Auf dem Weg zur „Rechtsphilosophie“: Zwischenstation „Phänomenologie“

(Der ökologische Gehalt der „Phänomenologie des Geistes“)

1.                  Der rote Faden

 

Hegels Geschichtsbild ist nicht das einer „Geschichte der Klassenkämpfe“ bzw. einander ablösender Klassengesellschaften, sondern die Geschichte zweier Naturen, der „vorgefundenen“[1] oder „primären“ und der menschgeschaffenen oder „produzierten“ Natur und ihres Verbundes im „Gemeinwesen“.[2] Und diese Geschichte ist es, die gerade einem dramatischen Wandel unterliegt.[3]

Eine „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode“[4]. Wir stehen vor dem Zerfall des bisher Einheitlichen. Der Prozess einer „entgegensetzenden Verdoppelung“ vollzieht einen „qualitativen Sprung“, der, „ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“[5]

 

Und gemeint ist damit dies:

Vor den Augen des Publikums zerfällt auch im verspäteten Deutschland jenes „naturwüchsige“, auf „Blut und Boden“ beruhende, Gemeinwesen, in dem bisher die beiden Naturen, zur Einheit gebracht waren. Ein Zerfall, der die bürgerliche Gesellschaft ans Licht bringt.

 

Dabei treten „Phänomene“ auf; neuartige Phänomene. Ihnen gilt Hegels Interesse. Sie werden die Gegenstände seiner Philosophie. Seine „Phänomenologie“ wird zum Platz ihrer Sammlung, ersten Sichtung und Auseinandersetzung mit ihnen. All das wird gezeigt, was dieser Zerfall auf den drei Ebenen der menschlichen Existenz: der des Menschen (Ebene der Einzelheit), der der Familie (Ebene der Besonderheit), der des Gemeinwesens (Ebene der Allgemeinheit) beseitigt und neu hervorbringt. Ein „Zerfall“ und ein „Neubau“.

Was wird mit dem Alten, was entsteht an Neuem?

 

Vor dem Zerfall waren „Mensch“, „Familie“ und „Gemeinwesen“ geprägt durch die naturwüchsig hergestellte und gewahrte Einheit zweier entgegengesetzter Naturen und Prinzipien. Sie waren sinnlich erfahrbare Organismen – hier deutlicher, dort weniger deutlich. Sie waren „Gestalten“. Der jetzige Zerfall zerstört diese. Das in ihnen Zusammengeschlossene wird frei gesetzt. Der Mensch wird zu „Subjekt“ und „Person“, die ehemalige „Wirtschaftsfamilie“[6] wird „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“, das ehemalige  Gemeinwesen wird „Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“, die frühere Sittlichkeit wird „Recht“ und „Moral“.

Wir stehen vor der „Tragödie im Sittlichen“[7].

Das alte „Ganze“ geht verloren. Mit ihm die frühere, über den „Organismus“ hergestellte, Einheit. An ihre Stelle tritt die „Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit beider Teile.“[8]

Die Teile. Scheinbar sind jetzt sie das neue „Ganze“.

Soll es dabei bleiben?

Es ist das Schicksal des Menschen, Geschöpf und Schöpfer, Tier und „Geist“[9] zugleich zu sein. Als Geschöpf, als „Tier-Mensch“, ist er Bestandteil der „vorgefundenen“ Natur. Was ihn aber als „Geist-Mensch“ daraus heraushebt, ist, dass er als solcher  „tätiger Geist“ ist; „Wille“, der sich eine eigene Natur erschafft. Als „zweite“[10], als „produzierte“ Natur, tritt sie zur „vorgefundenen“ hinzu.

Im Organismus verhielten sich beide Naturen, beide Menschen, als arbeitsteilig zusammen wirkende „Verschiedene“. Nun aber sind sie „Entgegengesetzte“[11]. Damit ist eine neue Qualität erreicht. „Zwei Welten“[12], zwei Menschen sind entstanden. Auf allen Ebenen stoßen wir auf diese Teilung und diese Entgegensetzung. Das „furchtbare Schicksal“[13] des Menschen ist offenbar geworden.

Der „Naturzustand“ ist verlassen. Welcher Zustand sichert jetzt das Überleben?

Das Generalthema seiner praktischen Philosophie ist eröffnet. Es bewegt ihn schon in Bern und Frankfurt. Aber erst in Jena, dem damaligen Mekka der deutschen Philosophie, legt er im „Naturrechtsaufsatz“ eine erste umfassend begründete Antwort vor. Er steht ziemlich allein mit ihr, stößt auf wenig Resonanz. Aber er ist überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein; er bleibt dran; er macht weiter. Und er verlässt Jena mit dem Manuskript der „Phänomenologie“ in der Tasche.

          

2.      Der neue Begriff „Geist“

Der „Zerfall“ bringt das Phänomen „Geist“ hervor. Unter all dem Neuen ist es besonders er, für den sich Hegel interessiert. Die Ausführungen zu ihm nehmen im Werk den größten Platz ein. „Mensch“, „Familie“, „Gemeinwesen“, erfasst von dem jetzigen „Zerfall“, werden ihrer früheren Einheit beraubt und insoweit zu „Geistern“. Zu „Geistern“, die darauf warten, in eine neue Gestalt überführt zu werden.

Hegel betont: Der „Zerfall“ ist ein Zwischenergebnis, das von der Philosophie der Aufklärung „verwirrt und revolutioniert“[14] worden sei. Die Folge: Die Zerfallsprodukte des „Ganzen“ seien sehr verschiedenen Ebenen zugeteilt worden. Die Teile dem Diesseits, das Ganze dem Jenseits. Aber dieser aus dem „Ganzen“ hervorgegangene „Geist“ ist nicht jenseitiger, sondern irdischer Geist. Er ist Sein, „an dem alles Bestimmte und Endliche negiert ist.“[15] Begrifflich gesehen, ist mit ihm jenes „gestaltlose Sein“ vorbereitet, das Hegel später zum Gegenstand seiner „Wesenslogik“ macht.[16] Der „Geist“, dieser „erhabenste Begriff“[17], bezeichnet die Zwischenstation zwischen alter, jetzt untergegangener und der neuen, der Zukunft vorbehaltenen, Gestalt. Er bezeichnet das nach ihrer Negation zurückbleibende Wesen; das Wesen des „Ganzen“. Obwohl er ihn nicht an erster Stelle abhandelt: Dieser „Geist“ ist der zentrale Teil der „Phänomenologie“. Er versteht sich als Vorstufe zur sechs bzw. neun Jahre später erschienenen Wesens- und Begriffslogik.[18]

Und noch einmal: Dieser Geist ist Geist, „der existiert und gilt[19]!

„Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende“, das von uns als „aufgehobener Gegenstand“[20] erkannt, also zum „Begriff“ geführt wird, um dann als die jetzt fällige „Vernunftgestalt“ in die Praxis überführt zu werden.

1817, spätestens 1821, ist er sich sicher, die „Vernunftgestalt“ in der konstitutionellen Monarchie gefunden zu haben.

Der Begriff „Geist“ der „Phänomenologie“ unterscheidet sich von jenem „Geist“, der in der „Enzyklopädie“ Gegenstand der „Geistphilosophie“ ist sowie von jenem, der in der „Rechtsphilosophie“ zur Sprache kommt. Ersterer bezeichnet den Übergang des „Ganzen“ in einen anderen „Aggregatszustand“. Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen wird „gestaltlos“, es wird „Geist“, ehe es von uns, aus dieser Zwischenstation heraus, in die „Vernunftgestalt“ überführt wird. Kurz: dieser Geist ist der spätere „objektive“, der vermittelnde Geist. Der Geist der „Enzyklopädie“  fungiert hingegen vornehmlich als der Name für die von uns geschaffene „produzierte“ Natur. Er bezeichnet einen tätigen Geist, einen „Willen“, der darauf programmiert ist, die  Aneignung seines Gegenübers zu betreiben. Ein subjektiver, ein egoistischer Geist. Er ist  gemeint, wenn es in § 4 R heißt, dass der „Boden des Rechts … das Geistige“ ist.[21]

Der Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens: Er hat auch in Deutschland dessen Teile bloßgelegt, die beiden Naturen. Diese sind nun ihrer bisherigen Verklammerung los und ledig. Beide sind nun frei – wenn auch „frei“ auf sehr verschiedene Weise. Und der Zerfall hat auch ihn hervorgebracht: den „Geist“ – den Geist des „Ganzen“. Bleiben wir zunächst bei den Teilen. Jenes, das bisher im Schatten stand, steht nun im Licht: die „produzierte“ Natur. Sie, die jetzt einen Namen bekommt und „bürgerliche Gesellschaft“ heißt, gibt vor, die menschliche Natur zu sein. Und war es so, dass im „naturwüchsigen“ Gemeinwesen die „primäre“ Natur vorherrschte, so ergreift jetzt sie die Vorherrschaft. Ein Wechsel, der auf der Ebene des Rechts von der Herrschaft des „älteren“ zu jener des „neueren“ Naturrechts führt. Er wird von der tonangebenden Philosophie wie auch von der Rechtswissenschaft begrüßt. Anders Hegel. Er sieht darin eine ungeheure Verschärfung jener Frage, die er als die  Schicksalsfrage des Menschen ansieht – die Frage seines jetzigen und künftigen Umgangs mit der „primären“ Natur. Denn mit der „produzierten“ erwächst ihr ein Gegner, der – werden ihm keine Grenzen gesetzt – das Potential in sich trägt, sie unter sich zu begraben.

Die eine, die „produzierte“ Natur ist frei geworden. Freiheit! Sie ist frei geworden von jeder Verpflichtung gegenüber der anderen Natur; sie ist jetzt „Herr“. Die „primäre“ Natur ist zwar ebenfalls frei, aber im Sinne von „vogelfrei“. Sie wird ökonomisch und rechtlich zum bloßen Objekt; sie ist jetzt „Knecht“. Was beide „Vorherrschaften“ unterscheidet: die „primäre“ Natur hat ihrem Gegenüber nie die Subjektivität abgesprochen. Anders jetzt. Nun zur Herrschaft gelangt, degradiert die „produzierte“ Natur ihr Gegenüber zur (sprach- und rechtlosen) Sache.

 

3.      Die Neuorganisation des „Ganzen“

Die Konturen des Neuen sind noch unscharf, als Hegel seine „Phänomenologie“ zu Papier bringt. Klar ist nur, dass das Alte ausgelebt hat. Hohe Zeit, dass es auch hier, in Deutschland, von der Bildfläche verschwindet. Darin ist sich Hegel einig mit den meisten seiner Kollegen. Was ihn aber vom Mainstream unterscheidet, ist sein philosophischer Ausgangspunkt: der „Begriff des Ganzen“. Ein tragender Begriff, der auf allen drei Ebenen des menschlichen Daseins Geltung hat. Denn das „Wahre ist das Ganze“.[22] Es unterscheidet sich von den „Ganzen“ seiner Kollegen, weil es sich als die Einheit entgegengesetzter Teile versteht und nicht bloß als „leere Eins“. Es ist dialektisches Verhältnis des Ganzen und der Teile. Das oberste und allgemeinste von  ihnen, das „Gemeinwesen“, verliert gerade seine feudale Gestalt. Und es scheint keinen Nachfolger zu haben, es scheint das letzte „Gemeinwesen“ zu sein, es scheint für alle Zukunft von der bürgerlichen Gesellschaft[23] abgelöst zu sein. So sieht es die Mehrheit seiner Kollegen. Anders Hegel. Seine Position: Das „Ganze“ bleibt erhalten. Es verliert nur seine bisherige Gestalt. Und nicht die bürgerliche Gesellschaft folgt ihr nach! Sie ist nur eines der Teile, die aus dem Zerfall des alten „Ganzen“ hervorgehen. Soweit sie sich jetzt als „Ganzes“ geriert, stellt er klar: Sie ist nur ein Scheinganzes.[24]

„Dieser Untergang der sittlichen Substanz und ihr Übergang in eine andere Gestalt“[25]:

Er bedeutet das Aus für das als Organismus organisierte „Ganze“. Was von ihm zurückbleibt ist sein „Geist“. Aber dieser „Geist“ ist keineswegs ein Nichts. Die Entwicklung mag den alten Rahmen gesprengt, die Teile mögen sich weiter verselbständigt haben: Das „Ganze“ besteht fort – z.B. als die „unsichtbare Hand“ der klassischen Nationalökonomie. Beweis seiner Materialität, die es auch als „Nicht-Gestalt“ besitzt, ist die „Kraft“[26], die es auch weiterhin entfaltet. Allerdings nur als ein Wirken im Nachhinein. Das aber  genügt nicht und ist keine Dauerlösung.

Eben noch, im Rahmen des Organismus, standen sich die beiden Naturen als „Verschiedene“ zur Seite. Ihre Kräfte, koordiniert durch das „Ganze“, waren Kräfte des Miteinander. Jetzt sind beide Naturen „Entgegengesetzte“[27], deren Kräfte „Bewegung gegeneinander“[28] ist. Aber dabei kann es nicht bleiben; dieser „Zwischenzustand“[29] darf nicht „fest“ werden. Das „Ganze“ muss wiederhergestellt werden. Und mit ihm die „Einheit der Identität und der Verschiedenheit“[30].

Es kommt anders. Eines der Teile, die „produzierte“ Natur, maßt sich an, das jetzige „Ganze“ zu sein. Eine Umschichtung findet statt. Vor allem aber: eine Umwertung der Teile zu Lasten der „primären“ Natur und des „Ganzen“. Aber das ist und bleibt Anmaßung. Allerdings eine Anmaßung, die den Schein der Wahrheit für sich hat - jedenfalls für den gesunden Menschenverstand. Aber: Teil bleibt Teil. Es kann seinem Gegenüber nicht Ganzes sein, ohne seine Kompetenzen zu überschreiten. Und zwar auf Kosten des anderen Teils. Und selbstverständlich nicht ohne Folgen für diesen und auch für sich selbst. Denn „Krankheit und der Anfang des Todes [ist] vorhanden, wenn ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft des Ganzen entzieht“[31]. Beide Teile sind im Rahmen des (echten) „Ganzen“ relativ selbständig. Wenn sich nun eines der Teile zum „Ganzen“ erklärt, muss es, zum einen der Logik halber, wichtiger aber noch: um diesen Anspruch in der Praxis durchzusetzen, den Rang des anderen Teils herabsetzen. Wie es ja auch geschieht. Während die Mehrheit seiner Kollegen dies hinnimmt und für richtig befindet, fragt Hegel, was mit der anderen, der „primären“ Natur wird, wenn sie jetzt als unselbständiger und „mundtot“ gemachter Bestandteil in eine politische Organisation „eingebaut“ wird, deren Prinzip und System „auf Besitz und Eigentum geht“[32]?

Das bisherige Gemeinwesen wies die Besonderheit auf, dass die „primäre“ Natur, ein Teil, darin in einer Art „Personalunion“ zugleich die Funktion des Ganzen ausübte. Damit ist nun Schluss. Die Ausbildung der „produzierten“ Natur ist soweit fortgeschritten, dass ihr diese Konstellation nicht mehr gerecht wird. Sie emanzipiert sich. Ja, sie entreißt der „primären“ Natur die Vorherrschaft und tritt an ihre Stelle. Ein Wechsel, eine Revolution, die weitreichende Folgen nach sich ziehen – in der Summe vorwiegend zu Lasten der „primären“ Natur. Diese wird den Prinzipien der „produzierten“ Natur unterworfen, was heißt: Sie wird entsubjektiviert und zur „Sache“ gemacht. Juristisch gesehen: Sie wird unter den „Rechtszustand“ gesetzt, der jetzt die frühere Sittlichkeit ablöst. Aber sie tritt diesem Zustand nicht auf Gewinner-, sondern auf Verliererseite bei, weil sie nicht zur „Person“ erhoben, sondern zu „Eigentum“ erniedrigt wird. Was im antiken Rom im Kleinen geschah, die Versklavung eines Teils der Menschen, geschieht jetzt im Großen. Eine ganze Natur ist davon erfasst.[33].

Um sein Anliegen zu verdeutlichen wechselt Hegel die Ebenen, erläutert die Problematik einmal anhand des Gemeinwesens, andere Male anhand der Familie und immer wieder anhand des Menschen. Überall zeigt sich das prinzipiell gleiche Bild: Verlust der Einheit, „Halbierung“, Aufwertung eines Teils bei gleichzeitiger Abstufung des anderen. Was nicht ausschließt, dass im Detail große Unterschiede bestehen. So verhindert auf der Ebene der „Einzelheit“ die Leiblichkeit, dass der Mensch sichtbar in „zwei Menschen“ zerfällt. Und dennoch ist es so, er wird zu „Person“ und „Subjekt“; er lebt fortan weiter als ein innerlich zerrissener, „uneinheitlicher“ Mensch.

Ein bloßer Wechsel in der Vorherrschaft der Naturen? Die lange Zeit der bisherigen „Personalunion“ hat ein Bewusstsein vom Verhältnis der Naturen „fest“ werden lassen, dass diese nicht nebeneinander (gleichgeordnet) zeigt, sondern übereinander (über- und untergeordnet). Das begünstigt, was jetzt geschieht: die „Umkehrung“ ihres Verhältnisses zueinander. Kein Wunder also, dass die Kollegen Hegels sie mehrheitlich begrüßen. Noch dazu, da die „Umkehrung“ für die „produzierte“ Natur wie für ihre Mitglieder „Freiheit“ bedeutet. Ein Grund zur Freude, kein Grund zu kritischer Reflexion. Im Gegenteil, sie sehen hierin einen längst fälligen Nachvollzug dessen, was anderswo schon längst unhinterfragter Bestandteil der Praxis geworden ist. Ein Wechsel, der sich ihnen als Akt ausgleichender Gerechtigkeit zeigt. Anders Hegel. Er meldet prinzipielle Bedenken an. Er lenkt den Blick auf den Staat, trägt vor, dass mit dem „Ganzen“ auch der richtige Staat wegzufallen droht. Aber man redet einander vorbei. Während Hegel für einen neuen „sittlichen“ Staat plädiert, orientieren sich die Kollegen an England und Frankreich, wo die „Umkehrung“ längst „fest“ geworden ist und Staaten zur Ausbildung gekommen sind, die sich ganz selbstverständlich nur als Staat der „produzierten“ Natur verstehen. Er wird nun auch für Deutschland gefordert, diese Art Staat also, den Hegel den „Not- und Verstandesstaat“ nennen wird. Der Staat des „geistlosen Gemeinwesens“, der Staat der „leeren Allgemeinheit“[34]. Mit ihm wird das „Prinzip des Rechtszustandes“ nun „wirkliche Welt[35]. Was fehlt und was nach dem Willen der Befürworter des Neuen auf Dauer fehlen soll, ist der sittliche Staat beider Naturen.

Weiterhin existieren zwei Naturen. Trotzdem hat sich die Welt grundlegend verändert. Denn beide Naturen stehen sich jetzt nicht mehr als zwei Subjekte, sondern als Subjekt und als Objekt gegenüber. Und daran ändert auch nichts, dass sich dieses halbe Ganze aufspaltet in „Staat“ und „Gesellschaft“ und damit den Schein eines „Ganzen“ erweckt.

Die „primäre“ Natur wird herabgestuft. Und das gleich zweifach. In Ordnung ist, dass sie jetzt ihre Vorherrschaft verliert. Nicht in Ordnung aber ist, dass diese  Vorherrschaft jetzt auf die „produzierte“ Natur überwechselt, während die „primäre“ die ihre nicht nur einbüßt, sondern mit ihr auch ihre Subjektivität. Sie wird zur Sache[36] gemacht, mit der die „produzierte“ Natur verfährt, wie sie intern seit eh und je mit jenen Teil ihrer Mitglieder verfährt, der gezwungen ist, vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu leben.

Wie vergleichsweise milde war dagegen die Vorherrschaft der „primären“ Natur!  

„Umkehrung“ bedeutet, dass das „Ganze“ unbeachtet bleibt bzw. dass der ablaufende Prozess nur auf der Ebene der Teile vollzogen wird. So gesehen liegt es nahe, in dem, was jetzt geschieht, nur einen einfachen „Führungswechsel“ zu sehen. Ist es dazu gekommen, gelangt  der Prozess vorläufig zum Stillstand – und weil er uns das vorteilhafteste Ergebnis zu sein scheint, wird es eilig festgeschrieben. Der Prozess wird gestoppt, wird für beendet erklärt, obwohl er gerade erst den Durchgangspunkt erreicht hat.

Philosophisch gesehen sind wir damit bei der „Aufhebung“.

„Aufhebung“ bedeutet: „ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich“[37].

Und so ist auch der „Zerfall“ zu sehen. Aus ihm gehen die Teile nicht als „Totalitäten“ hervor, sondern nur als „relative Totalitäten“.[38] Sie werden nicht „frei“, sondern nur „freier“.

Negiert werden der „Organismus“ und die Vorherrschaft, gleich welcher Natur. Gleichheit soll herrschen; Gleichheit der Naturen. Aber wie soll diese hergestellt und aufrechterhalten werden bei dem, der „produzierten“ Natur innewohnenden, Hang zur Maß- und Zügellosigkeit? Indem das „Ganze“ als Korrekturinstanz bleibt! Jedoch nicht in seiner Gestalt als „Organismus“; diese verlässt für alle Zeiten die Geschichte. Aber nicht ein „Nichts“ folgt ihr nach, „sondern ein bestimmtes Nichts“[39], nämlich „Geist“. Er zeigt an, dass der Prozess noch nicht beendet ist. Beim „Geist“ bleibt es nur „zunächst“. Der Prozess, der bisher „naturgesetzlich“ verlief, legt eine Pause ein, er wartet auf unsere Mitwirkung. Denn die jetzt fällige „Vernunftgestalt“ stellt sich nicht von selbst her. An dieser Mitwirkung fehlt es. Das ist der Grund, warum sie bis heute aussteht.

Warum leisten wir unseren Beitrag nicht?

Zum einen hindert uns das „Glück“, dass uns die jetzige „Umkehrung“ beschert. Wir fühlen uns wie zu Weihnachten. Von allen Seiten prasseln die Gaben auf unseren Tisch. Zwar sind sie höchst ungleich verteilt. Aber insgesamt sind es genug, um uns bei der Stange zu halten. Der Konsument in uns obsiegt, gibt den Ton an. Bestärkt werden wir in unserer Haltung, weil wir die „primäre“ Natur lange Zeit als ein unerschöpfliches Füllhorn ansehen.[40] Warum also sollten wir uns Zurückhaltung auferlegen?

Dieses Glück aber, mit dem die „produzierte“ Natur unseren Beifall und unsere Zustimmung erlangt und von dem wir uns korrumpieren lassen, ist das Unglück der „primären“ Natur. Wer, wie Hegel, dagegen Einwände erhebt, wird nicht gehört. Hinzu kommt, dass die sich in der Praxis vollziehende „Umkehrung“ einflussreiche Fürsprecher  findet. Auch in der Philosophie. Dort ist es L. Feuerbach, der der praktischen Umkehrung seine „Umkehrmethode“ zur Seite stellt. Sie ist der Kern der „Feuerbachschen Dialektik“[41].  K. Marx greift sie auf und macht sie zum festen Bestandteil seines philosophisch-ökonomischen Systems.

Niemand hat für einen langen Zeitraum ein Interesse daran, dem Prozess Fortgang zu geben. Das „Glück“ soll andauern. Streit gibt es nur noch darum, wie die Glücksgüter zu verteilen sind. Das „Ganze“ ist vergessen und bringt sich erst 200 Jahre später auf unliebsame Weise in Erinnerung.

 

4.      „Vermittlung“

Auch die „Vermittlung“ ist ein Schlüsselbegriff der „Phänomenologie“. Besonders im Abschnitt zum „Geist“ wird er breit abgehandelt. Wie dieser nimmt er (folglich) sechs Jahre später in der „Wesenslogik“ einen zentralen Platz ein und wird weitere acht Jahre später unverzichtbarer Bestandteil auch der „Rechtsphilosophie“.

Ein spannender, ein umstrittener Begriff!

Und was wird vermittelt? An erster und oberster Stelle die beiden im „Gemeinwesen“ zur Einheit gebrachten Naturen.

Das Interesse der „produzierten“ Natur an ungehinderter, zügelloser Expansion „ruft jene Freiheit [des Gewerbes und Handels] gegen die höhere Regulierung an, bedarf aber, je mehr es blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft ist, um so mehr einer solchen, um zum Allgemeinen zurückgeführt zu werden“. Jedenfalls darf diese Freiheit „nicht von der Art sein, dass das allgemeine Beste in Gefahr kommt.“[42]

„Vermittlung“ dieser Art, also ausgehend vom „Ganzen“ bzw. von der „Vernunftgestalt“, wird damals wie heute, wie die Hegelsche Dialektik überhaupt, abgelehnt, mindestens aber mit Skepsis betrachtet. Wer das „Ganze“ als Spukgestalt ansieht oder es jetzt als „aufgelöst“ betrachtet – aufgelöst im Sinne von „endgültig“ -, weist sie entschieden zurück. Ein Fehler, steht für Hegel fest. Gegen Fichte und Schelling gewandt, schreibt er: „Dies Perhorreszieren stammt aber in der Tat aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst.“[43]

Im Anschluss charakterisiert er die Vermittlung als „sich bewegende Sichselbstgleichheit“[44], als das „Ganze“ bzw. die „Einheit“ bewahrende Tätigkeit also. Das kann so interpretiert werden: Auseinanderbewegung in Maßen. Partielle und temporäre Ungleichentwicklung ist unvermeidbar. Aber anzustreben ist „ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile.“[45] Wo doch Ungleichheit entsteht, besteht die Pflicht, dass diese „von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.“

Davon will jetzt niemand etwas wissen.

Wie sieht es dort aus, wo die Dialektik positiv gesehen wird, bei Marx und den Marxisten?

Wenden wir uns G. Lukacs zu. „Vermittlung“, sagt er, muss sein. Sie ist unverzichtbares Instrument „ontologischer Selbstkorrektur“[46]. Aber wie Hegel vermittelt, nämlich „gleichgewichtig“, gefällt ihm nicht. „Gleichgewicht kann zwar nur dadurch lebendig sein, dass Ungleichheit in ihm entsteht und von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.“[47] Seine Kritik setzt dort an, wo Hegel zum Ausdruck bringt, dass die „Vermittlung“ notwendig ist, um die „entgegensetzende Verdoppelung“ und ihre Folgen durch eine „wiederherstellende Gleichheit“[48] in ein erträgliches Koexistieren zu korrigieren.

Die Einschränkung, auf die sich „zwar“ bezieht:

Diese Art der „Vermittlung“ lässt zu wenig Bewegung zu, ja, sie ist geradezu der Tod jeder Bewegung. Schon das „Ganze“, von dem sie ausgeht, diese Spukgestalt, die sich aus seinem „System“ erklärt, habe im Sein keine Basis. Vermittlung, ja! Aber auf die Weise des „Übergreifens“ einer Seite über die andere. „Vermittlung“ so, wie sie schon von Aristoteles, Fichte, Schelling verstanden wurde. „Vermittlung“, wie sie über Feuerbach und Marx zum festen Bestandteil des Marxismus geworden ist. Also eine „Vermittlung“, die von einer „primären, bestimmenden Seite“[49] ausgeht, kurz: die eingebettet ist in die „Einheit und den Kampf der Gegensätze“. Eine Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen.

Zu fragen ist also:

Welche der beiden Seiten greift jetzt über? Wie Marx steht Lukacs auf Seiten der „produzierten“ Natur. Sie ist es, die jetzt „übergreift“, deren Interessen den Vorrang haben vor denen der Gegenseite. Und aus dieser Sicht haftet der Hegelschen Art der „Vermittlung“ der Makel an, eine Homogenisierung der wechselwirkenden Gegenüber zu bewirken. „Ohne Frage gibt es Fälle, wo dies [die Gleichgewichtslage] den Tatsachen entspricht. Für die reale, für die ontologisch bedeutsame Entwicklung sind jedoch vor allem jene Wechselwirkungen ausschlaggebend, in denen das, was Marx später als das ‚übergreifende Moment‘ genannt hat, zur Geltung kommt.[50]

Die „wechselwirkende“ Vermittlung. Ihr Ausgangspunkt ist nicht das „Ganze“, sondern das „Scheinganze“. Und auch das ist nur die halbe Wahrheit. Die „Scheinganzheit“, die bloß angemaßte Ganzheit impliziert, dass der andere Teil, das „Entgegengesetzte“, überhaupt aus der dialektischen Paarung ausgeschlossen ist. Im früheren Ganzen waren zwei Subjekte vereint. Jetzt ist der eine Teil von vornherein zur „Sache“ erklärt, die keinen Partner einer dialektischen Beziehung abgeben kann.

Dialektik heißt „Bewegung“. Und schon der erste Blick auf die Hegelsche „Vermittlung“ zeigt auf, dass diese die Bewegung nicht fördert, sondern eindämmt. Bestätigt das nicht die Kritik, die Hegel von Seiten des Liberalismus wie des Marxismus entgegenschlägt?

Das Bild einer „Planwirtschaft“ drängt sich auf. Hegels „Vermittlung“ korrigiert und entschärft die „entgegensetzende Verdoppelung“ durch eine „wiederherstellende Gleichheit“[51]. Sie erreicht das, wenn nötig, durch die Einnahme einer „unterdrückenden Haltung“[52] gegen die „produzierte“ Natur. Ressourcenzuteilung an sie, die auf die Reproduktionskraft der „primären“ Natur abgestimmt ist. Praktizierte Nachhaltigkeit. Die „produzierte“ Natur wird an die Kandare genommen.  Zügelung ihres Treibens, Einschränkung ihrer frisch gewonnenen Freiheit. „Vermittlung“ heißt Koordinierung, bedeutet Abstimmung der „Produktivitäten“ und „Produktionen“ beider Naturen aufeinander. Das widerspricht den Grundsätzen beider: der Liberalen und der Marxisten. Ja der Marxismus übertrifft die Liberalen in der Radikalität ihres Verständnisses vom „Übergreifen“ der einen über die andere Natur, weil ja im Kommunismus alle Springquellen fließen sollen und müssen, wenn das von der bürgerlichen Gesellschaft verheißene „Glück“ nicht nur Wenige, sondern Alle erreichen soll. Es richtet sich deswegen auch gegen das Wirken der unsichtbaren Hand, das dem Treiben der Marktkräfte einen gewissen Widerstand entgegensetzt, ja soll gerade auch dieses Wirken außer Kraft setzen.

Nicht die Planwirtschaft Lenins, die auf ungezügeltes Wachstum abzielt, sondern eine, die der „produzierten“ Natur überall dort Stopzeichen setzt, wo ihr Treiben mit dem Bestand der „primären“ Natur auch den des „Ganzen“ infrage stellt. Ihr Bewegungsraum, ihre „Freiheit“, wird durch die „Vermittlung“ eingeschränkt. Eine langsamere Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wäre die Folge. Viele ihrer „Glücksgüter“, die uns heute zugänglich, ja selbstverständlich sind, stünden uns wahrscheinlich noch nicht zur Verfügung. Aber dafür stünden wir nicht vor dem jetzigen Abgrund; wir hätten uns die Zukunft bewahrt.

Planmäßigkeit also in einem ganz anderen Sinne als diejenige, die (z.B.) der „reale Sozialismus“ betrieb und die sich in der Praxis als „Tonnenideologie“ und Raubbau an der „primären“ Natur zeigte. Und trotzdem. Aus der Sicht der „Umkehrung“ heraus bedeutet sie „Unfreiheit“. Ein Pauschalurteil, das ihren Zweck: Erhalt der „primären“ Natur, ignoriert. Größer kann der Unterschied nicht sein. Hier eine Planwirtschaft zugunsten der „produzierten“ Natur, hier eine Planwirtschaft, die dem Erhalt des „Ganzen“ und damit unserem eigenen Besten dient.

Hegel teilt nicht den Optimismus der Ökonomen, die meinen, dass die Marktkräfte das „richtige Verhältnis im Ganzen von selbst“ herstellen. Dazu reicht deren Kraft nicht aus. Außerdem ist es eine zerstörerische Kraft, weil sie im Nachhinein wirkt. Da letztendlich alle Entwicklung der „produzierten“ auf Kosten der „primären“ Natur geht, müssen die sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sie sich entwickeln aufeinander abgestimmt werden, soll dem Anfang der bürgerlichen Gesellschaft nicht ihr baldiges Ende folgen. Daher plädiert er für eine „mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung“[53], hauptsächlich dort, wo es die „Produktivitäten“ beider Naturen aufeinander abzustimmen gilt.

Eine Homogenisierung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sich beide Naturen durch Raum und Zeit bewegen. Das Ziel: Ein „ruhiges Werden der einen Macht desselben [des sittlichen Reiches] zur anderen, so dass jede die andere selbst erhält und hervorbringt. Wir sehen sie zwar in zwei Wesen und deren Wirklichkeit sich teilen; aber ihr Gegensatz ist vielmehr die Beziehung des einen durch das andere“[54].

Aber wie die Geschwindigkeit der Schneckenpost und der des ICE vermitteln? Und wo sollen wir beginnen, jetzt, wo wir fünf Minuten vor dem Abgrund stehen und eine Schnellbremsung Not täte? 200 Jahre haben wir ungenutzt verstreichen lassen. Zeit einer zügellosen Plünderung der Ressourcen der „primären“ Natur. Wo jetzt anfangen, wo sie ausgelaugt am Boden liegt. Als das Problem erkannt wurde, vor nunmehr fast 50 Jahren, lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Damals deckte sich die Reproduktionskraft der „primären“ Natur noch mit unserem Naturverbrauch. Jetzt sind es circa 8 Milliarden. Und man kann annehmen, dass heute jeder einzelne Mensch mehr Energie verbraucht als der Mensch des Jahres 1970.

5.      Der Staat als „vernünftige Institution“[55]

(Vernunftgestalt „konstitutionelle Monarchie“)

Das „naturwüchsige“ Gemeinwesen“ ist zerfallen und verharrt im Zwischenzustand „Geist“.  Nun, nach dem Sturz der napoleonischen Fremdherrschaft rückt die deutsche Frage in den Mittelpunkt. Was folgt dem ehemaligen Reich nach, welcher Staat steht auf der Tagesordnung?

Fragen, die sich auch Hegel stellt. Der in Württemberg entbrannte Streit um den vom König vorgelegten Verfassungsentwurf wird ihm aktueller Anlass, sich zur „Staatsfrage“ zu äußern. Die „Landständeschrift“ des Jahres 1817 entsteht. Eine Art Vorstudie, die in der „Rechtsphilosophie“ des Jahres 1821 zur Konzeption eines zeitgemäßen „Vernunftstaates“ fortgeführt wird.   

Beide Schriften haben Hegel bis heute den Ruf eingetragen, ein philosophischer Bannerträger der Restauration zu sein, ja sich mit ihnen seinem (nächsten) Dienstherrn, dem preußischen König, angedient zu haben. Vom Standpunkt der „Umkehrung“ her gesehen, also vom Standpunkt der jetzt herrschend gewordenen „produzierten“ Natur, ist das auch richtig. Denn je „umgekehrter“ oder, was auf das Gleiche hinausläuft, je positivistischer wir die „Rechtsphilosophie“ interpretieren, auch: je anthropozentrischer, umso mehr wird sie aus dieser Sicht zu einer Fehlleistung erster Ordnung.

Aber die „Umkehrung“ verstellt den Blick darauf, dass sich das Staatsverständnis Hegels sowohl von dem Metternich/Gentz‘ wie auch von dem des preußischen Königs grundlegend unterscheidet. Hegels Staat verhält sich von dem der Genannten wie das trojanische Pferd von einem richtigen Pferd. Während das erstere aber half, Troja zu erobern, muss Hegel am Ende seines Lebens verbittert konstatieren, dass der Versuch, die konstitutionelle Monarchie mit seiner Philosophie zu unterwandern[56], gescheitert ist. Die Entwicklung geht andere Wege. Sie verwirft Hegels Version; und es ist ihm gewiss kein Trost, dass auch die Metternich/Gentzsche dem Sturm nicht stand hält, der auch Deutschland auf den „Parlamentsstaat“ zutreiben wird.

Sieht man die Praxis als das Kriterium der Wahrheit an, scheint auch diese den damaligen und heutigen Kritikern Recht zu geben. Aber auch die Verelendung der „primären“ Natur ist Praxis. Und  diese Praxis bestätigt Hegel.

Wir haben die Bedeutung der „Vermittlung“ bereits erörtert“.

„Vermittlung“ heißt für Hegel, dass die „Gerechtigkeit des menschlichen Rechts“ (wieder)hergestellt wird. Ihr obliegt es, das „aus dem Gleichgewichte tretende Fürsichsein … in das Allgemeine“ zurückzubringen. „Menschliches“ Recht. Die Betonung sagt uns, dass es hier nicht um das uns bekannte, um das in der „Phänomenologie“ unter „Rechtszustand“, beschriebene Recht geht, sondern um ein stets gefährdetes Recht höherer Art, dass nur durch die „Vermittlung“ erhalten bzw. zurückerobert werden kann. Ein Recht, das uns zum Staat führt. Nicht zum „Not- und Verstandesstaat“[57], der sich als Garant der Rechte, die die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander und – alle zusammen – gegen die „primäre“ Natur geltend machen, betätigt und bald „Rechtsstaat“ heißen wird, sondern zu jenem „sittlichen Reich“[58], dass auf allen Ebenen menschlicher Existenz die Einheit wiederherstellt.

Seit Bern, vor allem aber seit Jena ist Hegel auf der Suche danach, sucht er jene „Vernunftgestalt“, die jetzt, nach Untergang des Alten, die Vermittlung der beiden Naturen exekutiert. Er ringt mit dem Stoff. Er wertet die Geschehnisse in Frankreich aus. Er macht sich mit den Erkenntnissen der englischen Nationalökonomen vertraut, mit den englischen Verhältnissen überhaupt. Was ist von dort zu lernen, was nicht?

Es ist Zeit Bilanz zu ziehen. 25 Lehr- und Experimentierjahre sollten ausgereicht haben, „um die falschen Rechtsbegriffe und Vorurteile über Staatsverfassungen zu zerstampfen“[59], hofft er.   

Kommen wir auf den Württembergischen Verfassungsstreit zurück:

Seine Kritik gilt beiden Seiten. Der Entwurf des Königs,  im März 1817 den Ständen vorgelegt, von diesen aber Anfang Juli mehrheitlich abgelehnt, geht ihm dort zu weit, wo er „dem demokratischen Prinzip durch die Wählungsart der Repräsentanten“ zu viel Ausdehnung, ja „beinahe völlige Ungebundenheit“[60] gewährt. Das bezieht sich auf den Vorschlag, einen aus zwei Kammern bestehenden Landtag einzurichten, wobei die Abgeordneten der einen Kammer direkt vom Volk gewählt werden sollen. Zu loben ist aber, dass der Entwurf weder an das Staatsrecht „eines verschwundenen Zustands“ noch an das „entgegengesetzte Extrem einer abstrakten Theorie und eines seichten Geschwätzes“ anknüpft, sondern die „Verfassung in das Gebiet des vernünftigen Staatsrechts“ verlegt.[61]

Den Landständen gilt seine Kritik, weil diese mit ihrer Verweigerung, mit ihrem Taktieren, mit ihrem Feilschen um die „verbrieften“ Privilegien das „verkehrte Schauspiel“ abgeben, als Verteidiger des Überlebten aufzutreten.

Hegel hält beiden Seiten vor: Weder das Staatsrecht „eines verschwundenen Zustandes“ noch das „entgegengesetzte Extrem“[62] können jetzt Geltung verlangen.

Und beide Seiten berufen sich auf das Volk! Missbilligend hält Hegel ihnen entgegen: Niemand kann „weniger Geschick haben …, eine Verfassung zu machen, als das, was man das Volk nennen mag.“[63]

Das berührt einen „wunden Punkt“, der Hegel immer wieder, damals wie heute vorgehalten wird: sein distanziertes Verhältnis zu „Volk“ und „Volksvertretung“; eine Haltung, die sich durch sein gesamtes Werk zieht. Er favorisiert jenen Verfassungstyp, der den deutschen Staaten in Artikel 13 der 1815 in Wien beschlossenen Bundesakte kurz und knapp so vorgeschrieben wird:

„In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung Statt finden.“

„[A]ls ob das Volk das Ganze wäre“[64]! „Volk“ ist für ihn ein flatterhafter, ein nebulöser Begriff. Ein Allzweckbegriff, vielleicht sogar eine Allzweckwaffe. Sehr geeignet für das populäre, sich auf „Volk“ berufende, „blinde Geschrei der Freiheit“[65]. Nun ist es gewiss falsch, ihm gar keine Bedeutung zuzumessen. Gerade im zersplitterten Deutschland steht damals auf der politischen Tagesordnung, was Hegel in § 181/A R anklingen lässt: Die Erweiterung der Familie „zu einem Volke, einer Nation“. Der Staat als Nation, als Nationalstaat, berührt jedoch nur die quantitative Seite der aktuellen Fragestellung. Im Zentrum des „Vernunftstaates“ steht das qualitative Element: das „Ganze“ und dessen Wiederherstellung. Dieses Kernproblem wird verdeckt bzw. verdunkelt, wenn das „Volk“ in die Mitte gestellt wird. Und hat Hegel damit nicht Recht, wenn man sieht, dass es weltweit kaum ein Staatswesen gibt, dass sich, mag es auch noch so „unvernünftig“ organisiert sein, nicht auf das „Volk“ beruft. Ein verwaschener Begriff, der nirgendwo justiziabel ist. Selbst in einem Staatswesen wie dem unseren, in dem nahezu alles und jedes justiziabel ist, kann er nicht vor Gericht gebracht werden.[66]

Und was soll verdeckt werden? Die Allein- oder auch nur Vorherrschaft der „produzierten“ Natur! Ihre Freiheit ist unter einer „Volksvertretung“ am sichersten. Eine der Aussagen in der „Landständeschrift“ ist also die: Eine sich auf „Volk“ stützende Repräsentation ist eine solche, die die „primäre“ Natur ausschließt. Repräsentation ja. Aber die der „Stände“ der modernen bürgerlichen Gesellschaft[67], nicht die des Volkes. Diese Stände, diese Kräfte müssen darin zu Wort kommen, aber über sie auch gezügelt werden können. Ihre Interessen sind relativ klar definiert und als solche erkennbar, die Interessen des Volkes hingegen nicht. Und wie die weltweite Praxis der Repräsentationssysteme zeigt: es wird Interessentenpolitik betrieben, nicht Politik für das Volk. Folgt man den offiziellen Strukturen des „Parlamentsstaates“, so sehen wir, dass gerade die Hauptinteressenten, die Unternehmen, nicht im Staat vertreten sind, weil sie als Privatsache gelten. Wenn es um die Pflichten dem „Ganzen“ gegenüber geht, stehen sie außerhalb des Staates, wissen aber, wenn es um „handfeste“ Teilhabe am Staat geht, wie sie diese einzufordern haben.

Gehör findet, wer eine Lobby hat. Wem sie fehlt, weil er sich eine solche nicht leisten kann, bleibt in aller Regel ungehört. Bleibt dieser philosophisch-ökonomisch-soziologische Hintergrund unerkannt oder wird er ignoriert, ist damit auch das Urteil über Hegel gefällt: Er ist dann in puncto „Staat“ einer, der zusammen „mit Gentz den breiten Strom der Restauration zugunsten des später immer stärker anschwellenden Seitenarms der Reaktion“ verlässt.[68]

Der Zwillingsbruder des „Volksstaates“ ist der „Vertragsstaat“. Und jede Art „Vertragsstaat“ erschöpft sich letztlich in jenem „Not- und Verstandesstaat“, der nicht „vermittelt“, sondern der nur das Nötigste tut um zu verhindern, dass sich die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft bei ihrer Jagd auf die Reichtümer der „primären“ Natur nicht gegenseitig behindern oder gar totschlagen. Beide Typen genügen den Anforderungen der Vernunft nicht.

Aus zwei Gründen ist für Hegel der Zugriff des „Ganzen“ auf die Sphäre der Aneignung wichtig: Einmal, um darüber die Interessen der „primären“ Natur zur Geltung zu bringen; sie vor Überforderung ihrer Leistungskraft in Schutz zu nehmen. Zum anderen geht es ihm um das Wohl jener Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die jetzt nicht auf der „Siegerseite“ stehen. Das sind jene, die nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft,  jetzt aber den früheren sozialen Rückhalt verloren haben, den die „Wirtschaftsfamilie“ ihnen bot.

Was also aussieht wie ein Zurück zum Alten, ist ein Aufbruch zu einem Neuen, zu einem Staat, der „vernünftige Institution“ im zweifachen Sinne ist. Einmal, weil er dafür sorgt, dass das Naturganze überlebensfähig bleibt. Zum anderen, um jetzt, nach Wegfall der sozialen Funktion der „Wirtschaftsfamilie“, das Ganze des Bereichs der „Besonderheit“ wiederherzustellen. Das widerspricht der Staatsdoktrin der Liberalen, die mit dem Untergang der „Wirtschaftsfamilie“ auch deren soziale Funktion ersatzlos untergehen lassen. Anders Hegel. Was diese ersatzlos streichen, wird für ihn die alte und neue Aufgabe der früheren „Korporationen“. Sie werden daher, neu gestaltet, Bestandteile seines Staates.[69] Hegel wird so zum Vordenker nicht nur des um das Naturganze besorgten „Vernunftstaates“, sondern auch der des modernen Sozialstaates.[70]

 

6.      Unterschiedliche Zuständigkeiten: Verstand und Vernunft

(Die Trennung von Vernunft und Verstand)

Die Vernunft ist ein Derivat des „Ganzen“. Wenn dieses zerfällt, bleibt die Vernunft nicht verschont.   Die Folgen ihres Zerfalls beschäftigen Hegel bereits in der „Differenzschrift“ und in „Glaube und Wissen“. Und auch hier, in der Phänomenologie, benennt und beschreibt er sie in immer neuen Wendungen.

Einer der Kernsätze lautet:

Die dem „Ganzen“ innewohnende Vernunft findet sich zum einen als in den Himmel abgeschobener Glaube wieder. Zum anderen wird sie „zum Verstand herabpotenziert“[71].

Das ist gegen die Aufklärung gerichtet. Ihre Vernunft ist eine solche, die „nur Verstand ist“[72]. Sie hat Vernunft und Verstand in einen Topf geworfen, in den Topf „Verstand“. Aber es gilt, beide auseinander zu halten. Beide haben verschiedene Wahrheiten und Zuständigkeiten.[73]

Wieder geht es ihm um unsere Haltung zur „primären“ Natur. Jetzt, wo diese entsubjektiviert ist, wo wir sie als unser „Gegenüber“ verstehen, sehen wir sie mit fremden Augen. Mit den Augen des theoretischen und praktischen Eroberers. Als Teil einer „Einheitsnatur“ muss ihr aber nicht nur „verständig“, sondern vor allem „vernünftig“ begegnet werden. Das heißt u.a., dass nicht alles Wissen, das wir über sie erlangen, auch gegen sie eingesetzt werden darf.

Wo das „Ganze“ ins Jenseits abgeschoben wird, wird die Vernunft zum „Glauben“. Im Diesseits verbleibt der Verstand. Und wie der „Zerfall“ des „Ganzen“ und die „Umkehrung“ des Verhältnisses der Teile zueinander zur Vorherrschaft der „produzierten“ Natur führt, führt der gleiche Prozess zur „Herrschaft der Reflexion“[74]. Die Folge: Wir sehen jetzt die „primäre“ Natur mit den kalten Augen des Verstandes. Sie, die unsere Nährmutter ist und von uns so geschätzt und behandelt werden sollte, wird uns nun bloßes Objekt der Ausbeutung.

 „Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft“ über den Glauben zu erringen vermeinte, führt zu einer Vernunft, die – „bei Lichte betrachtet“ – „nur Verstand ist.“[75] Der Verstand ist den Mitgliedern der „produzierten“ Natur zugeordnet. Er dient dazu, der anderen Natur ihre Geheimnisse „abzulisten“. Er ist auf und gegen sie gerichtet. Die Vernunft verbietet solches Wissen nicht, verbietet aber seine praktische Nutzung, wenn sie das „Ganze“ in Gefahr bringt. Der Bau der Atombombe wäre also, legt man diesen Maßstab an, als ein Beispiel eines solchen Verstoßes gegen die Vernunft anzusehen.

Vernunft ist „zweckmäßiges Tun“ im Interesse beider, des „Ganzen“ und der Teile. Sie hat mit „Einsicht“, mit Selbstbeschränkung“, mit „Verzicht“ zu tun. Und natürlich auch mit „Vermittlung“. Aber wenn die „Vermittlung“ zusammen mit dem „Ganzen“ perhorresziert wird, wie das jetzt der Fall ist, und trotzdem weiter von „Vernunft“ gesprochen wird, bedeutet dies, die Vernunft auf die Ebene des Verstandes „herabpotenzieren“. Faktisch ist das ein „Verkennen der Vernunft“[76]. Denn sie ist zwingend mit der „Vermittlung“, also mit dem Ganzen und den Teilen verbunden. Speziell an Schelling gerichtet, kommentiert er den Satz, dass „das Wahre … das Ganze“ ist. Er schreibt: „Es kommt nach meiner Einsicht … alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“[77]

Er sagt damit: Die Teile sind nicht Subjekt oder Prädikat, stehen sich nicht derart gegenüber, sondern sie sind je beides, weil sie zu einem „Ganzen gehören.

 

So sollte es gesehen werden. Doch hat jetzt die „Erhebung der vermeinten Natur über das misskannte Denken … die Form des Zwecks  überhaupt in Misskredit gebracht.“[78]

Die Scheidung des bisher Ungeschiedenen ist die Stunde der modernen Naturwissenschaften. „Sie setzt die ungeheure Macht des Negativen“ frei.[79]  Sie wird zur Quelle des analytischen Denkens. Denn nun, wo der Verstand seinen Sitz in der „produzierten“ Natur nimmt, hat er in dessen Gegenüber sein dauerhaftes Erkenntnisobjekt gefunden. Die Naturwissenschaften gehen voran. Sie erhalten gewaltigen Auftrieb. Ihre Aufgabe ist es, dem Verstand der anderen Natur auf die Spur zu kommen, ihre Gesetze zu erkunden. Freiheit der Wissenschaft und Gewerbefreiheit gegen Hand in Hand. Der theoretischen Eroberung der „primären“ Natur folgt deren praktische durch die moderne Produktion. Erst wird sie ausgekundschaftet, dann ausgeplündert. Und auf beiden Gebieten geht es gewaltig voran!

G. Lasson vor hundert Jahren kommentierend dazu:

Ohne diese „Herrschaft der Reflexion“  würden die „unerhörten Fortschritte, die unsere Zeit in der Beherrschung der Natur … gemacht hat, vielleicht gar nicht möglich gewesen sein.“[80]

Verständlich aus der Sicht dieser Fortschritte, dass der Philosophie abgesprochen wird, weiterhin für diese Natur „zuständig“ zu sein. F. Engels 1888: „Heute ist die Naturphilosophie endgültig beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, er wäre ein Rückschritt.“[81] Was früher Naturphilosophie war, wird jetzt zur „sogenannten Naturphilosophie“. Sie sei nicht mehr nötig, weil an die Stelle der von ihr hergestellten „ideellen“ und „phantastischen“, die Kenntnis der „wirklichen Zusammenhänge“ getreten sei.[82]

Aber ist das so? Wird diese Kritik dem Anliegen Hegels gerecht? Nicht, wenn man wie dieser vom Fortbestand des „Ganzen“ ausgeht. Hegel weigert sich also nicht grundlos „philosophische Fragen und Methoden nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theorien zu entwerfen“[83]. Die Wahrheit des Geometers eine andere ist als die des Philosophen.[84] Daran hat sich nichts geändert.

Das „Ganze“ ist in Gefahr. Und mit ihm das Wohl der „primären“ Natur, von der alles weitere Wohl abhängt. Wer könnte besser als die Philosophie diese Gefahr zur Sprache bringen? Es mag sein, dass große Teile dessen, was Hegel in den §§ 245-376 der „Enzyklopädie“ zu den  Gegenständen der Naturphilosophie zählt, besser bei den Naturwissenschaften aufgehoben ist. Aber das gilt, isoliert betrachtet, ebenso für die meisten Gegenstände der „Geist-Philosophie“. Die Philosophie des „Ganzen“ aber bleibt erhalten - zum Wohle beider Naturen. In diesem Rahmen bleiben beide Naturen weiterhin auch ihre Gegenstände. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass sie auch zum Gegenstand der Naturwissenschaften werden. Nur die Philosophie vermag die „primäre“ Natur als Subjekt zu sehen, das Rechte an uns hat, dem gegenüber wir also verpflichtet sind. Wer macht diese Rechte und diese Pflichten zum Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens, wer verschafft dieser Natur Gehör, wenn nicht sie?

Was für Marx/Engels und ebenso für ihre liberalen Gegenspieler in Ordnung geht, die Reduktion der Philosophie auf Gegenstände, die nur die „produzierte“ Natur betreffen, führt aus der Sicht Hegels zu „unvollkommene[n] Philosophien“[85]. Eine Zeit des Mangels an echter Philosophie bricht an, das Zeitalter der Ideologien.

 

7.                  Betrug und Selbstbetrug. Oder: Die Irrfahrt des Bewusstseins

Das frühere „Ganze“ war als Organismus sichtbar, hatte „Gestalt“ und war als solche im Bewusstsein widergespiegelt. Dieses sichtbare Ganze zerfällt. Es scheint so, als wäre mit ihm auch die „Einheit“ aus der Welt, die es gestiftet hatte. Und es scheint so, als sei an dessen Stelle ein neues „Ganzes“ getreten, die bürgerliche Gesellschaft. Und diese bestärkt das Bewusstsein darin; sie setzt ihm zu, immer wieder und solange, bis ihm „Hören und Sehen“[86] vergeht und es dem Schein Glauben schenkt. Aber wie Hegel erkennt und nicht müde wird, in immer neuen Wendungen vorzutragen: Das Bewusstsein irrt sich bzw. wird betrogen. Und weil es nicht imstande ist, den Betrug aufzuklären, wird dieser „fest“, wird fester Bestandteil des Bewusstseins.

Das Bewusstsein wird getäuscht und täuscht sich selbst. Ein Betrug und ein Selbstbetrug, den Hegel in der „Phänomenologie“ von allen Seiten beleuchtet. Er zeigt, wie dieses, zunächst orientierungslos gewordene, Bewusstsein nach einem neuen Halt sucht und ihn in der jetzt herrschend gewordenen „produzierten“ Natur zu finden meint. Aber da wird etwas bloß „falsch gewusst“[87]! Ist die „produzierte“ Natur das neue „Gemeinwesen“ oder maßt sie sich diese Stellung nur an? Und auf der Ebene der Einzelheit: Ist die „Person“ der neue oder nur der angemaßte neue Mensch? Haben wir das richtige Wissen von uns selbst? Leiden wir an einem gefährlichen Größenwahn?

Bereits in der „Vorrede“ beschreibt Hegel die Auswirkungen des Zerfalls des ursprünglichen Ganzen auf das menschliche Bewusstsein. Das „einfache“ oder „geistlose“ Bewusstsein dockt an die „einfache Unmittelbarkeit“ an, die aus diesem Zerfall hervorgeht. Es nimmt diese „einfachen Unmittelbarkeiten“[88] als die neuen „Ganzen“. Die „erste Negation“ des Ganzen und deren Ergebnis, die jetzt bloß gelegten Teile, werden als „unbegriffene Unmittelbarkeit“ vom Bewusstsein reflektiert, gehen als solche „in die Vorstellung“ über.[89] Das „Ganze“ wird damit dem Bewusstsein als Summe seiner Teile, als „unechtes“ Ganze“, bekannt. Und es wird dauern, ehe dieser Irrtum korrigiert wird.[90] Noch dazu, wenn es Kräfte gibt, die dieses Aufschließen des Bewusstseins zum (neuen) Ganzen dauerhaft zu  verhindern suchen.

Das Unmittelbare, das Sichtbare, das Dinghafte gewinnt das Rennen – und zwar jene von ihnen, die  „herausfallen“ aus dem Gewohnten[91], vorzugsweise jene, die sich mit dem Glücksversprechen der jetzt zur Herrschaft gelangten Natur verbinden. Die Dinge sind er Maßstab, nicht die Dinge hinter den Dingen. Nur sie werfen einen Schatten, der vom Bewusstsein reflektiert wird. Was unsichtbar ist, das Wesen, der Prozess, bleibt unreflektiert. Hegel verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die vonstatten gehende „Aufhebung“[92]. Sieht man es dinghaft, so hat die neue Welt auf Seiten der „produzierten“ Natur unzweifelhaft mehr zu bieten als die alte. Dass die Bereicherung dieser Natur zur Entreicherung der anderen führt, wird in Kauf genommen und aus dem Bewusstsein verdrängt.[93]

Wenn die „Dinge“ in den Vordergrund gestellt sind, hat das zur Folge, dass die Tragweite der Veränderung einerseits hervorgehoben, zum anderen aber herabgesetzt wird. Das Neue wird an den neuen Dingen fest gemacht; diese schieben sich in den Vordergrund. Sie sind der Köder, der das Bewusstsein korrumpiert.

 „Aber das sittliche Wesen hat sich selbst in zwei Gesetze gespalten, und das Bewusstsein als unentzweites Verhalten zum Gesetze, ist nur einem zugeteilt.“[94]

Der Grund:

Das Bewusstsein ist „einfaches sittliches Bewusstsein“ und als solches „hat es sich dem einen Gesetze zugewandt, dem anderen aber abgesagt und verletzt dieses durch seine Tat.“[95]

Zugesagt haben wir damit ein Handeln für die „produzierte“ und gegen die „primäre“ Natur. Die „Schuld“ kommt in die Welt, unsere Schuld gegenüber der „primären“ Natur. Aber wir können uns nicht erlauben, unschuldig zu sein, denn: „Unschuldig ist … nur das Nichttun“[96].

Immer wieder kommt Hegel darauf zurück: Bisher hat das Bewusstsein das alte „Ganze“ widergespiegelt. Jetzt aber, nach dessen Zerfall, wird es, aus seinem früheren Koordinatensystem gerissen, ein halt- und zielloses Bewusstsein; ein Bewusstsein, das, auf der Suche nach einem neuen Halt, zwischen den Fronten und in den Trümmern des Alten herumirrt.  Dann dies: die „produzierte“ Natur schiebt sich in den Vordergrund. Sie übernimmt nicht nur die Vorherrschaft, sondern geriert sich überhaupt als die einzige Natur, als das neue Ganze. Und sie tut alles, damit diese Anmaßung im Bewusstsein ihrer Mitglieder Fuß fasst und dort zu ihrem Selbstbewusstsein wird. Und das gelingt auch. Bald zweifelt das Bewusstsein nicht mehr daran, dass die „produzierte“ Natur das neue Ganze ist. Streit gibt es nur noch um deren Binnenorganisation. Ideologien kommen auf, die einzelne „Bestimmtheiten“ – „Volk“, „Proletariat“ – in den Mittelpunkt stellen. Streit kommt auf, ob die „produzierte“ Natur kapitalistisch oder sozialistisch organisiert, ob sie als bürgerliche Demokratie oder „Diktatur des Proletariats“ verfasst werden sollte. Unser ausbeuterisches Verhältnis zur „primären“ Natur bleibt von diesem Streit weitgehend unberührt. Aber wenn auch alle oder jedenfalls fast alle so denken: Da werden „mathematische Wahrheiten“[97] an die Stelle der philosophischen Wahrheit gesetzt.

Wir stehen vor dem „Endsieg“ des falschen Bewusstseins. Es macht uns über zwei Jahrhunderte blind für die Gefahren, die von dem jetzigen Scheinganzen ausgehen. Das „sittliche Wesen“ spaltet sich auf: in „zwei Gesetze“, in ein „menschliches Recht“[98] der Gerechtigkeit und in ein, jetzt tonangebendes, „Recht der Gleichheit“. Das Bewusstsein aber ist parteiisch. Es vollzieht diese Teilung und Entgegensetzung nicht mit, es ist nur einem Gesetz und einem Recht „zugeteilt“ und spiegelt daher weiterhin ein „unentzweites Verhalten zum Gesetze“ ab.[99]

Das Bewusstsein bewegt sich „im ruhigeren Bette des gesunden Menschenverstandes“, dem die „trivialen Wahrheiten“ die liebsten und einleuchtenden Wahrheiten sind.[100] Und dieses „gemeine“ Bewusstsein, wie er es im Unterschied zum „philosophischen“ bezeichnet[101], wird darin leider von all zu vielen Kollegen – Hegel wendet sich gegen die Vertreter des Skeptizismus – bestärkt. Philosophien kommen auf, „die eins mit dem [diesem] Bewusstsein“[102] sind. Die Reflexion der Dinge wird zur „Reflexionskultur“ gesteigert, zur „Kultur des gemeinen Menschenverstandes“[103]. Sie tragen so dazu bei, diesen „gesunden Menschenverstand“ hoffähig zu machen. Sie ersparen damit sich und ihm die Anstrengung des Begriffs, also das Weiterdenken des angeblichen Nichts zur neuen Gestalt. Dienstleister der „produzierten“ Natur zu sein, lautet der indirekte Vorwurf gegen diese Kollegen. Sie lassen sich dafür bezahlen, diese Natur auf „wissenschaftliche“ Art dem Bewusstsein selbst jener Zeitgenossen als die einzige Natur schmackhaft zu machen, die nur „gutmütigerweise“ den Schein für die Wirklichkeit nehmen.[104]

Aber, sagt Hegel zum „sogenannten gesunden Menschenverstand: „er, der sich für das gediegene reale Bewusstsein nimmt“ …, er ist überhaupt immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu sein meint.“[105] Er irrlichtert zwischen den „Dingen“ umher, verliert sich „in ihrem wirbelnden Kreise“[106], täuscht sich und lässt sich täuschen.

Die „produzierte“ Natur siegt über das Bewusstsein. Sie ist dem Individuum nun das „Ganze“. Sie zeigt sich in ihm/an ihm „in der Gestalt des Wollens, als Triebe und Neigungen.“ Sie ist für sich gesehen eine „eigene bestimmte Wesenheit“ des Menschen. Diese Natur ist der anderen Natur, die ebenso sehr die Seinige ist, entgegengesetzt. Aber das macht diese Natur dem Bewusstsein vergessen.

Beide Naturseiten im Menschen „sind an sich ein Bewusstsein“, was heißt, dass das Bewusstsein sich des Gegensatzes bewusst ist. Logisch wäre nun, dass der Gegensatz „bewusstseinsmäßig“ zu einer Einheit fortgeführt würde, die aus dem „gewussten Gegensatze beider hervorgeht.“ Indes:

„Diese Einheit ist … ein postuliertes Sein; sie ist nicht da“. Die Erwartung, dass aus dem „Widerstreit der Vernunft und der Sinnlichkeit … die Einheit beider hervorgehe“, erfüllt sich nicht.[107] Eine Erkenntnis, die uns zeigt, welche unwiderstehliche Anziehungskraft die „produzierte“ Natur und das von ihr verheißene Glück haben. Anders herum: wie wenig attraktiv uns deswegen eine Vernunft vorkommt, die uns zum Verzicht auf so manches Glücksgut, auf so manchen Spaß auffordert. Bestenfalls wird die Notwendigkeit der Einheit verbal anerkannt, aber nur, um die „Vollendung derselben … ins Unendliche hinauszuschieben“[108]. Eine Vielzahl von uns ist breit einzusehen, dass Handeln gefordert ist. Die gleiche Vielzahl ist jedoch geneigt, dieses Handeln in die „dunkle Ferne der Unendlichkeit zu schieben“[109].

Das Bewusstsein wird getäuscht und lässt sich täuschen. Es nimmt nur das Seiende, das Unmittelbare zur Kenntnis und nimmt für bare Münze, wenn dieses sich als „Ganzes“ geriert. Der Mensch des „gesunden Menschenverstandes“, der Normalbürger, durchschaut nicht, wo sich das Wesentliche mit dem Unwesentlichen verknüpft, er unterliegt dem „Spiel dieser Abstraktionen“ und ist am Ende „immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu sein meint.“[110]

Das Vorstehende zusammengefasst: das Bewusstsein ist „in Ungleichheit mit seiner Substanz.“[111] Es spiegelt die Aufspaltung in „zwei Welten“ und die  jetzige „Umkehrung“ der Machtverhältnisse falsch oder überhaupt nicht ab.

 

8.                  „Der Rechtszustand“

            (Derivate der „produzierten“ Natur: Recht und Person)

Mit dem Zerfall des „Ganzen“ ist auch das vormalige System der Sittlichkeit gesprengt. Zum einen geht es „in der formalen Allgemeinheit des Rechts unter.“[112] Zum anderen wird es zur „Moralität“. Parallel dazu „zerfällt“ auf der Ebene der Einzelheit der bisherige „Einheitsmensch“ in „Person“ und „Subjekt“. Dominierend im Aktionsfeld der „Person“: die „Geschäftsbeziehung“; formalisiert und institutionalisiert im „Rechtszustand“.

Der „Rechtszustand“. Es ist nicht sonderlich begeisternd, was unter dieser Rubrik zu lesen ist. Wo das Recht regiert, bekommen wir als erstes gesagt, ist der „Geist“ nicht zuhause.[113] Das Recht gehört dem „geistlosen Gemeinwesen“ an. Es ist das magere Surrogat, dass uns nach dem Zerfall des „Ganzen“, hier: der „Sittlichkeit“, verbleibt. Es bezieht sich auf den „dinghaft“ gewordenen, auf den in die „produzierte“ Natur eingemeindeten, den zu ihrem Zubehör gewordenen, Menschen; auf die „Person“.

Das Recht tritt zusammen mit der „produzierten“ Natur ins Leben. Es dient dazu, den Zusammenhang der arbeitsteilig produzierten und auszutauschenden Produkte herzustellen. Zu „Lebzeiten“ des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens ist es eingebettet in die übergreifende Einheit der beiden Naturen. Es ist damals Sittlichkeit bzw. – in der Diktion der „Phänomenologie“ – „menschliches Recht“. Mit dem Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens tritt eine „zweite Natur“ zutage; wird frei. Ihre jetzige Freiheit wird von allem, was mit ihr in Verbindung steht, geteilt, auch vom Recht und seinen Subjekten. Folglich lesen wir in § 4 R, „dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit … ist.“ Ein der Sittlichkeit entrissenes „abstraktes“ Recht kommt auf. Und mit der „Person“ ein ebenso dem ganzen Menschen entrissener und ihm gegenüber verselbständigter „abstrakter“ Mensch.

Wer sich ganz auf die Seite der „produzierten“ Natur stellt, auf die Seite ihrer Freiheit, ist hiervon begeistert. Nicht so Hegel. Er sieht, dass diesem Gewinn ein schwerwiegender Verlust zur Seite steht; der Verlust des Ganzen und damit: des Menschen. Erreicht ist nur eine „erste Weise der Freiheit“. Bleibt es dabei, ist jetzt die Person „in einem das  Hohe und das ganz Niedrige“[114].  

Das „Ganze“ auf der Ebene der Einzelheit ist der Mensch. Er verkörpert die Einheit der zwei, einst nur „verschiedenen“, jetzt aber „entgegengesetzten“, Naturen. Deshalb gilt für ihn, was auch für das „Gemeinwesen“ nach dessen Zerfall gilt: „Die allgemeine Einheit, in welche die lebendige unmittelbare Einheit der Individualität und der Substanz zurückgeht, ist das geistlose Gemeinwesen, das aufgehört hat, die selbstbewusste Substanz der Individuen zu sein“[115]. Der Mensch teilt die „Halbierung“, die auch eine „Entgeistung“, eine Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Doch was an sich ein „schmerzerregendes Wegschneiden eines wesentlichen Stückes von der Vollständigkeit des Ganzen“[116] ist und so empfunden werden sollte, wird übertönt und verdrängt durch das Glück der Dinge und die es flankierende Glückseligkeitslehre.

Dort statt „Gemeinwesen“ nun bürgerliche Gesellschaft, hier statt „Mensch“ nun „Person“.

Indem die „Person“ sich abschottet vom „Ganzen“ und vom anderen Teil, indem sie alles verdrängt, was sie mit ihnen verbindet, wird die Person „Meister“ über den „Gegensatz des Bewusstseins“, der sie an die frühere „Einheit“ erinnert. Diese „höchste Abstraktion“: die Reduktion des Menschen auf „Geist“, auf „tätigen Willen“, diese „vollendete Entfremdung“, verdeckt, dass jetzt der Mensch verloren gegangen ist, ja wird zur Grundlage, diesen Verlust in einen Gewinn umzuinterpretieren.[117] Es ist also nichts Großartiges, „Person“ zu sein. Ihr Recht ist „weder an ein reicheres oder mächtigeres Dasein des Individuums als eines solchen noch auch an einen allgemeinen lebendigen Geist geknüpft“[118]. Sie ist um jenen „geistlosen Punkt“ zentriert, der jetzt „Herr der Welt“ ist[119], um die „produzierte“ Natur. Sie bezeichnet jenen Menschen, der sich dieser Natur unterworfen hat und ihren „Glücksgütern“ nachjagt, einen Menschen also, der notwendig ist und der sich dazu hergibt, die Welt toter Dinge „lebendig“ zu machen. So gesehen ist es eher ein „Ausdruck der Verachtung“, „ein Individuum als eine Person [zu] bezeichnen“[120].

Die „Person“ ist „aus dem Leben der sittlichen Substanz herausgetreten“[121]. Sie ist als halbierter Mensch „gestorbener Geist“[122], der seine „Substanz und Erfüllung“[123] außerhalb der sittlichen Welt, also außerhalb des Natur-Ganzen hat. Sie sieht ihren Zweck in der ungehinderten Aneignung der „primären“ Natur. Diesem Zweck steht ein Recht zur Seite, dass hauptsächlich „auf die Beschützung dessen [abzielt], was ich habe“[124], mich aber gegenüber der „primären“ Natur entpflichtet. Ein Recht, dass mich darin bestärkt, die „primäre“ Natur auszubeuten und mir dabei die nötige Rückendeckung gibt. Das Recht eines „bloß beschränkten Kreises“.[125] 

Weil aber das sittliche Recht die Einheit von Recht und Pflicht war und der Schein dieser Einheit fortbestehen soll, macht sich eine, wie N. Luhmann formuliert, „Umkontextierung“[126] des Rechts erforderlich. Ihre Aufgabe ist es, die zutage getretene „Uneinheit“, diese Paradoxie, aus dem Weg zu räumen. Um der Logik zu genügen, wird in einem Vorgang, den Luhmann als „Entparadoxierung“ bezeichnet, auch dieses neue Recht in eine „Einheit“ umgeformt. Diese ist aber nicht mehr die Einheit von Recht und Pflicht, sondern die Einheit von Recht und Unrecht. Als solche wird sie der vormaligen Einheit gleichgestellt, obwohl ihre Inhalte grundverschieden sind.

Mit der „Person“ und mit diesem Recht sind damit Schein-Ganze geschaffen, die den anderen, aus dem Zerfall des „Ganzen“ hervorgehenden, Schein-Ganzen zur Seite treten. 

War das nach Art des Organismus organisierte Ganze auf seinen Bestand programmiert, betrachtete das Ganze jedes Teil als Teil von sich selbst, ändert sich jetzt die Sachlage grundlegend: Das angemaßte „Ganze“ behandelt das andere Teil als seinen Gegenüber, als Feind oder – aus ökonomischer Sicht – als Objekt der Ausbeutung, als Rohstoffquelle. Und herrschte früher ein vom echten Ganzen überwachter und durchgesetzter  Gerechtigkeitszustand, ist dieser jetzt durch den „Rechtszustand“ ersetzt.  Während ersterer bedeutet, dass sich Rechte und Pflichten auf jeder Seite die Waage halten, führt letzterer dazu, dass nun alle Rechte der „produzierten“ Natur zustehen, während die Pflichten der „primären“ Natur zugeteilt sind.[127] Das pflichtlose Recht und die rechtlose Pflicht kommen auf.[128] Was in der Antike als Sklaverei auf den Menschen beschränkt war, wird jetzt im großen Stil betrieben: die Versklavung der „primären“ Natur. Allenfalls noch mein Gewissen, nicht das Recht, gebietet mir jetzt noch, mich gerecht der „primären“ Natur gegenüber zu verhalten.

Der jetzige Rechtsbegriff sagt der Person:

Du tust Recht daran, die „primäre“ Natur anzueignen. Unrecht aber ist es, wenn Du einer anderen Person das Angeeignete streitig machst, indem Du dich als Dieb, Räuber oder Betrüger betätigst.

Naturaneignung – ja! „Umverteilung“ dieser Art – nein!

Dem Recht Genüge getan ist nur mit der Umverteilung durch Austausch.

So zu verstehen ist die Aussage des § 39 R: Die Person verhält sich zur anderen Person austauschend, zur „vorgefundenen Natur“ jedoch ausbeutend. Im nachfolgenden § 40 präzisiert er und unterscheidet folgende Formen des Eigentumserwerbs:

-                     Durch Aneignung (Stoffwechsel); das mittels Arbeit Angeeignete verbleibt beim  Aneignenden. Das Angeeignete wird unmittelbar zu Eigentum.

-                     Durch Austausch; in diesem Fall wird das mittels „Stoffwechsel“ Angeeignete für den Aneignenden nur Besitz. Es ist nicht für ihn selbst bestimmt, sondern für Dritte. Die ökonomische und juristische Gegenseitigkeit wird beschrieben: Jeder erlangt das Produkt des anderen. Mittels des Vertrages gelangt das Angeeignete in die Hand derer, die es brauchen. Ein Auseinanderfall von Aneignung/Aneignenden und Eigentum/Eigentümer, der in der warenproduzierenden Gesellschaft zum Generalfall des Eigentumserwerbs wird.

-                     Dadurch, dass Ich Unrecht begehe. In solchen Fällen bringe Ich das gemäß a Angeeignete unter Aussparung des unter b geschilderten Austausches an mich – durch „Unrecht und Verbrechen“.

Erwerb von Eigentum. Einmal auf direkte und zum anderen, vermittelt durch den Vertrag, auf  indirekte Art.

Kunstwesen „Person“:

Mit ihr ist die dem „naturwüchsigen“ Gemeinwesen zugehörige Unterscheidung und Einteilung der Menschen in Freie und Sklaven und auch die nach ethnischen und religiösen Merkmalen, ein Ende gesetzt. Jeder Mensch ist jetzt als Person „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“.[129] Alles Kreatürliche ist daraus getilgt; sie ist die Hülle, die das ökonomische Substrat des Menschen umschließt. Sie ist „Wille“, „Plan“ und Plandurchführung. Gleichheit zieht ein. Aber auf dem niedrigen Niveau unterhalb des Menschen.

Aus der Sicht der „produzierten“ Natur ist es das größte Manko, dass die „Personen“, über die sie handelt, durch ihre Leiblichkeit Teil auch der anderen Natur sind. Das macht sie sterblich, wo sie unsterblich, dass macht sie schwach, wo sie stark sein sollten. Aus dieser Sicht ist die „Person“ eine einzige Unzulänglichkeit.

Schwachpunkt „Leiblichkeit“: Bisher war sie hinzunehmen. Aber jetzt besteht Hoffnung. Stichwort KI, künstliche Intelligenz. Längst beobachten wir einen Wetteifer zwischen Mensch und Roboter. Wer von ihnen ist leistungsfähiger, wer von ihnen ist der Mensch der Zukunft? Im Alltagsleben begegnet er uns vorerst nur als Servier- oder Putzkraft. Aber schon ist er für das Militär der bessere Krieger. Er gewinnt die Schlachten der Zukunft. Und in der Industrie hat er längst gezeigt, dass er der bessere und billigere Arbeiter ist. Die optimale Arbeitskraft. Man denke nur an die ständig steigenden Kosten wegen Krankheit, Invalidität und Altersvorsorge, die mit ihm erspart werden können. Und von Roboter-Generation zu Roboter-Generation wird seine Überlegenheit deutlicher.

Aus dieser Sicht – und das ist die maßgebliche Sichtweise - ist der Roboter das ideale Individuum der „produzierten“ Natur. Aber ist er das als „Sklave“ oder als „Person“? Wann wird er einbezogen in den Gender-Mainstreaming, wann wird er ein Geschlecht bekommen, wann heiraten dürfen?

 

9.      Moralität

Mit der Einhegung des Rechts auf die Binnenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft ist die Pflicht aus dem Rechtsbegriff der Moderne verbannt; die Pflicht der Natur gegenüber. Rechtlich gesehen, sind wir ihr zu nichts verpflichtet. Andererseits ist es nicht verboten, ihr Freund zu sein, auch nicht, ihr zu helfen. Letzteres jedenfalls solange nicht, wie es sich um Natur handelt, die noch nicht zu Privateigentum gemacht worden ist.

Wir sind bei der Moralität.

Was Hegel uns in der „Phänomenologie“ zu ihr zu sagen hat, löst bis heute „ungewöhnliche Ratlosigkeit“ aus.[130] Ratlosigkeit in dem Sinne, dass es für den Leser schwer ist, diesen Ausführungen etwas bleibend Nützliches, etwas Positives zu entnehmen. Aber um es vorab mit den Worten Chr. Halbigs zu sagen: Was dort geschrieben steht, ist „nicht so schlecht, dass [es] nur einer geistesgeschichtlichen Rekonstruktion zugänglich ist, sondern … so überzeugend, dass [es] erneute Beachtung von Seiten der systematischen philosophischen Forschung verdient.“[131]

„Ratlos“ macht uns – so sehe ich es -, dass die Moralität, die uns Hegel vorstellt, nicht oder kaum mit einem Handeln verknüpft ist. Geschildert wird gewissermaßen eine „untätige“ Moral, eine Moralität des Nichtstuns. Aber dafür hat Hegel eine Erklärung. Alles menschliche Handeln ist mehr oder weniger deutlich bzw. direkt gegen die „primäre“ Natur gerichtet. Ihr müssen wir unser tägliches Brot abringen. Ein tägliches Handeln, ein täglicher Kampf, eine tägliche Plackerei. Dieses Handeln ist „sittlich“, solange wir die Natur damit nicht überfordern. Mit dem Wechsel der Vorherrschaft auf die „produzierte“ Natur ändert sich das. Die Gier dieser Natur nach Wachstum für sich und ihre Mitglieder verselbständigt sich, sie steigert sich zum Raubbau an ihrem Gegenüber. Unser Handeln wird, wenn man es vom „Ganzen“ her sieht, „unsittlich“. Aber das „Ganze“ kann nicht mehr eingreifen. Es ist jetzt aus dem Feld geschlagen. Und mit ihm die Sittlichkeit. An ihre Stelle sind getreten: die „produzierte“ Natur und ihr Recht. Und dieses Recht legitimiert unser Tun. Mag unser Handeln auch unsittlich sein, unrechtlich ist es jedenfalls nicht.

Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, lautet dahin: Die Moralität kennt kein Handeln. Sie verbindet sich größtenteils mit Nichtstun.

Und das ist es wohl, was uns an den Aussagen Hegels hierzu nicht gefällt. Dieses Nichtstun passt nicht in unser Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer handelnden Personen. Denn Handeln ist doch ein Grundelement jeder, besonders aber der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Frage aber ist: Zu welchem Zweck, auf welcher Seite wird gehandelt? Und da ist es doch so, dass sich das in „Person“ und „Subjekt“ aufgeteilte Individuum vor die „beiden extremen Endzwecke“[132] gestellt sieht. Zum einen gilt es im Interesse der einen Natur, zum anderen gilt es im Interesse der anderen Natur zu handeln. Zwei sich gegenseitig ausschließende Zwecke, die eine „Disharmonie der Moralität und Glückseligkeit“[133] nach sich zieht. Denn wie soll ein solches Handeln praktiziert werden – jetzt, wo die „produzierte“ Natur und ihr Zweck das Sagen haben und das Verhalten des Einzelnen von der Erfahrung bestimmt wird, „dass es dem Moralischen oft schlecht, dem Unmoralischen hingegen oft glücklich gehe“?[134]

Natürlich ist es so: „Das wirkliche moralische Bewusstsein aber ist ein handelndes.“[135] Das Nicht-Handeln zeigt lediglich die Kluft zwischen Soll- und Ist- Zustand an bzw. den „Zwischenzustand der Nichtvollendung“[136]. Das wirft die Frage auf, wohin dieser Zustand tendiert. Hegel spricht von einem „Fortschreiten“ in der Weise des „Abnehmens“. Abnehmen kann die Moralität einmal durch ein Zubewegen auf die „Sittlichkeit“, zum anderen durch Zubewegen auf den „Rechtszustand“. Beide Male ist dieses Fortschreiten der Moralität „ein Zugehen zum Untergang derselben.“[137] Selbstverständlich ist es nicht gleichgültig, von wem die Moralität letztlich konsumiert wird, von der „Sittlichkeit“ oder vom „Rechtszustand“. Im zweiten Fall – und das ist der Fall, der ja auch eingetreten ist – ist die „primäre“ Natur dem Treiben der „produzierten“ schutzlos ausgesetzt.

Handeln war früher „sittliches“ und ist jetzt – unter dem Regiment der bürgerlichen Gesellschaft -„rechtliches“ Handeln. Es wird vom Zweck der „produzierten“ Natur dominiert. Verweigern wir uns ihm, versagt diese Natur uns ihre Glücksgüter. Wer will das riskieren, wer kann sich das leisten? Die Stunde der Moral schlägt deshalb erst nach Feierabend.[138] Aber auch nur, wenn uns danach zumute ist oder wenn uns am Bildschirm das Elend der Natur gezeigt wird. Ja, dann macht uns traurig, was wir zu sehen bekommen. Und wir wünschen ihr von Herzen alles Gute. Aber Handeln?

Durchaus nennenswert ist die Anzahl unserer Superreichen, denen angesichts der „Tragödie im Sittlichen“ das Gewissen schlägt. Sie sponsern daher einen Teil ihrer durch Ausbeutung der Natur erwirtschafteten oder ererbten Vermögen, um ihr Gutes zu tun. Sie tragen „grüne“ Kleidung und sie essen viel Grünzeug. Tätige Reue, die sich als tätige Moralität auszuweisen sucht. Und aus der Kammerdienerperspektive scheint dieser Menschenschlag daher auch der Prototyp des Naturfreundes zu sein - weit voraus jener Masse, die sich ein ökologisch korrektes Dasein oder solche Naturliebhaberei nicht leisten kann, weil sie vom „Glück“ der bürgerlichen Gesellschaft so kurz gehalten wird, dass das Bißchen, das davon auf sie entfällt, gerade reicht, um über die Runden zu kommen.

Ja, so ist die Moralität: „ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche“[139]! Eine Sphäre voller Scheinheiligkeit, frommer Sprüche, leerer Versprechungen, weniger Taten. Kurz: Sie ist ein Stapelplatz aller Widersprüche, die sich aus dem Gegenüber der beiden Naturen und dem Fehlen des „Ganzen“ ergeben. Der Widerspruch zwischen der durchaus vorhandenen Einsicht, dass sich die Natur in existentieller Not befindet, einerseits, und dem Zwang, der „produzierten“ Natur Folge zu leisten andererseits. Ein Widerspruch, der allenfalls zum Reden verführt, aber nicht zum Handeln.

Hegel zusammenfassend: Stellen wir alle diese „Für“ und „Wider“ „zusammen, so erhellt, dass es jedes wieder in seinem Gegenteile aufhebt.“[140]

10.  Und wie weiter?

Es läuft abgrundtief falsch. Aber bis heute wird der Weg, auf dem wir uns befinden, nicht prinzipiell in Frage gestellt. Wir befahren eine Sackgasse, sehen aber deren Ende nicht, weil unser Blick den Glücksgütern gilt, die an ihren Rändern gestapelt sind.

Wir wollen nicht glauben, dass ein Systemfehler vorliegt. Vielleicht können wir es auch nicht. Nach wie herrscht die Meinung vor, dass wir die Krise unserer Umwelt mit den Instrumentarien der bürgerlichen Gesellschaft in den Griff bekommen können. Mit den prinzipiell gleichen Mitteln und Methoden also, die uns erst dorthin gebracht haben, wo wir heute sind. Mit welch froher Erwartung erfüllt es nicht wenige und einflussreiche Zeitgenossen, wenn sie sehen, dass die Arktis in naher Zukunft eisfrei sein wird. Land in der Größe eines ganzen Kontinents wird zugänglich und wird Objekt zügelloser Ausbeutung werden. Überhaupt: Das Kapital hat längst entdeckt, dass es an Katastrophen bestens verdienen kann.[141] Die Corona-Krise ist ein aktuelles Beispiel hierfür. Traumhaft, diese Zuwächse! Elektrisierend, diese Kurssprünge! Und was ist Corona schon, gemessen an der Umweltkrise.

Sicher, wir haben viel erreicht. Und trotzdem stehen wir jetzt vor dem Abgrund. Oder gerade deswegen. Man ist an die Titanic erinnert: Mit Volldampf voraus. Mit stolz geschwellter Brust auf den Abgrund zu.

Wir haben es weit gebracht. In den letzten 200 Jahren jedenfalls weiter als alle Menschheit vor uns. 200 Jahre sind, gemessen an den 4 Milliarden Jahren Erdgeschichte eine Winzigkeit, die eher dem göttlichen Schöpfungstempo als dem natürlichen nahe steht. Aber wir sind nicht Gott; von ihm unterscheiden wir uns wie das Teil vom Ganzen. Das schlimmste aber ist, das wir scheinbar unbelehrbar sind. Die Schöpfung ist in Not. Aber vor unseren Augen führt sich ein Kapitalismus auf, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Es scheint so, als sei er zum Endspurt angetreten, zum totalen Krieg gegen die Natur. Die Umsätze und die Gewinne sind auf Rekordhöhe. Ebenso die Ungleichverteilung des der Natur abgerungenen Reichtums. Nicht mehr lange und die Welt wird erfahren, dass der erste Dollar-Billionär geboren ist.

Aktueller denn je die Warnung Hegels, „dass die Gewerbefreiheit nicht von der Art sein [darf], dass das allgemeine Beste in Gefahr kommt.“[142]

Steuert die „Weltgeschichte“ auf das „Weltgericht“[143] zu? Zwei hundert Jahre lang haben wir gegen die „primäre“ Natur gearbeitet, haben ihr unser „Glück“ abgerungen, ohne zu bezahlen. Jetzt, im dritten Jahrhundert, so scheint es, wird uns die Rechnung präsentiert.

Februar 2022

 

 

 

 

 

 



[1] § 39 R.

[2] Zum Geschichtsbild Hegels: „System“ – das Geschichtsbild Hegels – auf dieser Plattform. 

[3] Dass dieser Wandel zusammenfällt mit dem Übergang von einer Klassengesellschaft zur nächsten,  ist nicht das Thema Hegels, obwohl die soziale Frage, die sich damit verbindet, auch für ihn ein Schwerpunkt seiner praktischen Philosophie wird.

[4] Phän, MM 3, S.18.

[5] Phän, S. 18,19,23.

[6] ausführlich dazu: Der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ in Kleinfamilie und Unternehmung in der Wahrnehmung O. v. Gierkes und K. Marx‘ – auf dieser Plattform.

[7] NR, S. 491.

[8] LS, S. 505.

[9] Siehe auch § 24/3. Zusatz E (MM 8, S. 88ff.), wo er das Thema unter den Stichworten „Mythos vom Sündenfall“ und „Erbsünde“ behandelt!

[10] § 4 R.

[11] Vgl. L (B), S. 39.

[12] Vgl. Phän, S. 327.

[13] Phän, S. 342

[14] Phän, S. 327.

[15] L(W), S. 3.

[16] siehe dazu: Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen – auf dieser Plattform.

[17] Phän, S. 28.

[18] Dort stößt er zur Erkenntnis vor, dass dieses „gestaltlose“ Sein nur durch unser Zutun zur Gestalt, zur „Vernunftgestalt“, gelangt. Bleibt unser Zutun aus, bleibt der Prozess, der vom „naturwüchsigen“ zum „vernünftigen“ Gemeinwesen führt auf halber Strecke, nämlich beim „Zerfall“ hängen.

[19] Phän, S. 329 – Hervorhebung bei H. Sechs Jahre später, in der „Wesenslogik“ ist die gleiche Aussage in die Worte gefasst: „Das Wesen hat noch kein Dasein; aber es ist“. (L[W], S. 136).

[20] Phän, S. 28.

[21] Es ist das Verdienst M. Quantes (Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011) diese mehreren Bedeutungen in, man kann sagen: minutiöser Kleinarbeit, herausgearbeitet zu haben.

[22] Phän, S. 19 u. 24.

[23] Aus der Sicht F. Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft): damit ist der nicht reversible Übergang von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ erfolgt.

[24] So im Zusatz zu § 182 R!

[25] Phän, S. 354.

[26] Siehe dazu: Phän., S. 107 ff.

[27] L(B), S. 39.

[28] Phän. S. 114.

[29] Phän, S. 458.

[30] L(W), S. 42.

[31] NR, S. 517.

[32] Ebd.

[33] Es ist also kein historischer Zufall, dass jetzt ein Savigny im klassischen, unverfälschten römischen Recht, im Recht einer Sklavenhaltergesellschaft,  das Recht der modernen Gesellschaft zu erkennen meint. Jedenfalls ist ihm darin zuzustimmen, dass es besser zu ihr passt als das aus der Rezeption hervorgehende römisch-feudale Mischrecht.

[34] Phän, S. 355f.

[35] Ebd., S. 356 - Hervorhebung. bei H.

[36] In Gegenden Nordfrankreichs, die weniger von der Rezeption des römischen Rechts erfasst waren als die südlichen Teile, wurde im Mittelalter Tieren, die sich am Eigentum der Menschen „vergangen“ hatten, der Prozess gemacht. Damit ist mit Einführung des römischen Rechts Schluss. Das Tier ist seither „Sache“ und als solche weder aktiv- noch passivlegitimiert. Mochten diese Prozesse auch alle zu Ungunsten des „kriminell“ gewordenen Fuchses, Wolfes oder Bären ausgegangen sein, so zeigen sie uns Heutigen doch ein respektvolleres Verhältnis der damaligen Menschen zur „primären“ Natur an.

[37] Phän, S. 94.

[38] Ein weiterer, wenn nicht der, Schlüsselbegriff, den Hegel bei der Erarbeitung der „Phänomenologie“ entdeckt. Ausführlich dargestellt ist er in der „Wesenslogik“, dort wo das Verhältnis des Ganzen und der Teile abgehandelt ist. Die „Rechtsphilosophie“ des Jahres 1821 kann als die „Übersetzung“ dieses Begriffes ins Praktisch-Philosophische bezeichnet werden. Man sehe sich den Zusatz zu §141 R an. Der dortige Satz: „Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben“, lautet ins „Wesenslogische“ übersetzt: Die Teile können nicht für sich existieren. Sie müssen das Ganze zum Träger und als Grundlage haben. (Siehe dazu: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, a.a.O., S. 51f.

[39] Phän, S. 94.

[40] Mahnungen, „die der Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sicheres Ende“ vorhersagten, galten F. Engels als ein „konservativer Vorbehalt“. (MEW 21, S. 268).

[41] W. Schuffenhauer, Feuerbach und der junge Marx. Zur Entstehungsgeschichte der marxistischen Weltanschauung, Berlin 1965, S. 56.

[42] § 236/A/Z R.

[43] Phän, S. 25.

[44] Phän, S. 25.

[45] Phän, S. 340.

[46] G. Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied u. Berlin 1971, S. 103.

[47] Ebd. – Hervorhebung von mir.

[48] Phän, S. 23.

[49] G. Haney, Dialektik von Staat und Gesellschaft, HJ 1975, S. 158-164 (S. 161).

[50] Lukacs, Zur Ontologie, S. 105f.

[51] Phän, S. 23.

[52] Phän, S. 353.

[53] § 236 R.

[54] Phän, S. 341.

[55] Der Begriff wurde von G. Lübbe-Wolff (Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.): Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 330) geprägt.

[56] Siehe dazu: Hegel und England – auf dieser Plattform.

[57] §  183 R. Siehe dazu: Der Not- und Verstandesstaat hier auf dieser Plattform.

[58] Ebd, S. 341.

[59] LS, S. 507.

[60] LS – hier zitiert bei Rolf K. Hocevar, Der Anteil Gentz‘ und Hegels an der Perhorreszierung der Repräsentativverfassung in Deutschland, ARSP Vol. 1966, S. 117-133 (S. 122).

[61] LS, S. 506/507.

[62] LS, S. 506.

[63] LS, S. 530. Nur „Heerführer der Seichtigkeit“ wie  J.F. Fries können darauf eine Staatsverfassung stützen wollen – wie Hegel in der Vorrede zur „Rechtsphilosophie“ in harschen Worten anmerkt. Im damaligen Deutschland stehen in puncto „Staat“ zeitgleich drei Aufgaben auf der politischen Tagesordnung:

a)        Überführung des beide Naturen zur Einheit bringenden feudalen „Gemeinwesenstaates“ in eine moderne „Vernunftgestalt“.

b)       Ergänzung der aus dem Zerfall der ehemaligen „Wirtschaftsfamilie“ hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaft und ihres „Not-und Verstandesstaates“ durch das sozialstaatliche Element.

c)        Die Erweiterung der unter a + b genannten Staatstypen zum Nationalstaat.

Schwerpunkte Hegels sind nur a + b. Der Gegenstand bei Fries ist hingegen der Staat unter c.

[64] VPhG, MM 12, S. 67.

[65] Die Verfassung Deutschlands, MM1, S. 572.

[66] Wie Forscher wie W. Leisner (Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän? Berlin 2005), wie F. Müller (Wer ist das Volk, Berlin 1997), die ihre Arbeit dem „Volk“ gewidmet haben, feststellen mussten.

[67] Siehe dazu § 202 ff. R.

[68] Rolf K. Hocevar, a.a.O. (FN 52), S. 123.

[69] In der „Rechtsphilosophie“ (§ 250-256) ist das näher beschrieben.

[70] Ausführlich zur Sozialstaatsfunktion der Korporationen bzw. zu Hegel als einem Vordenker des Sozialstaats: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 221 ff.

[71] DS, MM 2, S. 12.

[72] GuW, S. 288.

[73] Vgl. Phän, S. 41.

[74] G. Lasson in der Einleitung (S. XXII) zu der von ihm 1907 herausgegebenen Phänomenologie des Geistes, 2. Aufl., Leipzig 1920.

[75] GuW, S. 288.

[76] Phän, S. 25.

[77] Phän, S. 22f. u. S. 24.

[78] Phän, S. 26.

[79] Phän, S. 36.

[80] G. Lasson, a.a.O. (FN 62).

[81] MEW 21, S. 295 – Hervorhebung bei Engels.

[82] Ebd.

[83] M. Quante, Die Wirklichkeit des Geistes, a.a.O. [FN 20] S. 22.

[84] Phän, S. 42.

[85] GuW, S. 289.

[86] Phän, S. 107.

[87] Phän, S. 40.

[88] Phän, S. 29.

[89] Phän, S. 35

[90] Hegel Phän, S. 39,31): Es ist ein „langer Weg“, das „Individuum von seinem ungebildeten Standpunkt aus zum Wesen zu führen“.

[91] Vgl. Phän, S. 93 ff.

[92] Phän, S. 94)

[93] Das dürfte der Grund sein für die, Hegel nachgesagte, Kritik an den Romantikern im Rahmen seiner Ausführungen zum Bewusstsein. Aus seiner Sicht haben sie teilweise eine geradezu schizophrene Sicht auf die neue Wirklichkeit, indem sie bei gleichzeitiger „Naturschwärmerei“ ein Loblied auf die bürgerliche Gesellschaft singen.

[94] Phän, S. 345.

[95] Phän, S. 346.

[96] Phän, S. 346

[97] Phän, S. 42.

[98] Phän, S. 340.

[99] Phän, S. 345.

[100] Vgl. Phän, S. 64.

[101] § 131/Z E.

[102] GuW, S. 289.

[103] Ebd., S. 299.

[104] Vgl. Phän, S. 66f.

[105] Phän, S. 105.

[106] Phän, S. 107.

[107] Phän, S. 445-447 – Hervorhebungen bei H.

[108] Phän, S. 446.

[109] Phän, S. 447.

[110] Phän, S. 105.

[111] Phän, S. 40.

[112] Phän, S. 326.

[113] Das scheint dem zu widersprechen, was vierzehn Jahre später in § 4 R zu lesen ist: Dass der „Boden des Rechts … überhaupt das Geistige“ ist. Aber während er in der Phänomenologie mit „Geist“ den im Verbund mit dem „Ganzen“ stehenden  objektiven Geist meint, ist es hier der subjektive Geist des Teils „produzierte“ Natur, der gemeint ist. Das wird deutlich, wenn er in den nachfolgenden Satzteilen davon spricht, dass eine „zweite Natur“ zutage getreten ist, sich aus dem Verbund des „Ganzen“ frei gemacht hat und damit das Recht – das in den §§ 34 ff. R abgehandelte, von der Sittlichkeit losgelöste, abstrakte Recht - als „Substanz und Bestimmung“ dieser Freiheit in der Welt ist.

[114] § 35/Z R.

[115] Phän, S. 355 – die Herausgeber haben sich dafür entschieden, im Text statt „selbstbewusste“ Substanz „selbst bewusstlose Substanz“ aufzunehmen, weisen in der Fußnote aber auf die anderen Schreib- und Deutungsweisen hin. Mir scheint es so zu sein, dass es die „selbstbewusste Substanz“ des „Ganzen“ ist, die mit dem Zerfall des Gemeinwesens und auch der Ganzheiten „Familie“ und „Mensch“ in Wegfall gerät.

[116] GuW, S. 300.

[117] Vgl. dazu Phän, S. 441.

[118] Phän, S 356.

[119] Phän, S. 357.

[120] Phän, S. 357. Ganz anders fällt die Beurteilung der „Person“ aus, wenn man die „produzierte“ Natur als die alleinige und rechtmäßige Natur ansieht. Dann ist sie das Höchste, ein Ausbund an „Mensch“. Und so verwundert nicht, dass J. Ritter (Hegel und die französische Revolution, Frankfurt a.M. 1965, S. 65) im Rahmen seines Versuchs, Hegel zum Liberalen zu machen, begeistert § 209/A R zitiert, wo es heißt: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“ Er übersieht  dabei, dass Hegel mit dem „so“ auf die jetzige Einschränkung des Menschen, auf eine Reduzierung aller Menschen auf den Zweck der „produzierten“ Natur hinweist.

[121] Phän, S.355.

[122] Phän, S. 355.

[123] Phän, S. 441.

[124] § 229 R.

[125] § 229 R.

[126] N. Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewusstseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, S. 45-104 (S. 64).Sehr anschaulich hierzu auch seine Ausführungen in „Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1986, besonders S. 64 ff.

[127] Ein Vorgang und dessen Folgen anschaulich in der „Phän“, S. 441ff. geschildert sind.

[128] Dazu ausführlich: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 151 ff.

[129] §138 R.

[130] Christoph Halbig, Die Wahrheit des Gewissens, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar. Hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a.M. 2008, S. 489–503 (489 - Hervorhebung bei Halbig).

[131] Ebd., S. 491.

[132] Phän, S. 447.

[133] Phän, S. 459.

[134] Ebd.

[135] Phän, S. 454.

[136] Phän, S. 458.

[137] Ebd.

[138] Sie zeigt sich als eine Art „Phantomschmerz“, wie er nach einer Amputation aufzutreten pflegt. Und die Spaltung des Menschen in „Person“ und „Subjekt“ steht einer solchen ziemlich nahe. Dieser Schmerz tritt bevorzugt dann  auf, wenn das Individuum sich nicht als „Person“ beweisen muss, also nach Feierabend oder auch im Urlaub.

[139] Phän, S. 453.

[140] Phän, S. 456.

[141] Wie N. Klein (Die Schock-Therapie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2007) überzeugend dargetan hat.

[142] § 236/Z R.

[143] § 340 R.

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