Bürgerliche
Gesellschaft versus Natur
(Hegels
Zwei-Naturen-Lehre)
„Da wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser
nichts übrigbleiben, was sie nicht verfolgen oder aufstöbern oder vernichten
werden, und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in das andere schleppen
werden. Ihr Leib wird allen lebendigen Körpern, die sie getötet haben, als Grab
und Durchgang dienen.” (Leonardo da Vinci)
Wer würde ihn gewinnen, gäbe es
einen Prozess mit diesen Parteien? Wir wissen es alle. Natürlich die
bürgerliche Gesellschaft. Denn es ist ihr
Recht, mit dem über den Fall entschieden wird. Die Natur hat in diesem Recht keinen Fürsprecher, sondern
einen Gegenspieler, sie ist nicht dessen Subjekt, sondern Objekt.
Bürgerliche Gesellschaft: Das
Wort findet ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Verwendung. Wir wissen,
dass es Hegel war, der es in seiner Rechtsphilosophie erstmals auf den Begriff
brachte. Diese Tat bringt ihm bis heute beides ein: Lob und Tadel. Gelobt wird
er dafür schon damals, wenngleich dieses Lob lange Zeit im Schatten des Tadels
stand, der seinem Staatsbegriff galt. Es war die Tat G. Ritters, Ende der 1950er
Jahre die bürgerliche Gesellschaft in das Zentrum der Hegelschen praktischen
Philosophie gestellt zu haben; der „liberale” Hegel war kreiert. Getadelt
werden dieser „liberale” Hegel und seine bürgerliche Gesellschaft in unserer
Zeit aus den Reihen der ökologischen Bewegung, die gerade in dieser Seite
seiner Philosophie eine „Naturfeindlichkeit” angelegt sehen, die geeignet ist,
die galoppierende Zerstörung der Natur philosophisch zu legitimieren[1].
Ein Tadel, der ungerecht ist.
Hegel hat die bürgerliche Gesellschaft zwar auf den Begriff gebracht, aber er
ist nicht ihr Apologet. Das Gegenteil ist der Fall: indem er sie auf den
Begriff bringt, zeigt er auch die Gefahren auf, die von ihr ausgehen. Er weist
zu einer Zeit auf ihren naturzerstörerischen Charakter sowie auf ihre Neigung
zur „Desorganisation” hin, als es als fortschrittlich galt, die mit ihr frisch
gewonnene Freiheit als Freiheit von der Natur zu verstehen, als Freiheit, sie
unlimitiert und unkontrolliert auszubeuten und dem Menschen botmäßig zu machen.
Für ganz selbstverständlich wurde angesehen, dass das Glück, das die
bürgerliche Gesellschaft ihren Mitgliedern verspricht, auf Kosten der Natur
geht. Kaum jemand, der dagegen etwas einzuwenden hat. Im Gegenteil, wer damals
die Natur vor der bürgerlichen Gesellschaft in Schutz nimmt, wird als
weltfremder Romantiker oder als Reaktionär eingestuft, der es mit den
politischen und ökonomischen Überresten des Feudalismus hält.
Es ist bekannt, dass zu seinen
Lebzeiten und noch lange nach seinem Tode die Meinung vorherrschte, Hegel sei
als der preußische „Staatsphilosoph”
anzusehen. Nahezu 50 Jahre verschwand er in der Versenkung. Erst als die
liberalistische Demokratie in eine pluralistische umschlug, kurz vor der Wende
zum 20. Jahrhundert und danach, wurde er – und diesmal über seine
Staatsphilosophie – wiederentdeckt. Erst in England und den USA, dann auch in
Deutschland. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg brachte dann die Verschiebung vom
„Staatsphilosophen” zum Philosophen der „bürgerlichen Gesellschaft”. Der
liberale Hegel wurde betont. Jede dieser Phasen, jede dieser Verschiebungen
stellt – je nach aktuellem politischen Bedarf – nur unterschiedliche Aspekte
seiner Philosophie in die Mitte, verzerrt das Gesamtbild seiner Philosophie
nach links oder rechts, nach oben oder nach unten, geht also selektiv vor. Das
ist zu beachten, wenn ihm heute seine Vereinnahmung für die Zwecke der
bürgerlichen Gesellschaft den Vorwurf einträgt, er trage philosophische
Mitverantwortung für deren naturzerstörerisches Treiben.
Hegel steht für eine Freiheit,
die 60 Jahre nach seinem Tod O. v. Gierke so beschreibt:
„Freiheit, die kraft ihrer
sittlichen Zweckbestimmung ihr Maß in sich trägt, - Freiheit, die zugleich
Gebundenheit ist.”[2]
Gebundene Freiheit? Eine
Freiheit, die nicht auf Kosten von „Etwas” geht, zum Beispiel auf Kosten jener
Natur, die Hegel als die „vorgefundene” bezeichnet. Eine Freiheit ist gemeint,
die nicht zu deren Unfreiheit wird; eine naturverträgliche Freiheit.
Kommen wir nach diesem Vorspruch
zur Zwei-Naturen-Lehre Hegels.
Im Naturrechtsaufsatz von 1802, auch schon in
früheren Schriften[3], thematisiert Hegel das
„Schicksal” des Menschen. Dieser ist, biologisch betrachtet, ein Tier. Als eine
Einzelheit des Tierreichs gehört er insoweit der „vorgefundenen Natur”[4]
an. Was diesen „Tier-Menschen” aber heraushebt aus dem Tierreich, allgemeiner
aus der Natur, ist, dass er produzierendes und denkendes Tier, insoweit also
„Geist” ist. Als „tätiger Geist” tritt er, ausgestattet mit einem Plan, der
vorgefundenen Natur „als ein Subjektives”[5]
gegenüber und erschafft[6]
sich aus ihr eine eigene Natur, in der er sich materialisiert. Als „zweite
Natur” [7], als „produzierte” Natur, wie ich sie nennen
werde, tritt sie zur vorhandenen, zur „äußeren”, zur „primären” Natur hinzu.
Der Mensch ist somit Geschöpf und Schöpfer zugleich. Er lebt in und mit zwei
Naturen, die sich zunächst als „Verschiedene”, später als „Entgegengesetzte”[8]
gegenüber stehen, und wird zunehmend von der zweiten, von der „produzierten”
Natur geprägt. Das ist sein Schicksal[9]. Mit ihm und dem immer deutlicher werdenden
Unvermögen es zu meistern, verbinden sich all die fast unlösbar gewordenen
Probleme der heutigen Menschheit. Die Auseinandersetzung damit, erst Nährboden
der Religion[10], wird in der Moderne zum Hauptgegenstand der
Philosophie.[11] Hegel ist mit der
Seinigen darin am weitesten gekommen, denn seinem „System” liegen die
„Unterschiede” zu Grunde, „zu denen der Begriff der Natur sich entfaltet”, d.h.
die selbständige Existenz zweier
Naturen, die aus einer früheren „Einheit” hervorgegangen sind und auch jetzt,
nach ihrer Trennung und Verselbständigung, ihrer bedürfen.[12]
Die „produzierte” Natur wird
aus der „primären” erschaffen. Aus Sicht ihrer Produzenten dient sie nur diesem
Zweck. Damit ist sie zur Rohstoffquelle, zum Objekt der Ausbeutung degradiert. Als
werdende Natur steht die
„produzierte” Natur über lange Zeiträume im Schatten ihres Gegenübers.
Abertausende Jahre zeigt sie sich nur als Faustkeil, Steinaxt, Speer, Pfeil und
Bogen und als einfache Töpferware. Nur langsam kommt sie in Schwung, schnellt
dann aber exponentiell nach vorne und nach oben, wird erst sichtbar, dann
unübersehbar. Schließlich wird sie als jene selbständige Natur erkannt und
„anerkannt”, die als bürgerliche Gesellschaft „Gestalt” gewinnt.[13]
Der Zeitpunkt ihrer Emanzipation. Ein „epochaler Bruch”[14]. Eigenständig geworden, steht sie im Zentrum
und bestimmt das Denken. Nach ihrem Bilde wird jetzt alle Natur erklärt. Mit
ihrer „Anerkennung” verbindet sich, dass nun aller Natur die Eigenschaft der
„produzierten” angedichtet wird. Damit ist ihr qualitativer Unterschied und mit
ihm: ihr Gegensatz beiseite geschoben. Wir stehen vor einem Naturbegriff, dem
das „Bauprinzip” nur der „produzierten” Natur zugrundeliegt. Eingeschlossen
darin: ein Mensch, der durch die „Person”, durch jenen Teil-Menschen also
ersetzt ist, der jetzt zum „archimedischen Punkt des politischen Denkens”[15] wird.
Auch als „anfangendes Sein”
war die „produzierte” Natur zwar schon, materiell gesehen, mehr als „Nichts”[16],
war aber als „Sündenfall”, als Vergehen an der Ursprungs-Natur nicht (oder
kaum) erkennbar. Das ist anders geworden. Heute hat sie sich in ihrer Gestalt,
der bürgerlichen Gesellschaft, in einem solchen Aus- und Übermaß „breit”
gemacht und gegenüber der Ursprungsnatur verselbständigt, dass diese schon
längst akut gefährdet ist. Und mit ihr der Mensch selbst.
Keine von beiden ist vom
Menschen zu trennen, jede von ihnen hat Daseinsberechtigung, jede von ihnen ist
„göttlich”[17] – gerade auch die „primäre”
Natur, von der alles Weitere abhängt. Da wir Heutigen daran kranken, dass die
„produzierte” Natur über alle Ufer getreten ist und ihr Gegenüber unter ihr zu
ersticken droht, ist also die Frage eines ausgewogenen Verhältnisses beider
schon längst zur Überlebensfrage geworden.
Wo sich zwei „Entgegengesetzte”
gegenüberstehen ist für den Dialektiker klar, dass es einer Vermittlung” bedarf.
Denn Dialektik ist „Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit”[18].
Das gilt auch hier. Es existiert also ein Drittes, eine „Einheitsnatur”[19]
wie ich es nennen will, das aus ihr hervorgeht und die Einheit exekutiert.
Solange die „produzierte” Natur nicht „fertiggestellt” ist, solange sie sich
nicht emanzipiert hat, wird die Funktion dieser „Einheitsnatur” - gewissermaßen
in „Personalunion” – im Rahmen des „naturwüchsigen Gemeinwesens”[20]
von der „primären” Natur ausgeübt. Tausende Jahre geht das so. Zuletzt stehen
wir vor dem feudalen Menschen (Ebene der Einzelheit) und vor dem feudalen
Gemeinwesen (Ebene der Allgemeinheit). Dann aber dies: Beide werden gesprengt;
wir erleben die „Teilung des ursprünglich Einen”[21].
Wie aus dem Nichts tritt „eine ganze Welt …hervor”.[22]
Hat sich der Pulverdampf verzogen, werden die Folgen sichtbar. An die Stelle
des „naturwüchsigen” Menschen treten „Person” und „Subjekt” und an die Stelle
des „naturwüchsigen Gemeinwesens” treten nun die beiden Naturen.
Verlierer ist die „primäre”
Natur. Diese ist ja mit der „Entzweiung” nicht aus der Welt. Aber da die
„produzierte” Natur, diese „bürgerliche Gesellschaft”, nur sich als das neue
Gemeinwesen versteht, steht sie jetzt außerhalb des Politischen. Ihr
widerfährt, woran wir bis heute kranken und was, wenn wir nicht umdenken und
entsprechend handeln, bald unser aller Ende bedeuten kann: Bisher dominierendes
Subjekt, ist sie jetzt zum „Outlaw” gemacht, zum bloßen Objekt. Jetzt, wo die
Sklaverei scheinbar aufhört, fängt sie tatsächlich erst richtig an, indem nun
sie versklavt wird.
Produzierender Mensch und
„produzierte” Natur, sowie ihre Gestalten „Person” und „bürgerliche
Gesellschaft”, werden die Favoriten der Philosophie der Aufklärung. Diese wirft
gegenüber früheren Philosophien das Ruder um 180 Grad herum und sieht in ihnen
den frei gewordenen, den befreiten Menschen und die menschliche Natur. Sie rückt also diese Natur (und den auf sie
entfallenden Teil des Menschen!) in den Vordergrund. Ausgangspunkt wird der
mathematisch-physikalische Naturbegriff Descartes, der den Atomismus der
„produzierten” Natur, deren „Dingheit”, nun beiden Naturen überstülpt.[23] Der harte Kern eines „erdichteten
Naturzustands”[24]. Und weil die je andere Seite nun übersehen wird, scheint es, als
bliebe der Mensch, als bliebe die Natur ungeteilt. Ein Schein, der entstehen
kann, weil sie jetzt beide vom anderen Ende her definiert werden.
Das ist die dezisionistische,
zur bloßen „Umkehrung”[25] führende, Lösung. Ein „organischer”
Naturbegriff wird ersetzt durch einen anorganischen, „Organik” wird ersetzt
durch „Atomistik”. Der Mensch als „Organismus” wird ersetzt durch den
Automaten. Ersetzt wird das eine durch das andere. Eine bloße Verschiebung des
Standpunktes[26], die Hegel für grundfalsch hält und durch
Verweis auf einen historisch neuen Typ von „Einheitsnatur” korrigiert. Denn
auch die frühere „Personalunion” ist ja beendet und darf nicht in der Weise
fortgesetzt werden, dass sie jetzt durch eine Vorherrschaft der „primären”
Natur ersetzt wird.
Damit ist das „System”
gefunden. Denn die „Teilung des ursprünglich Einen” bringt nicht nur die Teile
ans Licht, sondern setzt auch das „Ganze” frei – was zu einer ganz neuen
Dialektik von Teil und Ganzen führt.[27]
Im Bewusstsein der
„Zeitzeugen” spiegelt sich der Zerfall der „naturwüchsigen Einheitsnatur” im
Streit um die Naturen. Anschaulich trägt O. v. Gierke dazu vor, dass als Natur
zunächst galt, was in den „naturwüchsigen” Gemeinwesen unter Führung der
„primären” Natur über die Bande des „Blutes und des Bodens” zusammengeschlossen
war. Jetzt aber, im Ausgang des Mittelalters, kommt der Gedanke auf, „dass
alles menschliche Gemeinleben auf einem Vertrage der Verbundenen beruht”[28]. Er wurde bald ausgebaut „zum konstruktiven
Prinzip” eines darauf beruhenden Staatsdenkens. Die Lehre vom
Gesellschaftsvertrag tritt in die Welt. Wurde bisher das Individuum aus der
Gemeinschaft, so wird jetzt die „Gemeinschaft aus dem Individuum” hergeleitet.
War bisher die Gemeinschaft älter als das Individuum, so ist jetzt „der
vereinzelte Mensch älter als der Verband”. Eine Weile ging es hin und her. Es
wird gestritten[29] darüber, was jetzt als
die menschliche Natur, überhaupt: was
als „Natur” anzusehen ist. Aber bald war es „ein ganz aussichtsloses
Unternehmen, wenn stets von neuem einzelne Naturrechtslehrer diesem
theoretischen Individualismus entgegentraten und wieder mehr vom Ganzen
auszugehen oder doch die staatlichen Hoheitsrechte aus einer vom Individuum
unabhängigen Quelle herzuleiten suchten”[30]. War der Streit anfangs durch „Konfusion”[31]
geprägt, ist nun die „Umkehrung” perfekt gemacht. Der Begriff blieb auf den
Kopf gestellt. Was vorher Natur und
„Gesellschaft” war, war nun „Natur”[32].
Was vorher das „Natürliche” war, ist jetzt das „Künstliche”.[33]
Das bisherige „gemeinschaftliche Naturrecht” war durch ein „gesellschaftliches
Naturrecht”[34] abgelöst – von nun an der
„fixe Punkt”[35], um den alles Denken und
Handeln zentriert ist. Nach moderner Sprachregelung: Eine neue „Theorielage”[36]
gewann die Oberhand. Und dabei bleibt es – auch wenn Hegel sich mit seiner
Philosophie dem „Dogmatismus der Aufklärerei” entgegenstemmt.
Ging vorher die „produzierte”
am Gängelband der „primären”, so geht jetzt die „primäre” am Gängelband der
„produzierten” Natur. Eine Umkehrung, die angesichts der hohen Dynamik und der
ungeheuren Expansionskraft der jetzt herrschenden Natur mit dramatischen Folgen
verbunden ist.
Letzte „naturwüchsige”
Gestalt des Gemeinwesens war die Feudalmonarchie. Bei Übergewicht der
„primären”, waren in ihr beide Naturen als „zwei unterschiedene Quanta”[37] enthalten. Jetzt aber haben sich die Gewichte
verschoben. Bis dahin, wo der Punkt erreicht ist, „auf welchem die Qualität
geändert wird, das Quantum sich als spezifizierend erweist und damit in eine
neue Qualität, ein neues Etwas umgeschlagen ist.”[38] Das ist der Punkt, an dem das feudale
Gemeinwesen zerbricht und es zur „Umkehrung” kommt. Was aber zu beachten ist:
Zerschlagen wird nur die feudale Gestalt, nicht das „Gemeinwesen” selbst.
Dieses wird nicht zu Nichts. Es wird nur „gestaltlos”, existiert also als
„gestaltloses Sein”[39] fort. Wir beobachten es „in seinem Übergang
zum Wesen”[40].
Wir sind bei dem Punkt
angelangt, der Hegels Philosophie von der der Aufklärung trennt. Es geht um den
„Zerfall” und die dabei ans Licht tretenden zwei entgegengesetzten Naturen. Hegel
fragt, was dabei mit dem Gemeinwesen als der Einheit dieser beiden Naturen geschieht. Ist es so, dass es nun auf
„das Diesseits und Jenseits verteilt und ausgebreitet”[41]
wird? Wird es bloßer „Totenkopf eines abstrakten leeren Wesens, das nicht
erkannt werden” kann[42]
oder bleibt es erhalten, wenn auch vorübergehend nur als ein „gestaltloses”
Sein? Anders gefragt: gibt es statt der im „naturwüchsigen Gemeinwesen”
ununterschiedenen zwei Naturen jetzt drei Naturen, wobei der dritten die
Aufgabe zukommt, die „Einheit” der beiden anderen zu stiften?
Systemtheoretisch gesehen ist die „Gestalt” der „Einheitsnatur” auf
der Ebene des Gesamtsystems angesiedelt. Aber während die beiden (Teil-)Naturen
„Gestalten” ausbilden, führt der Bruch des „naturwüchsigen Gemeinwesens” dazu,
dass die „Einheitsnatur” zunächst „gestaltlos” bleibt. Das bedeutet aber nicht,
dass sie nun zu Nichts geworden wäre; Gestaltlosigkeit bedeutet nicht auch
Wesenlosigkeit.
Vom „Wesen” führt nun der Weg zur historisch neuen Gestalt. Diese
ist „Vernunftgestalt”, denn sie stellt sich nicht von selbst ein, sondern muss
von uns hergestellt werden. Eine Aufgabe, an die uns die „Idee” erinnert. Ob
dies rechtzeitig geschieht, wird über unser Schicksal entscheiden. Da die
Vernunft ein überaus rares Gut ist, sind Zweifel angesagt. Aber verhärtet sich
der Durchgangspunkt zum (schöngeredeten) Dauerzustand, könnte er bald der
Schlusspunkt sein.
Die neue Situation nach
Zerfall der letzten „naturwüchsigen” Gestalt, des feudalen Gemeinwesens:
Zwei Naturen, die sich als
„Entgegengesetzte” verstehen. Das ist die eine Ebene. Und, angesichts der jetzt
entfesselten Dynamik der „produzierten” Natur dringender denn je: eine dritte,
eine „Einheitsnatur”. Als „Naturgestalt”, als Organismus, in dem Teile und
Ganzes über „Blut und Boden” zur Einheit verbunden sind, ist das „Gemeinwesen”
aus der Welt. Fällig geworden ist jetzt aber dessen „Vernunftgestalt”. Sie
stellt sich jedoch nicht von selbst ein; der Verbund von Teilen und Ganzen muss
jetzt vielmehr über die Logik hergestellt werden. Und da ihr „nach der
gewöhnlichen Vorstellung” der „Schein von Willkür” anhaftet[43],
gilt ihr nicht nur keine allzu große Bemühung, sondern wird sie als
„Unfreiheit” ins Abseits verbannt. Aber soll das Überleben beider Naturen und
ihrer Derivate gesichert sein, führt kein Weg an der Vernunft vorbei. Sie in
die „Form des Daseins” zu bringen, ihr „Gestalt” zu geben[44],
ist das Ziel, das Hegel mit seiner Philosophie formuliert. Aufgabe einer
Politik, die sich der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet sieht, wäre es,
diese „Vernunftgestalt” Praxis werden zu lassen.
Wollte man den Zeitpunkt der
„Entzweiung” auf das Jahr 1800 festlegen, hätte zu diesem Zeitpunkt der
„Vernunftstaat” Hegels installiert werden müssen, um ihre Folgen in einem
naturverträglichen Rahmen zu halten. Ein Staat, der sich von den „Not- und
Verstandesstaaten”, die stattdessen zur Ausbildung kamen und sich darauf
beschränken, das jetzige bellum omnium contra omnes im Zaum zu halten, darin
unterscheidet, dass er die Interessen beider Naturen zum Gegenstand seiner
Tätigkeit macht. Nachhaltigkeit, Maßhalten zu üben, wäre geboten gewesen. Vom
ersten Tage an. Stattdessen wurde die „Freiheit” bejubelt, die mit der
„Entzweiung” einher ging. „Freiheit”, die im Kern bedeutet: unlimitierte,
unkontrollierte Naturaneignung. Endlich frei! Das diese Freiheit, dass dieses
ganze Glück, dass uns die jetzt herrschende, die „produzierte”, Natur verheißt,
auf Kosten der primären Natur gehen, dass sie deren Unfreiheit und Unglück
bedeuten, war ein Gedanke, der damals fern lag. Liberale und Marxisten sind
sich noch Ende des 19. Jahrhunderts darin einig: Natur? Davon gibt es
reichlich. Ihre immer effektivere Ausbeutung ist der zentrale Programmpunkt der
einen wie der anderen Fraktion.
Ricardo und Marx,
Liberalismus und Marxismus. Bei aller Gegensätzlichkeit sind sie sich darin
einig: Die Natur ist eine grenzenlose, unerschöpfliche Ressource. Die Frage,
wie sie trotz pausenloser und sich pausenlos intensivierender Ausbeutung zu
erhalten ist, ist nicht ihre Frage.
„Bürgerliche Gesellschaft”,
„Kapitalismus” steht für:
-
„Exploration
der ganzen Natur”
-
„Exploration
der Erde nach allen Seiten”,
-
„universelle
Aneignung der Natur”.[45]
Das ist das Positive; daran
wird auch der Kommunismus festhalten.
Bei Marx/Engels steht die
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Mittelpunkt – ein Spezialfall der
Ausbeutung, der längst hinter den Generalfall: Ausbeutung der Natur,
zurückgetreten ist[46], ja diesen verdeckt. Die
Endlichkeit der Natur und ihrer Ressourcen und damit auch ihrer Plünderung, als
Fragestellung, als Problem angelegt in der Hegelschen Philosophie, „die der
Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich
sicheres Ende vorhersagt”[47],
konnte damals als „konservativer Vorhalt” außer acht gelassen werden. Was heute
unser zentrales Problem ist, war nicht das Problem ihrer Zeit. Natur? Davon gab
es genug. Marx/Engels fühlten sich jedenfalls sehr sicher und „noch ziemlich
weit von dem Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft
abwärtsgeht”[48]. Man konnte aus dem
Vollen schöpfen. Und so sind diese beiden ökonomischen Modelle auch angelegt.
Die „primäre” Natur und ihre, noch dazu begrenzte, „Produktivität” spielen in
ihren Werttheorien keine Rolle; sie sind als Wertfaktor darin mit Null veranschlagt.[49]
Wir wissen es längst besser.
Und spätestens in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hätten sämtliche
Alarmglocken schrillen müssen, hätte gehandelt werden müssen. Aber wie die
Zahlen zeigen[50]: Wir verbrauchen
weiterhin Natur über deren Reproduktionskraft. Jahr für Jahr. Umdenken und
wichtiger: entsprechendes Handeln? Fehlanzeige! Es scheint so, als wolle sich
jeder noch einmal den Bauch vollschlagen, ehe der Kuchen endgültig verteilt
ist.
Anmerkung
zum Vorstehenden:
Der heuristische Gehalt
meines Ansatzes scheint mir außer Frage zu stehen. Seit meiner Beschäftigung
mit Hegel habe ich es stets als Mangel empfunden, dass trotz der Literaturfülle
im Grunde die „Endaussagen” sehr vage ausfallen. Und sie widersprechen sich
häufig. Das kann wohl auch nicht anders sein, solange ein fester Grund fehlt.
Diesen glaube ich in den „zwei Naturen” gefunden zu haben. Gewissermaßen das
„Basis-Paar”, von dem aus die vielen, davon abgeleiteten, Gegensatzpaare
logisch widerspruchsfreier zu erklären sind, als wenn sie je für sich und als
frei im Raum schwebend untersucht werden. Ich bin mir aber bewusst, dass meine
bisherige Begründung durchaus verbesserungsfähig ist und nach allen Seiten
eines weiteren Ausbaus bedarf. Wie weit ich selbst angesichts meines Alters
damit komme, steht in den Sternen. Ich hoffe aber, dass der eine oder andere
Leser zum Weiterdenken angeregt wird.
[1] Beispielhaft sei
hierfür Klaus Michael Meyer-Abich, Naturordnung und Menschenrecht genannt. (in:
T. Evers [Hrsg.], Schöpfung als Rechtssubjekt?, Hofgeismar 1990, S. 24.)
[2] O. v. Gierke, Die soziale
Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 28.
[3] Vor allem: Der
Geist des Christentums und sein Schicksal, MM 1, S. 274f.
[4] § 39 R.
[5] Ebd.
[6] M. Riedel (Bürgerliche
Gesellschaft und Staat, Neuwied u. Berlin 1970, S. 28) spricht von der „vom Menschen
hervorgebracht[en] und ins Werk gesetzt[en] Natur”, die „Welt des Geistes” ist
und als solche neben die bereits vorhandene tritt.
[7] Siehe dazu: M. Riedel, Natur
und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Materialien 2, S.
109-127; M. Winkler, Die Geburt der zweiten Natur, HJ 1990, S. 209-216; I.
Testa, Selbstbewusstsein und zweite Natur, in: Hegels Phänomenologie des
Geistes, hrsg. von K. Vieweg u. W. Welsch, Frankfurt a.M. 2008, S. 286-307.
[8] Vgl. L (B), S. 39.
[9] Hegel, NR, S. 495;
Informativ dazu: F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Berlin 2010, S. 190 ff. Er
führt dort aus, wie in Hegel die „Idee des Schicksals” heranreift und später
seinen Staatsbegriff prägen wird. Das Schicksal macht die „Tragödie” des
Menschen aus. H. Glockner (Hegel, 2. Bd. Stuttgart 1940, S. 331) kommentierend:
„Sie besteht darin, dass die sittliche Natur ihre unorganische Natur als ein
Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt.” Ausführlich setzt sich
G. Lukacs (Der junge Hegel, Zürich 1948, S. 239-275) mit der „Frankfurter
Schicksalskonzeption” auseinander. Negativ daran sei vor allem das darin
enthaltene „Ausweichen vor einer feindlichen Macht” (S. 236) bzw. der
„freiwillige Verzicht auf den Kampf mit dem Schicksal” (S. 267).
[10] Siehe dazu Hegel in seiner
Berliner Antrittsvorlesung, MM 10, S. 410 f.
[11] Die „Entzweiung”, formuliert
er in der „Differenzschrift” (S. 20), ist „der Quell des Bedürfnisses” nach
Philosophie.
[12] Siehe dazu: § 381/Z E.
[13] Wird zur „Objektivation mit
ontisch eigener Aktualität”, wie es bei M. Winkler (a.a.O., S. 209) heißt.
[14] A. Adam, Despotie der
Vernunft, Freiburg/München 1999, S. 253. Dieser Bruch verbindet sich mit dem
Aufstieg des „Vertragsdenkens”, dieser „privatrechtlichen Antwort” auf ein
Problem, „das gerade nicht privatrechtlicher Art ist.” (ebd., S. 251f.)
[15] Adam, a.a.O., S. 252.
[16] „Werden”, das sich auf „Sein” zubewegt, aber noch lange braucht, um in dieses umzuschlagen (s. dazu Logik [S], S. 62f.) und als Gestalt „bürgerliche Gesellschaft” in die Geschichte einzutreten.
[17] § 381/Z E.
[18] L (S), S. 41.
[19] Zwei entgegengesetzte
Naturen, in der „Phänomenologie” (MM 3, S. 328ff.) verbildlicht als „der Mann
und das Weib”, werden in einer dritten Natur, dem „Gemeinwesen” zur Einheit
gebracht.
[20] Ein Begriff, mit dem später auch Marx arbeitet.
[21] L (B), S. 60.
[22] MM Bd. 1, S. 234 (erstes Systemfragment).
[23] Weil er unhaltbar ist, kommt
es zum Rückfall „von Aufklärung in Mythologie” (M. Horkheimer/T.W. Adorno,
Dialektik der Aufklärung, Leipzig 1989, S. 11) einerseits und zur Verwässerung
ihres Anliegens durch einen platten Positivismus, z.B. dem A. Comtes. (Siehe
dazu auch: Christine Zunke, Die zwieschlächtige Natur der Moderne. Vom
Hegelschen Naturrecht und positivistischem Naturbegreifen, HJ 2012, S. 65).
[24] Vgl. § 502/A E.
[25] L. Rizzi, Hegels Kritik der
Vertragstheorie, HJ 1990, S. 255. Staatsphilosophisch wird sie erstmals von
Thomas Hobbes auf den Punkt gebracht. Er setzt an die Stelle des bisherigen
Menschen den Maschinen-Menschen und an die Stelle des bisherigen feudalen
Gemeinwesens den „Leviathan”, den „Maschinen-Staat”. Hegel setzt sich damit im
2. Abschnitt seines NR-Aufsatzes auseinander (MM 2, S. 453ff.). Siehe dazu auch
M. Riedel, Natur und Freiheit, a.a.O., S. 111. Über Feuerbach schließt sich
Marx dieser „Umkehrung” an, was theoretisch und praktisch im 20. Jahrhundert
von großer Bedeutung werden wird (siehe dazu vor allem im „Exkurs”).
[26] Mit der sich Hegel in der
„Differenzschrift” auseinandersetzt – siehe MM 2, (insbesondere) S. 94-115.
[27] Was er entdeckt,
nenne ich „systemische” oder triadische Dialekt. Im Unterschied zur
aristotelischen Dialektik, die das Verhältnis der Teile zueinander und zum
Ganzen in dem noch nicht auseinander getretenen „naturwüchsigen Gemeinwesen”
zum Ausdruck bringt, hat sie das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen
nach dem „Bruch” des „naturwüchsigen Gemeinwesens” zum Gegenstand. War vorher
das „Ganze” eine unselbständige Größe, die sich nur über die „primäre” Natur
geltend machen konnte, so gewinnt es jetzt eine selbständige, von den beiden
Naturen abgelöste institutionelle Gestalt, z.B. als Institution „Staat”.
[28] O. v. Gierke, Johannes Althusius
(7. Aufl.), Aalen 1981, S. 99.
[29] im Rahmen der, wie Hegel
(NR, S. 439f.) sagt, „empirischen Behandlungsarten” des Naturrechts.
[30] Gierke, a.a.O., S. 105f.
[31] NR, S. 450.
[32] Der Naturbegriff Galileis
und Newtons wurde zum „Wertbegriff”. (Vgl. dazu: G. Lukacs, Zur Ontologie des
gesellschaftlichen Seins, Neuwied u. Berlin 1971, S. 10).
[33] Siehe MEW Bd. 4,
S. 139, wo Marx den jetzigen Standpunkt der Ökonomen wie folgt referiert: „Die
Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von
Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus
sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche.”
[34] F. Tönnies, Hegels Naturrecht,
SchmJB 1932, S. 71-85, besonders S. 82 f. Tönnies Werk ist bekanntlich durch
die Begriffe „Gemeinschaft” und „Gesellschaft” geprägt, die er als ein
zeitliches Nacheinander und – das ist der Mangel – entsprechend der
liberalistischen Sichtweise als ein „Entweder-Oder” versteht. Damit übersieht
er (wie überhaupt!), dass sich „Gemeinschaft” auf zwei Naturen bezieht, dagegen
„Gesellschaft” nur auf eine, auf die „produzierte” Natur.
[35] GuW, S. 292.
[36] N. Luhmann, Die Theorie der
Ordnung und die natürlichen Rechte, RJ 3. Jg. (1984), S. 133. Luhmann
untersucht diese Zeit der Umstellung vom „alten” auf das neue Naturrecht,
diesen Schwenk vom alten zum neuen Verständnis des Rechts und des Staates,
unter systemtheoretischen Gesichtspunkten in mehreren seiner Arbeiten. Da ihn
mit Hegel das „systemische” Denken verbindet, werden uns daher seine
Gedankengänge, seine Fragen und Lösungsansätze noch näher zu interessieren
haben, besonders wenn es um das Thema „Recht” geht.
[37] L (S), S. 421.
[38] Ebd. S. 412.
[39] Hegel definiert in der
„Wesenslogik” (L[W], S. 161) die Wirklichkeit als „die Einheit des Wesens und
der Existenz”. Das Wesen für sich allein ist „gestaltlos”. Die Erscheinung für
sich allein ist „haltlos”. Das „Wesen”, entnehme ich daraus, ist „gestaltloses
Sein”.
[40] L (B), S. 33.
[41] Phän, S. 327.
[42] RWJ, S. 431.
[43] L (S), S. 41.
[44] § 32 R.
[45] GR, S. 312f.
[46] Diese Verengung des Problems
kritisiert bereits Marianne Weber (Fichte‘s Sozialismus und sein Verhältnis zur
Marxschen Doktrin, Tübingen 1900, S. 80).
[47] MEW 21, S. 268.
[48] Ebd.
[49] Unzutreffend, mindestens
aber problematisch ist daher die Einschätzung R. Garaudys (Gott ist tot. Eine
Studie über Hegel, Berlin 1965, S. 79), Hegel teile die Auffassung A. Smith‘.
Und dieser anerkenne „keine ‚äußere‘ Quelle für den Wert …, sondern allein die
[menschliche] Arbeit schafft den Wert.” Garaudy drückt hier Hegel auf das
Niveau jener Bürger herab, von denen Marx sagt, dass sie „sehr gute Gründe
haben, der Arbeit übernatürliche
Schöpfungskraft anzudichten.” (MEW 19, S. 15).
[50] Der World
Overshoot Day – der Tag, von dem ab unser Ressourcenverbrauch die jährliche
Reproduktionskraft der Erde übersteigt – war (laut Wikipedia) 1987 am 19.
Dezember und 2015 am 13. August. Jahr für Jahr sind die Ressourcen also im
Durchschnitt der Jahre 1987 2015 4,5 Tage eher verbraucht worden. Ein
unhaltbarer Zustand, selbst wenn in der Zukunft kein einziger Tag hinzu käme.