmittelbare zur Kenntnis
und nimmt für bare Münze, wenn dieses sich als „Ganzes“ geriert. Der Mensch des
„gesunden Menschenverstandes“, der Normalbürger, durchschaut nicht, wo sich das
Wesentliche mit dem Unwesentlichen verknüpft, er unterliegt dem „Spiel dieser
Abstraktionen“ und ist am Ende „immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu sein
meint.“[110]
Das Vorstehende zusammengefasst: das Bewusstsein ist
„in Ungleichheit mit seiner Substanz.“[111] Es
spiegelt die Aufspaltung in „zwei Welten“ und die jetzige „Umkehrung“ der Machtverhältnisse
falsch oder überhaupt nicht ab.
8.
„Der Rechtszustand“
(Derivate der „produzierten“ Natur: Recht und
Person)
Mit dem Zerfall des „Ganzen“ ist
auch das vormalige System der Sittlichkeit gesprengt. Zum einen geht es „in der
formalen Allgemeinheit des Rechts unter.“[112]
Zum anderen wird es zur „Moralität“. Parallel dazu „zerfällt“ auf der Ebene der
Einzelheit der bisherige „Einheitsmensch“ in „Person“ und „Subjekt“.
Dominierend im Aktionsfeld der „Person“: die „Geschäftsbeziehung“; formalisiert
und institutionalisiert im „Rechtszustand“.
Der „Rechtszustand“. Es ist nicht
sonderlich begeisternd, was unter dieser Rubrik zu lesen ist. Wo das Recht
regiert, bekommen wir als erstes gesagt, ist der „Geist“ nicht zuhause.[113]
Das Recht gehört dem „geistlosen Gemeinwesen“ an. Es ist das magere Surrogat,
dass uns nach dem Zerfall des „Ganzen“, hier: der „Sittlichkeit“, verbleibt. Es
bezieht sich auf den „dinghaft“ gewordenen, auf den in die „produzierte“ Natur
eingemeindeten, den zu ihrem Zubehör gewordenen, Menschen; auf die „Person“.
Das Recht tritt zusammen mit der
„produzierten“ Natur ins Leben. Es dient dazu, den Zusammenhang der
arbeitsteilig produzierten und auszutauschenden Produkte herzustellen. Zu
„Lebzeiten“ des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens ist es eingebettet in die
übergreifende Einheit der beiden Naturen. Es ist damals Sittlichkeit bzw. – in
der Diktion der „Phänomenologie“ – „menschliches Recht“. Mit dem Zerfall des
„naturwüchsigen“ Gemeinwesens tritt eine „zweite Natur“ zutage; wird frei. Ihre
jetzige Freiheit wird von allem, was mit ihr in Verbindung steht, geteilt, auch
vom Recht und seinen Subjekten. Folglich lesen wir in § 4 R, „dass die Freiheit
seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der
verwirklichten Freiheit … ist.“ Ein der Sittlichkeit entrissenes „abstraktes“
Recht kommt auf. Und mit der „Person“ ein ebenso dem ganzen Menschen
entrissener und ihm gegenüber verselbständigter „abstrakter“ Mensch.
Wer sich ganz auf die Seite der
„produzierten“ Natur stellt, auf die Seite ihrer Freiheit, ist hiervon
begeistert. Nicht so Hegel. Er sieht, dass diesem Gewinn ein schwerwiegender
Verlust zur Seite steht; der Verlust des Ganzen und damit: des Menschen. Erreicht
ist nur eine „erste Weise der Freiheit“. Bleibt es dabei, ist jetzt die Person „in
einem das Hohe und das ganz Niedrige“[114].
Das „Ganze“ auf der Ebene der
Einzelheit ist der Mensch. Er verkörpert die Einheit der zwei, einst nur „verschiedenen“,
jetzt aber „entgegengesetzten“, Naturen. Deshalb gilt für ihn, was auch für das
„Gemeinwesen“ nach dessen Zerfall gilt: „Die allgemeine Einheit, in welche die
lebendige unmittelbare Einheit der Individualität und der Substanz zurückgeht,
ist das geistlose Gemeinwesen, das aufgehört hat, die selbstbewusste Substanz
der Individuen zu sein“[115].
Der Mensch teilt die „Halbierung“, die auch eine „Entgeistung“, eine Verarmung
der zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Doch was an sich ein
„schmerzerregendes Wegschneiden eines wesentlichen Stückes von der
Vollständigkeit des Ganzen“[116]
ist und so empfunden werden sollte, wird übertönt und verdrängt durch das Glück
der Dinge und die es flankierende Glückseligkeitslehre.
Dort statt „Gemeinwesen“ nun
bürgerliche Gesellschaft, hier statt „Mensch“ nun „Person“.
Indem die „Person“ sich
abschottet vom „Ganzen“ und vom anderen Teil, indem sie alles verdrängt, was
sie mit ihnen verbindet, wird die Person „Meister“ über den „Gegensatz des
Bewusstseins“, der sie an die frühere „Einheit“ erinnert. Diese „höchste
Abstraktion“: die Reduktion des Menschen auf „Geist“, auf „tätigen Willen“,
diese „vollendete Entfremdung“, verdeckt, dass jetzt der Mensch verloren
gegangen ist, ja wird zur Grundlage, diesen Verlust in einen Gewinn
umzuinterpretieren.[117] Es
ist also nichts Großartiges, „Person“ zu sein. Ihr Recht ist „weder an ein
reicheres oder mächtigeres Dasein des Individuums als eines solchen noch auch
an einen allgemeinen lebendigen Geist geknüpft“[118].
Sie ist um jenen „geistlosen Punkt“ zentriert, der jetzt „Herr der Welt“ ist[119],
um die „produzierte“ Natur. Sie bezeichnet jenen Menschen, der sich dieser Natur
unterworfen hat und ihren „Glücksgütern“ nachjagt, einen Menschen also, der
notwendig ist und der sich dazu hergibt, die Welt toter Dinge „lebendig“ zu
machen. So gesehen ist es eher ein „Ausdruck der Verachtung“, „ein Individuum
als eine Person [zu] bezeichnen“[120].
Die „Person“ ist „aus dem Leben
der sittlichen Substanz herausgetreten“[121].
Sie ist als halbierter Mensch „gestorbener Geist“[122],
der seine „Substanz und Erfüllung“[123]
außerhalb der sittlichen Welt, also außerhalb des Natur-Ganzen hat. Sie sieht
ihren Zweck in der ungehinderten Aneignung der „primären“ Natur. Diesem Zweck
steht ein Recht zur Seite, dass hauptsächlich „auf die Beschützung dessen
[abzielt], was ich habe“[124],
mich aber gegenüber der „primären“ Natur entpflichtet. Ein Recht, dass mich
darin bestärkt, die „primäre“ Natur auszubeuten und mir dabei die nötige
Rückendeckung gibt. Das Recht eines „bloß
beschränkten Kreises“.[125]
Weil aber das sittliche Recht die
Einheit von Recht und Pflicht war und der Schein dieser Einheit fortbestehen
soll, macht sich eine, wie N. Luhmann formuliert, „Umkontextierung“[126]
des Rechts erforderlich. Ihre Aufgabe ist es, die zutage getretene „Uneinheit“,
diese Paradoxie, aus dem Weg zu räumen. Um der Logik zu genügen, wird in einem
Vorgang, den Luhmann als „Entparadoxierung“ bezeichnet, auch dieses neue Recht
in eine „Einheit“ umgeformt. Diese ist aber nicht mehr die Einheit von Recht
und Pflicht, sondern die Einheit von Recht und Unrecht. Als solche wird sie der
vormaligen Einheit gleichgestellt, obwohl ihre Inhalte grundverschieden sind.
Mit der „Person“ und mit diesem
Recht sind damit Schein-Ganze geschaffen, die den anderen, aus dem Zerfall des
„Ganzen“ hervorgehenden, Schein-Ganzen zur Seite treten.
War das nach Art des Organismus
organisierte Ganze auf seinen Bestand programmiert, betrachtete das Ganze jedes
Teil als Teil von sich selbst, ändert sich jetzt die Sachlage grundlegend: Das
angemaßte „Ganze“ behandelt das andere Teil als seinen Gegenüber, als Feind
oder – aus ökonomischer Sicht – als Objekt der Ausbeutung, als Rohstoffquelle.
Und herrschte früher ein vom echten Ganzen überwachter und durchgesetzter Gerechtigkeitszustand, ist dieser jetzt durch
den „Rechtszustand“ ersetzt. Während
ersterer bedeutet, dass sich Rechte und Pflichten auf jeder Seite die Waage
halten, führt letzterer dazu, dass nun alle Rechte der „produzierten“ Natur
zustehen, während die Pflichten der „primären“ Natur zugeteilt sind.[127]
Das pflichtlose Recht und die rechtlose Pflicht kommen auf.[128]
Was in der Antike als Sklaverei auf den Menschen beschränkt war, wird jetzt im
großen Stil betrieben: die Versklavung der „primären“ Natur. Allenfalls noch
mein Gewissen, nicht das Recht, gebietet mir jetzt noch, mich gerecht der
„primären“ Natur gegenüber zu verhalten.
Der jetzige Rechtsbegriff sagt der Person:
Du tust Recht daran, die „primäre“ Natur
anzueignen. Unrecht aber ist es, wenn Du einer anderen Person das Angeeignete
streitig machst, indem Du dich als Dieb, Räuber oder Betrüger betätigst.
Naturaneignung – ja! „Umverteilung“ dieser Art
– nein!
Dem Recht Genüge getan ist nur mit der
Umverteilung durch Austausch.
So zu verstehen ist die Aussage
des § 39 R: Die Person verhält sich zur anderen Person austauschend, zur
„vorgefundenen Natur“ jedoch ausbeutend. Im nachfolgenden § 40 präzisiert er
und unterscheidet folgende Formen des Eigentumserwerbs:
-
Durch
Aneignung (Stoffwechsel); das mittels Arbeit Angeeignete verbleibt beim Aneignenden. Das Angeeignete wird unmittelbar
zu Eigentum.
-
Durch
Austausch; in diesem Fall wird das mittels „Stoffwechsel“ Angeeignete für den
Aneignenden nur Besitz. Es ist nicht
für ihn selbst bestimmt, sondern für Dritte. Die ökonomische und juristische
Gegenseitigkeit wird beschrieben: Jeder erlangt das Produkt des anderen.
Mittels des Vertrages gelangt das Angeeignete in die Hand derer, die es
brauchen. Ein Auseinanderfall von Aneignung/Aneignenden und
Eigentum/Eigentümer, der in der warenproduzierenden Gesellschaft zum
Generalfall des Eigentumserwerbs wird.
-
Dadurch,
dass Ich Unrecht begehe. In solchen Fällen bringe Ich das gemäß a Angeeignete
unter Aussparung des unter b geschilderten Austausches an mich – durch „Unrecht
und Verbrechen“.
Erwerb von Eigentum. Einmal auf
direkte und zum anderen, vermittelt durch den Vertrag, auf indirekte Art.
Kunstwesen „Person“:
Mit ihr ist die dem
„naturwüchsigen“ Gemeinwesen zugehörige Unterscheidung und Einteilung der
Menschen in Freie und Sklaven und auch die nach ethnischen und religiösen
Merkmalen, ein Ende gesetzt. Jeder Mensch ist jetzt als Person „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“.[129] Alles
Kreatürliche ist daraus getilgt; sie ist die Hülle, die das ökonomische
Substrat des Menschen umschließt. Sie ist „Wille“, „Plan“ und Plandurchführung.
Gleichheit zieht ein. Aber auf dem niedrigen Niveau unterhalb des Menschen.
Aus der Sicht der „produzierten“
Natur ist es das größte Manko, dass die „Personen“, über die sie handelt, durch
ihre Leiblichkeit Teil auch der anderen Natur sind. Das macht sie sterblich, wo
sie unsterblich, dass macht sie schwach, wo sie stark sein sollten. Aus dieser
Sicht ist die „Person“ eine einzige Unzulänglichkeit.
Schwachpunkt „Leiblichkeit“:
Bisher war sie hinzunehmen. Aber jetzt besteht Hoffnung. Stichwort KI,
künstliche Intelligenz. Längst beobachten wir einen Wetteifer zwischen Mensch
und Roboter. Wer von ihnen ist leistungsfähiger, wer von ihnen ist der Mensch
der Zukunft? Im Alltagsleben begegnet er uns vorerst nur als Servier- oder
Putzkraft. Aber schon ist er für das Militär der bessere Krieger. Er gewinnt
die Schlachten der Zukunft. Und in der Industrie hat er längst gezeigt, dass er
der bessere und billigere Arbeiter ist. Die optimale Arbeitskraft. Man denke
nur an die ständig steigenden Kosten wegen Krankheit, Invalidität und
Altersvorsorge, die mit ihm erspart werden können. Und von Roboter-Generation zu
Roboter-Generation wird seine Überlegenheit deutlicher.
Aus dieser Sicht – und das ist
die maßgebliche Sichtweise - ist der Roboter das ideale Individuum der
„produzierten“ Natur. Aber ist er das als „Sklave“ oder als „Person“? Wann wird
er einbezogen in den Gender-Mainstreaming, wann wird er ein Geschlecht
bekommen, wann heiraten dürfen?
9.
Moralität
Mit der Einhegung des Rechts auf
die Binnenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft ist die Pflicht aus dem
Rechtsbegriff der Moderne verbannt; die Pflicht der Natur gegenüber. Rechtlich
gesehen, sind wir ihr zu nichts verpflichtet. Andererseits ist es nicht
verboten, ihr Freund zu sein, auch nicht, ihr zu helfen. Letzteres jedenfalls
solange nicht, wie es sich um Natur handelt, die noch nicht zu Privateigentum
gemacht worden ist.
Wir sind bei der Moralität.
Was Hegel uns in der
„Phänomenologie“ zu ihr zu sagen hat, löst bis heute „ungewöhnliche
Ratlosigkeit“ aus.[130]
Ratlosigkeit in dem Sinne, dass es für den Leser schwer ist, diesen
Ausführungen etwas bleibend Nützliches, etwas Positives zu entnehmen. Aber um
es vorab mit den Worten Chr. Halbigs zu sagen: Was dort geschrieben steht, ist „nicht
so schlecht, dass [es] nur einer
geistesgeschichtlichen Rekonstruktion zugänglich ist, sondern … so überzeugend, dass [es] erneute Beachtung
von Seiten der systematischen philosophischen Forschung verdient.“[131]
„Ratlos“ macht uns – so sehe ich
es -, dass die Moralität, die uns Hegel vorstellt, nicht oder kaum mit einem
Handeln verknüpft ist. Geschildert wird gewissermaßen eine „untätige“ Moral,
eine Moralität des Nichtstuns. Aber dafür hat Hegel eine Erklärung. Alles
menschliche Handeln ist mehr oder weniger deutlich bzw. direkt gegen die
„primäre“ Natur gerichtet. Ihr müssen wir unser tägliches Brot abringen. Ein
tägliches Handeln, ein täglicher Kampf, eine tägliche Plackerei. Dieses Handeln
ist „sittlich“, solange wir die Natur damit nicht überfordern. Mit dem Wechsel
der Vorherrschaft auf die „produzierte“ Natur ändert sich das. Die Gier dieser
Natur nach Wachstum für sich und ihre Mitglieder verselbständigt sich, sie
steigert sich zum Raubbau an ihrem Gegenüber. Unser Handeln wird, wenn man es
vom „Ganzen“ her sieht, „unsittlich“. Aber das „Ganze“ kann nicht mehr
eingreifen. Es ist jetzt aus dem Feld geschlagen. Und mit ihm die Sittlichkeit.
An ihre Stelle sind getreten: die
„produzierte“ Natur und ihr Recht. Und dieses Recht legitimiert unser
Tun. Mag unser Handeln auch unsittlich sein, unrechtlich ist es jedenfalls
nicht.
Die Konsequenz, die sich daraus
ergibt, lautet dahin: Die Moralität kennt kein Handeln. Sie verbindet sich
größtenteils mit Nichtstun.
Und das ist es wohl, was uns an
den Aussagen Hegels hierzu nicht gefällt. Dieses Nichtstun passt nicht in unser
Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer handelnden Personen. Denn
Handeln ist doch ein Grundelement jeder, besonders aber der bürgerlichen
Gesellschaft.
Die Frage aber ist: Zu welchem
Zweck, auf welcher Seite wird gehandelt? Und da ist es doch so, dass sich das
in „Person“ und „Subjekt“ aufgeteilte Individuum vor die „beiden extremen
Endzwecke“[132]
gestellt sieht. Zum einen gilt es im Interesse der einen Natur, zum anderen
gilt es im Interesse der anderen Natur zu handeln. Zwei sich gegenseitig
ausschließende Zwecke, die eine „Disharmonie der Moralität und Glückseligkeit“[133]
nach sich zieht. Denn wie soll ein solches Handeln praktiziert werden – jetzt,
wo die „produzierte“ Natur und ihr Zweck das Sagen haben und das Verhalten des
Einzelnen von der Erfahrung bestimmt wird, „dass es dem Moralischen oft
schlecht, dem Unmoralischen hingegen oft glücklich gehe“?[134]
Natürlich ist es so: „Das wirkliche
moralische Bewusstsein aber ist ein handelndes.“[135] Das
Nicht-Handeln zeigt lediglich die Kluft zwischen Soll- und Ist- Zustand an bzw.
den „Zwischenzustand der Nichtvollendung“[136].
Das wirft die Frage auf, wohin dieser Zustand tendiert. Hegel spricht von einem
„Fortschreiten“ in der Weise des „Abnehmens“. Abnehmen kann die Moralität
einmal durch ein Zubewegen auf die „Sittlichkeit“, zum anderen durch Zubewegen
auf den „Rechtszustand“. Beide Male ist dieses Fortschreiten der Moralität „ein
Zugehen zum Untergang derselben.“[137]
Selbstverständlich ist es nicht gleichgültig, von wem die Moralität letztlich
konsumiert wird, von der „Sittlichkeit“ oder vom „Rechtszustand“. Im zweiten
Fall – und das ist der Fall, der ja auch eingetreten ist – ist die „primäre“
Natur dem Treiben der „produzierten“ schutzlos ausgesetzt.
Handeln war früher „sittliches“ und
ist jetzt – unter dem Regiment der bürgerlichen Gesellschaft -„rechtliches“ Handeln.
Es wird vom Zweck der „produzierten“ Natur dominiert. Verweigern wir uns ihm,
versagt diese Natur uns ihre Glücksgüter. Wer will das riskieren, wer kann sich
das leisten? Die Stunde der Moral schlägt deshalb erst nach Feierabend.[138]
Aber auch nur, wenn uns danach zumute ist oder wenn uns am Bildschirm das Elend
der Natur gezeigt wird. Ja, dann macht uns traurig, was wir zu sehen bekommen.
Und wir wünschen ihr von Herzen alles Gute. Aber Handeln?
Durchaus nennenswert ist die
Anzahl unserer Superreichen, denen angesichts der „Tragödie im Sittlichen“ das
Gewissen schlägt. Sie sponsern daher einen Teil ihrer durch Ausbeutung der
Natur erwirtschafteten oder ererbten Vermögen, um ihr Gutes zu tun. Sie tragen
„grüne“ Kleidung und sie essen viel Grünzeug. Tätige Reue, die sich als tätige Moralität auszuweisen sucht. Und
aus der Kammerdienerperspektive scheint dieser Menschenschlag daher auch der
Prototyp des Naturfreundes zu sein - weit voraus jener Masse, die sich ein
ökologisch korrektes Dasein oder solche Naturliebhaberei nicht leisten kann,
weil sie vom „Glück“ der bürgerlichen Gesellschaft so kurz gehalten wird, dass
das Bißchen, das davon auf sie entfällt, gerade reicht, um über die Runden zu
kommen.
Ja, so ist die Moralität: „ein
ganzes Nest gedankenloser Widersprüche“[139]!
Eine Sphäre voller Scheinheiligkeit, frommer Sprüche, leerer Versprechungen,
weniger Taten. Kurz: Sie ist ein Stapelplatz aller Widersprüche, die sich aus
dem Gegenüber der beiden Naturen und dem Fehlen des „Ganzen“ ergeben. Der
Widerspruch zwischen der durchaus vorhandenen Einsicht, dass sich die Natur in existentieller
Not befindet, einerseits, und dem Zwang, der „produzierten“ Natur Folge zu
leisten andererseits. Ein Widerspruch, der allenfalls zum Reden verführt, aber
nicht zum Handeln.
Hegel zusammenfassend: Stellen
wir alle diese „Für“ und „Wider“ „zusammen, so erhellt, dass es jedes wieder in
seinem Gegenteile aufhebt.“[140]
10.
Und wie weiter?
Es läuft abgrundtief falsch. Aber
bis heute wird der Weg, auf dem wir uns befinden, nicht prinzipiell in Frage
gestellt. Wir befahren eine Sackgasse, sehen aber deren Ende nicht, weil unser
Blick den Glücksgütern gilt, die an ihren Rändern gestapelt sind.
Wir wollen nicht glauben, dass
ein Systemfehler vorliegt. Vielleicht können wir es auch nicht. Nach wie
herrscht die Meinung vor, dass wir die Krise unserer Umwelt mit den
Instrumentarien der bürgerlichen Gesellschaft in den Griff bekommen können. Mit
den prinzipiell gleichen Mitteln und Methoden also, die uns erst dorthin
gebracht haben, wo wir heute sind. Mit welch froher Erwartung erfüllt es nicht
wenige und einflussreiche Zeitgenossen, wenn sie sehen, dass die Arktis in
naher Zukunft eisfrei sein wird. Land in der Größe eines ganzen Kontinents wird
zugänglich und wird Objekt zügelloser Ausbeutung werden. Überhaupt: Das Kapital
hat längst entdeckt, dass es an Katastrophen bestens verdienen kann.[141]
Die Corona-Krise ist ein aktuelles Beispiel hierfür. Traumhaft, diese Zuwächse!
Elektrisierend, diese Kurssprünge! Und was ist Corona schon, gemessen an der
Umweltkrise.
Sicher, wir haben viel erreicht.
Und trotzdem stehen wir jetzt vor dem Abgrund. Oder gerade deswegen. Man ist an
die Titanic erinnert: Mit Volldampf voraus. Mit stolz geschwellter Brust auf
den Abgrund zu.
Wir haben es weit gebracht. In
den letzten 200 Jahren jedenfalls weiter als alle Menschheit vor uns. 200 Jahre
sind, gemessen an den 4 Milliarden Jahren Erdgeschichte eine Winzigkeit, die
eher dem göttlichen Schöpfungstempo als dem natürlichen nahe steht. Aber wir
sind nicht Gott; von ihm unterscheiden wir uns wie das Teil vom Ganzen. Das
schlimmste aber ist, das wir scheinbar unbelehrbar sind. Die Schöpfung ist in
Not. Aber vor unseren Augen führt sich ein Kapitalismus auf, wie ihn die Welt
noch nicht gesehen hat. Es scheint so, als sei er zum Endspurt angetreten, zum
totalen Krieg gegen die Natur. Die Umsätze und die Gewinne sind auf Rekordhöhe.
Ebenso die Ungleichverteilung des der Natur abgerungenen Reichtums. Nicht mehr
lange und die Welt wird erfahren, dass der erste Dollar-Billionär geboren ist.
Aktueller denn je die Warnung
Hegels, „dass die Gewerbefreiheit nicht von der Art sein [darf], dass das
allgemeine Beste in Gefahr kommt.“[142]
Steuert die „Weltgeschichte“ auf
das „Weltgericht“[143]
zu? Zwei hundert Jahre lang haben wir gegen die „primäre“ Natur gearbeitet,
haben ihr unser „Glück“ abgerungen, ohne zu bezahlen. Jetzt, im dritten
Jahrhundert, so scheint es, wird uns die Rechnung präsentiert.
Februar 2022
[1] § 39 R.
[2] Zum
Geschichtsbild Hegels: „System“ – das Geschichtsbild Hegels – auf dieser
Plattform.
[3] Dass dieser Wandel zusammenfällt mit dem
Übergang von einer Klassengesellschaft zur nächsten, ist nicht das Thema Hegels, obwohl die
soziale Frage, die sich damit verbindet, auch für ihn ein Schwerpunkt seiner
praktischen Philosophie wird.
[4] Phän, MM 3,
S.18.
[5] Phän, S. 18,19,23.
[6] ausführlich
dazu: Der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ in Kleinfamilie und Unternehmung in
der Wahrnehmung O. v. Gierkes und K. Marx‘ – auf dieser Plattform.
[7] NR, S. 491.
[8] LS, S. 505.
[9] Siehe auch §
24/3. Zusatz E (MM 8, S. 88ff.), wo er das Thema unter den Stichworten „Mythos
vom Sündenfall“ und „Erbsünde“ behandelt!
[10] § 4 R.
[11] Vgl. L (B), S.
39.
[12] Vgl. Phän, S.
327.
[13] Phän, S. 342
[14] Phän, S. 327.
[15] L(W), S. 3.
[16] siehe dazu:
Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen – auf dieser Plattform.
[17] Phän, S. 28.
[18] Dort stößt er
zur Erkenntnis vor, dass dieses „gestaltlose“ Sein nur durch unser Zutun zur
Gestalt, zur „Vernunftgestalt“, gelangt. Bleibt unser Zutun aus, bleibt der
Prozess, der vom „naturwüchsigen“ zum „vernünftigen“ Gemeinwesen führt auf
halber Strecke, nämlich beim „Zerfall“ hängen.
[19] Phän, S. 329 –
Hervorhebung bei H. Sechs Jahre später, in der „Wesenslogik“ ist die gleiche
Aussage in die Worte gefasst: „Das Wesen hat noch kein Dasein; aber es ist“.
(L[W], S. 136).
[20] Phän, S. 28.
[21] Es ist das
Verdienst M. Quantes (Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin
2011) diese mehreren Bedeutungen in, man kann sagen: minutiöser Kleinarbeit,
herausgearbeitet zu haben.
[22] Phän, S. 19 u.
24.
[23] Aus der Sicht F.
Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft): damit ist der nicht reversible
Übergang von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ erfolgt.
[24] So im Zusatz zu
§ 182 R!
[25] Phän, S. 354.
[26] Siehe dazu:
Phän., S. 107 ff.
[27] L(B), S. 39.
[28] Phän. S. 114.
[29] Phän, S. 458.
[30] L(W), S. 42.
[31] NR, S. 517.
[32] Ebd.
[33] Es ist also kein
historischer Zufall, dass jetzt ein Savigny im klassischen, unverfälschten
römischen Recht, im Recht einer Sklavenhaltergesellschaft, das Recht der modernen Gesellschaft zu
erkennen meint. Jedenfalls ist ihm darin zuzustimmen, dass es besser zu ihr
passt als das aus der Rezeption hervorgehende römisch-feudale Mischrecht.
[34] Phän, S. 355f.
[35] Ebd., S. 356 -
Hervorhebung. bei H.
[36] In Gegenden
Nordfrankreichs, die weniger von der Rezeption des römischen Rechts erfasst
waren als die südlichen Teile, wurde im Mittelalter Tieren, die sich am
Eigentum der Menschen „vergangen“ hatten, der Prozess gemacht. Damit ist mit
Einführung des römischen Rechts Schluss. Das Tier ist seither „Sache“ und als
solche weder aktiv- noch passivlegitimiert. Mochten diese Prozesse auch alle zu
Ungunsten des „kriminell“ gewordenen Fuchses, Wolfes oder Bären ausgegangen
sein, so zeigen sie uns Heutigen doch ein respektvolleres Verhältnis der
damaligen Menschen zur „primären“ Natur an.
[37] Phän, S. 94.
[38] Ein weiterer,
wenn nicht der, Schlüsselbegriff, den
Hegel bei der Erarbeitung der „Phänomenologie“ entdeckt. Ausführlich
dargestellt ist er in der „Wesenslogik“, dort wo das Verhältnis des Ganzen und
der Teile abgehandelt ist. Die „Rechtsphilosophie“ des Jahres 1821 kann als die
„Übersetzung“ dieses Begriffes ins Praktisch-Philosophische bezeichnet werden.
Man sehe sich den Zusatz zu §141 R an. Der dortige Satz: „Das Rechtliche und
das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum
Träger und zur Grundlage haben“, lautet ins „Wesenslogische“ übersetzt: Die
Teile können nicht für sich existieren. Sie müssen das Ganze zum Träger und als
Grundlage haben. (Siehe dazu: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, a.a.O., S.
51f.
[39] Phän, S. 94.
[40] Mahnungen, „die
der Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein
ziemlich sicheres Ende“ vorhersagten, galten F. Engels als ein „konservativer
Vorbehalt“. (MEW 21, S. 268).
[41] W.
Schuffenhauer, Feuerbach und der junge Marx. Zur Entstehungsgeschichte der
marxistischen Weltanschauung, Berlin 1965, S. 56.
[42] § 236/A/Z R.
[43] Phän, S. 25.
[44] Phän, S. 25.
[45] Phän, S. 340.
[46] G. Lukacs, Zur
Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie,
Neuwied u. Berlin 1971, S. 103.
[47] Ebd. –
Hervorhebung von mir.
[48] Phän, S. 23.
[49] G. Haney,
Dialektik von Staat und Gesellschaft, HJ 1975, S. 158-164 (S. 161).
[50] Lukacs, Zur
Ontologie, S. 105f.
[51] Phän, S. 23.
[52] Phän, S. 353.
[53] § 236 R.
[54] Phän, S. 341.
[55] Der Begriff
wurde von G. Lübbe-Wolff (Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in:
Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.): Gestalten des
Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 330)
geprägt.
[56] Siehe dazu:
Hegel und England – auf dieser Plattform.
[57] § 183 R. Siehe dazu: Der Not- und
Verstandesstaat hier auf dieser Plattform.
[58] Ebd, S. 341.
[59] LS, S. 507.
[60] LS – hier
zitiert bei Rolf K. Hocevar, Der Anteil Gentz‘ und Hegels an der
Perhorreszierung der Repräsentativverfassung in Deutschland, ARSP Vol. 1966, S.
117-133 (S. 122).
[61] LS, S. 506/507.
[62] LS, S. 506.
[63] LS, S. 530. Nur
„Heerführer der Seichtigkeit“ wie J.F.
Fries können darauf eine Staatsverfassung stützen wollen – wie Hegel in der
Vorrede zur „Rechtsphilosophie“ in harschen Worten anmerkt. Im damaligen
Deutschland stehen in puncto „Staat“ zeitgleich drei Aufgaben auf der
politischen Tagesordnung:
a)
Überführung
des beide Naturen zur Einheit bringenden feudalen „Gemeinwesenstaates“ in eine
moderne „Vernunftgestalt“.
b)
Ergänzung
der aus dem Zerfall der ehemaligen „Wirtschaftsfamilie“ hervorgehenden
bürgerlichen Gesellschaft und ihres „Not-und Verstandesstaates“ durch das
sozialstaatliche Element.
c)
Die
Erweiterung der unter a + b genannten Staatstypen zum Nationalstaat.
Schwerpunkte Hegels sind nur a + b. Der Gegenstand bei Fries ist
hingegen der Staat unter c.
[64] VPhG, MM 12, S.
67.
[65] Die Verfassung
Deutschlands, MM1, S. 572.
[66] Wie Forscher wie
W. Leisner (Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän? Berlin 2005), wie F.
Müller (Wer ist das Volk, Berlin 1997), die ihre Arbeit dem „Volk“ gewidmet
haben, feststellen mussten.
[67] Siehe dazu § 202
ff. R.
[68] Rolf K. Hocevar,
a.a.O. (FN 52), S. 123.
[69] In der
„Rechtsphilosophie“ (§ 250-256) ist das näher beschrieben.
[70] Ausführlich zur
Sozialstaatsfunktion der Korporationen bzw. zu Hegel als einem Vordenker des
Sozialstaats: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 221 ff.
[71] DS, MM 2, S. 12.
[72] GuW, S. 288.
[73] Vgl. Phän, S.
41.
[74] G. Lasson in der
Einleitung (S. XXII) zu der von ihm 1907 herausgegebenen Phänomenologie des
Geistes, 2. Aufl., Leipzig 1920.
[75] GuW, S. 288.
[76] Phän, S. 25.
[77] Phän, S. 22f. u. S. 24.
[78] Phän, S. 26.
[79] Phän, S. 36.
[80] G. Lasson,
a.a.O. (FN 62).
[81] MEW 21, S. 295 –
Hervorhebung bei Engels.
[82] Ebd.
[83] M. Quante, Die
Wirklichkeit des Geistes, a.a.O. [FN 20] S. 22.
[84] Phän, S. 42.
[85] GuW, S. 289.
[86] Phän, S. 107.
[87] Phän, S. 40.
[88] Phän, S. 29.
[89] Phän, S. 35
[90] Hegel Phän, S.
39,31): Es ist ein „langer Weg“, das „Individuum von seinem ungebildeten
Standpunkt aus zum Wesen zu führen“.
[91] Vgl. Phän, S. 93
ff.
[92] Phän, S. 94)
[93] Das dürfte der
Grund sein für die, Hegel nachgesagte, Kritik an den Romantikern im Rahmen
seiner Ausführungen zum Bewusstsein. Aus seiner Sicht haben sie teilweise eine
geradezu schizophrene Sicht auf die neue Wirklichkeit, indem sie bei
gleichzeitiger „Naturschwärmerei“ ein Loblied auf die bürgerliche Gesellschaft
singen.
[94] Phän, S. 345.
[95] Phän, S. 346.
[96] Phän, S. 346
[97] Phän, S. 42.
[98] Phän, S. 340.
[99] Phän, S. 345.
[100] Vgl. Phän, S.
64.
[101] § 131/Z E.
[102] GuW, S. 289.
[103] Ebd., S. 299.
[104] Vgl. Phän, S.
66f.
[105] Phän, S. 105.
[106] Phän, S. 107.
[107] Phän, S. 445-447
– Hervorhebungen bei H.
[108] Phän, S. 446.
[109] Phän, S. 447.
[110] Phän, S. 105.
[111] Phän, S. 40.
[112] Phän, S. 326.
[113] Das scheint dem
zu widersprechen, was vierzehn Jahre später in § 4 R zu lesen ist: Dass der
„Boden des Rechts … überhaupt das Geistige“ ist. Aber während er in der
Phänomenologie mit „Geist“ den im Verbund mit dem „Ganzen“ stehenden objektiven Geist meint, ist es hier der
subjektive Geist des Teils „produzierte“ Natur, der gemeint ist. Das wird
deutlich, wenn er in den nachfolgenden Satzteilen davon spricht, dass eine
„zweite Natur“ zutage getreten ist, sich aus dem Verbund des „Ganzen“ frei
gemacht hat und damit das Recht – das in den §§ 34 ff. R abgehandelte, von der
Sittlichkeit losgelöste, abstrakte Recht - als „Substanz und Bestimmung“ dieser
Freiheit in der Welt ist.
[114] § 35/Z R.
[115] Phän, S. 355 –
die Herausgeber haben sich dafür entschieden, im Text statt „selbstbewusste“
Substanz „selbst bewusstlose Substanz“ aufzunehmen, weisen in der Fußnote aber
auf die anderen Schreib- und Deutungsweisen hin. Mir scheint es so zu sein,
dass es die „selbstbewusste Substanz“ des „Ganzen“ ist, die mit dem Zerfall des
Gemeinwesens und auch der Ganzheiten „Familie“ und „Mensch“ in Wegfall gerät.
[116] GuW, S. 300.
[117] Vgl. dazu Phän,
S. 441.
[118] Phän, S 356.
[119] Phän, S. 357.
[120] Phän, S. 357.
Ganz anders fällt die Beurteilung der „Person“ aus, wenn man die „produzierte“
Natur als die alleinige und rechtmäßige Natur ansieht. Dann ist sie das
Höchste, ein Ausbund an „Mensch“. Und so verwundert nicht, dass J. Ritter (Hegel
und die französische Revolution, Frankfurt a.M. 1965, S. 65) im Rahmen seines
Versuchs, Hegel zum Liberalen zu machen, begeistert § 209/A R zitiert, wo es
heißt: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik,
Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ Er übersieht dabei, dass Hegel mit dem „so“ auf die
jetzige Einschränkung des Menschen, auf eine Reduzierung aller Menschen auf den Zweck der „produzierten“ Natur hinweist.
[121] Phän, S.355.
[122] Phän, S. 355.
[123] Phän, S. 441.
[124] § 229 R.
[125] § 229 R.
[126] N. Luhmann, Subjektive
Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewusstseins für die moderne Gesellschaft, in:
ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der
modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, S. 45-104 (S. 64).Sehr
anschaulich hierzu auch seine Ausführungen in „Ökologische Kommunikation. Kann
die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen
1986, besonders S. 64 ff.
[127] Ein Vorgang und
dessen Folgen anschaulich in der „Phän“, S. 441ff. geschildert sind.
[128] Dazu
ausführlich: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 151 ff.
[129] §138 R.
[130] Christoph
Halbig, Die Wahrheit des Gewissens, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein
kooperativer Kommentar. Hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt
a.M. 2008, S. 489–503 (489 - Hervorhebung bei Halbig).
[131] Ebd., S. 491.
[132] Phän, S. 447.
[133] Phän, S. 459.
[134] Ebd.
[135] Phän, S. 454.
[136] Phän, S. 458.
[137] Ebd.
[138] Sie zeigt sich
als eine Art „Phantomschmerz“, wie er nach einer Amputation aufzutreten pflegt.
Und die Spaltung des Menschen in „Person“ und „Subjekt“ steht einer solchen
ziemlich nahe. Dieser Schmerz tritt bevorzugt dann auf, wenn das Individuum sich nicht als
„Person“ beweisen muss, also nach Feierabend oder auch im Urlaub.
[139] Phän, S. 453.
[140] Phän, S. 456.
[141] Wie N. Klein
(Die Schock-Therapie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt
a.M. 2007) überzeugend dargetan hat.
[142] § 236/Z R.
[143] § 340 R.