Otto von Gierke und wir

(Zum 100. Todestag)

Am 10. Oktober 1921 starb Otto von Gierke im Alter von 80 Jahren. Viele Nachrufe würdigten damals sein Leben und sein Werk. Ein Großer der deutschen Rechtswissenschaft war heimgegangen.

Aber zum Zeitpunkt seines Todes war der Ansturm auf sein Werk schon sehr abgeebbt. Otto von Gierke? – Verband sich dieser Name nicht all zu deutlich mit dem Zweiten Deutschen Kaiserreich, also auch mit all dem, was daran aus liberaler und republikanischer – noch mehr: aus marxistischer – Sicht auszusetzen war. Sein Werk schien, besonders dort, wo es vom Staat handelt, mit Gründung der Weimarer Republik aus der Zeit gefallen, schien mit dem Kaiserreich seinen Haltepunkt verloren zu haben. Er mag damals in England, wo man ihn als einen Vorläufer des Pluralismus ansah, mehr gegolten haben als in seiner Heimat.

Nur in Theorie und Praxis des Arbeitsrechts war Gierke selbst und über seine Schüler weiterhin  präsent.

Kriterium Praxis:

Daran gemessen ist von Gierke heute zu wenig übrig. Unverdientermaßen.

Denn sein Werk steht für eine Richtung der deutschen Staats- und Rechtslehre, deren Bedeutung für die damalige und heutige Gegenwart am ehesten deutlich wird, wenn sie im Zusammenhang mit der Philosophie von G.W.F. Hegel gesehen wird. Auch dessen Todestag jährt sich: am 4. November 2021 zum 190. Male. Zwar wird um Hegel viel Wirbel gemacht. Aber auch hier gilt: Nur ja nicht Praxis werden lassen, was er für vernünftig hält.

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Gierke wird – philosophisch gesehen – überwiegend Kant, kaum aber Hegel[1] zugeordnet. Und doch – so die Behauptung, die hier gewagt wird – steckt in seinem Werk mehr „Hegel“ als in irgendeinem anderen Werk deutscher Juristen, eingeschlossen Eduard Gans. Aber während das Gros seiner Kollegenschaft sich auf Kant bezieht[2], um mit ihm einen vorherrschend gewordenen platten Positivismus zu legitimieren, stützt sich Gierke auf jene „Reihe von Momenten“ [3] bei Kant, wo dieser über sich hinauswächst und sich gedanklich Hegel nähert. Und er kritisiert Kant dort, wo dieser der atomistischen und mechanischen Vertragstheorie verfällt bzw. sich dieser nicht zu entziehen vermag.

Zwei dieser „Momente“, auf die sich Gierke beruft, stehen ganz oben auf seiner Agenda: Der Begriff des „Organismus“[4] sowie – aus der „Rechtslehre“ – der Begriff des „auf dingliche Art persönlichen Recht[s]“[5]. Damit bezieht er sich auf jene Elemente der Kant‘schen Philosophie, die damals wie heute auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Er aber greift sie auf und gelangt über sie zu Ergebnissen, die jenen nahe stehen, die sich aus der hegelschen Philosophie gewinnen lassen.

Im Übrigen zeigt seine Schrift zu Johannes Althusius von 1880, dass Gierke philosophischer Kopf genug ist, eigene Schlüsse aus den Umwälzungen zu ziehen, die zur Moderne geführt haben. Anhand dieses nahezu vergessenen Gelehrten zeigt er den Übergang vom älteren zum neueren Naturrecht. Es ist ein Übergang, der gerne so darstellt wird, als werde ein miefiges, finsteres, undurchdringliches Gestrüpp feudaler Abhängigkeiten ersetzt durch die lichte Welt des Vertrages. Es ist die Zeit eines Schwenks von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“. Und eingeschlossen darin: ein Schwenk von einem Recht, dass den Einzelnen aus dem „Verband“ ableitet, zu einem Recht, dass das Individuum in die Mitte stellt. Eine Umkehrung findet statt. „Immer bestimmter stellte sich als unvermeidlicher Grundzug der Lehre vom Gesellschaftsvertrage die theoretische Herleitung der Gemeinschaft aus dem Individuum heraus. Man musste, wenn man sich selbst treu bleiben wollte, schließlich immer bei den Sätzen anlangen, dass der vereinzelte Mensch älter als der Verband, dass jeder Verband das Produkt einer Summe von individuellen Akten und das alles Verbandsrecht und somit die Staatsgewalt selbst ein Inbegriff ausgeschiedener und zusammengelegter Individualrechte sei.“[6]

Er rügt:

Statt zu sagen, dass der Mensch als Einzel- und Kollektivwesen geboren wird, also Individualität und Kollektivität gleichermaßen zu seinem Wesen gehören, galt nun, dass  die Gemeinschaft als ein Nachrangiges und Freiwilliges aus dem Individuum zu definieren ist.

Hoch problematisch, wie sich die Wende vom alten zum neuen Naturrecht vollzieht: als bloße Umkehrung. Die Einheit der Natur geht verloren; die Einheit überhaupt. Auf allen Ebenen, in allen Sub-Bereichen zerfällt das Ganze in Teile und kehrt sich das Verhältnis der Teile zueinander um. Auf der obersten Ebene, der Ebene der Natur, bedeutet dies: Ging die menschgeschaffene „produzierte“ Natur bisher am Gängelband der „vorgefundenen“ Natur, so jetzt die letztere am Gängelband der ersteren.[7] Eine Umkehrung, mit der der Weg frei gemacht ist. Jene Zeit gnadenloser, unlimitierter Ausbeutung der „vorgefundenen“ Natur setzt ein, mit deren „dicken“ Ende wir 250 Jahre später zu kämpfen haben.

Was das Recht anbelangt, stehen wir vor folgenden Befund:

Diente es bisher dazu, die Vorherrschaft der „vorgefundenen“ Natur durchzusetzen, so kommt es jetzt zu einem „Frontwechsel“. Das Recht schlägt sich auf die Seite der jetzt tonangebenden Natur; der „produzierten“. Das geschieht nicht von heute auf morgen. Hundert Jahre geht es hin und her. Gierke dazu:

„Es war bald ein aussichtsloses Unternehmen, wenn stets von Neuem einzelne Naturrechtslehrer dem theoretischen Individualismus entgegentraten und wieder mehr vom Ganzen auszugehen oder doch die staatlichen Hoheitsrechte aus einer vom Individuum unabhängigen Quelle herzuleiten suchten, ohne doch mit der Vorstellung einer Entstehung des Staats durch einen Vereinigungsakt staatlos lebender Menschen zu brechen.“[8]

Politisch gesehen ist das die Zeit des Absolutismus. Wird die Umkehrung unumkehrbar, hat dieser als Staatsform ausgedient, zuerst in Frankreich, mit gebotener Verzögerung dann auch im verspäteten Deutschland.

Diese „Umkehrung“, diese Umkehrung der Vorherrschaft, wie zu präzisieren ist, ist ein zentrales Thema der „Wesenslogik“ Hegels. Seine Fragestellung:

Was wird aus dem „Ganzen“, wenn es in Teile zerfällt?

Seine Antwort:

Es geht nicht unter. Es wird nicht jenseitig, sondern wird aus einem gestalthaften zu einem gestaltlosen Sein.[9] Aber: Sein ist Sein, ob gestalthaft oder gestaltlos. Das Besondere des Letzteren: Es gewinnt eine Gestalt nur über unser Zutun; uns obliegt es, das „gestaltlos“ Gewordene auf den Begriff zu bringen.[10] 

Sie, die „Vernunftgestalt“, die „vernünftige Institution“[11], zu schaffen – das ist die von Hegel erkannte und in seiner Logik formulierte Forderung der Geschichte an uns.

Der Verbund des Ganzem mit den Teilen ist gegenüber früher ein anderer und auch loserer geworden. Aber er besteht fort. Die Teile konstituieren sich nicht „als Totalitäten für sich“, sondern sie sind „relative“, durch das fortbestehende Ganze relativierte, Totalitäten[12]. Beide Seiten stehen also weiterhin im Verbund, sind auf besondere Weise aufeinander bezogen und voneinander abhängig.  Den Teilen muss Genüge getan werden, aber auch dem Ganzen. Denn was stattfindet ist eine „Aufhebung“, eine doppelte „Negation“ statt einer nur einfachen. Aber dazu wird der Vorgang nur durch unser Mitwirken. Tatsächlich wird er aber nach der ersten Negation abgebrochen und – abgesegnet durch die Philosophie der Aufklärung – für beendet erklärt. Die aus ihr hervorgehenden Tatsachen: die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen und Organisationsformen, werden als die Endresultate der Geschichte ausgegeben und - um sie vor Kritik zu schützen - in den Rang ziviler Gottheiten erhoben.[13]

Die Kritik wird dafür auf jene gelenkt, die – wie Hegel und Gierke – auf den Fortbestand des Verbunds verweisen; auf die (scheinbaren) Lobredner des Alten. Zu diesem Alten, das jetzt ignoriert und verworfen wird, gehört die Beziehung im Ganzen – früher eine Rechtsbeziehung, die nun aus der Welt zu sein scheint und scheinbar einem Bereich individueller Freiheit Platz gemacht hat.

 

Die Situation nach der ersten Negation:

Die Umwandlung der Teile in Totalitäten macht diese zu „Entgegengesetzten“[14]. Soll ihre jetzige Entgegensetzung nicht zur Zerstörung des Organismus führen, muss sie vermittelt werden. „Vermittlung“ ist also die mit der Dialektik von Teil und Ganzen untrennbar verbundene Aufgabe. Sie ist Korrektur der Teile durch das Ganze. Wenn sie nicht nur im Nachhinein, über die sogenannten „Marktkräfte“ erfolgen soll, bedarf es der vermittelnden Institution, der „Vernunftgestalt“. Sie zu finden, sie zu installieren und arbeitsfähig zu machen ist also das Gebot der Stunde.

Was aber, wenn sie ausbleibt?

Der Befund, den Hegel und Gierke erheben: Der bisherige, biologisch geprägte, Organismus, dieses noch halbwegs „gestalthafte“ Ganze, verschwindet. Als „Gestalten“ bleiben nur die Teile zurück. Das verleitet zu der Annahme, das „Ganze“ sei überhaupt aus der Welt, sei ins Jenseits abgewandert, sei metaphysisch geworden. Diese Annahme zieht wiederum jene „Nivellierungssucht“[15] nach sich, der die „sozialrechtlichen Zwischengebilde“ zum Opfer fallen. Eine ganze Ebene des menschlichen Daseins, die Ebene der „Sozialität“, wird gestrichen.

 

Vertritt man den Standpunkt, dass das „Ganze“ als Sein weggefallen, metaphysisch geworden ist, erübrigt es sich zu fragen, was aus dessen internen Beziehungen geworden ist. Sie fehlen jetzt. An ihre Stelle sind Außenbeziehungen getreten, solche zwischen Totalitäten. Anders dann, wenn das Ganze weiterhin besteht. Dann stehen wir weiterhin vor der Frage: Wie sind dessen Binnenbeziehungen ausgestaltet? Wem kommt welches Recht, welche Pflicht zu? Was bedeutet unter diesem Aspekt die „relative Totalität“ der Teile?

Hundert Jahre dauert es. Dann aber bleibt es dabei. Die „Umkehrung“ ist festgeschrieben und zur Grundlage des modernen Rechts gemacht. Der Weg vom „Entweder“ zum „Oder“ ist durchschritten. Aber die „Umkehrung“ ist nicht die Lösung. Zwar bringt sie Vorteile. Viele für wenige, einige aber auch für alle. Die jetzt entfesselte „produzierte“ Natur setzt gewaltige Kräfte frei. Wissenschaft und Technik erklimmen ungeahnte Höhen. Aber auf Kosten der „vorgefundenen“ Natur. Und auf Kosten auch der Sozialität. Die Plünderung der Natur paart sich mit der Vereinzelung des Menschen und –gerade auch in der Gegenwart – mit einem beispiellosen Auseinanderdriften von arm und reich.

Das Manko an Sozialität und dessen Folgen macht Gierke zum Gegenstand seines Lebenswerkes; sein Kampf gegen ein sich vor seinen Augen breit machendes, bald Gesetz werdendes, unsoziales Recht beginnt. Er gewinnt diesen Kampf nicht, aber er ist einer der Wenigen, die ihn überhaupt führen.

Dass die „Umkehrung“, wie es Hegel sieht, einer Verschwörung gegen die „vorgefundene“ Natur gleich kommt, ist nicht das Thema Gierkes. Von Hegel abgesehen, ist das zu seiner Zeit niemandes Thema.[16]

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Die große Frage seines Hauptwerkes:

Was geschieht in der Moderne mit jener Institution, die tausend Jahre lang das sozial-ökonomische Zentrum der Germanen ist, mit der  „Wirtschaftsfamilie“? 

Gestützt auf den Kant’schen Organismus-Begriff verfolgt Gierke ihre Wandlung von einer in das feudale „Blut- und Boden-Regime“ eingebetteten Institution zur modernen „Vernunftgestalt“. In welchen Stufen vollzieht sie sich, was steht am Ende und wie wird der Vorgang vom Recht reflektiert?

Die Klassiker der Ökonomie – Adam Smith, David Ricardo, später auch Karl Marx – beurteilen das Schicksal der „Wirtschaftsfamilie“ von der Tatsache her, dass in der Neuzeit das Produzieren in der kapitalistischen Unternehmung erfolgt. Sie schlussfolgern daraus, dass die „Wirtschaftsfamilie“ im Zuge der bahnbrechenden Neuerungen auf technischem Gebiet (Webstuhl, Dampfmaschine) ihre wirtschaftliche Bedeutung verliert und durch die Unternehmung ersetzt wird. Diese wird als eine Neuschöpfung angesehen, die ihre Wurzeln in der Zirkulationssphäre hat. Das dort angehäufte Handelskapital erobert von dort über verschiedene Stufen (Verlegersystem, Manufaktur, Fabrik) die Produktion.[17]

Aber ist das die ganze Wahrheit?

Was Ricardo wie Marx als Schrumpfungsprozess ansehen, ist für Gierke ein Vorgang, der als „Aufhebung“ zu sehen ist. Und als solche macht der Prozess nicht bei der ersten bzw. einfachen Negation und den dabei sichtbar werdenden Zerfallsprodukten halt, sondern geht in eine Neusetzung der „Wirtschaftsfamilie“ über. Hätte er gegen die herrschende Auffassung polemisiert, würde er sagen, ihr Hauptziel liegt darin, dass mit ihr der gemeinsame Stamm – die „Wirtschaftsfamilie“ – vergessen gemacht wird. Nicht ungewöhnlich in dieser Zeit, die sich unter Berufung auf Freiheit und Fortschritt allerorten von ihrer Geschichte lossagt.

Im Ergebnis der ersten Negation zerfällt die mittelalterliche „Wirtschaftsfamilie“ in bürgerliche Kleinfamilie und Unternehmung. Zwei Teile eines ursprünglichen Ganzen stehen sich gegenüber; zwei „Produktionseinheiten“. Bisher vereint in einem „Haus“, stehen sie sich jetzt als „Entgegengesetzte“ gegenüber, die zur Vermeidung sozialen Unfriedens „vermittelt“ werden müssen.

Was aber geschieht?

Das Ergebnis der ersten Negation, der entstehende Anschein, wird zementiert. Die Beziehung zwischen der Kleinfamilie und der Unternehmung wird als eine auf den Austausch ihrer Produkte als „Sachen“ ausgerichtete Beziehung zweier Totalitäten angesehen, als eine „schuldrechtliche“ also. Aber tatsächlich sind beide nur „relative“ Totalitäten, die deshalb weiterhin auf besondere Weise, nämlich auch personal, miteinander verbunden sind. Anders gesagt: Was scheinbar nur noch „gesellschaftlich“ verbunden ist, bleibt es weiterhin auch „gemeinschaftlich“.

Die Perspektive ist je eine andere. Für die einen ist die „Wirtschaftsfamilie“ historisch erledigt, ist ihre Fortexistenz bestenfalls Ausnahmefall[18]. Für Gierke hingegen ist sie nach wie vor der Generalfall des Produzierens. Und nicht nur dort, wo sich echte, auf Gleichordnung ihrer Mitglieder beruhende, Genossenschaften bilden, sondern auch dort, wo sie sich als Unternehmung, als „Gemeinschaft kraft herrschaftlicher Gewalt“[19], zeigt. In die ersteren bringt jeder Genosse Kapital und Arbeitskraft ein, in die letztere bringt eine Seite das Kapital, die andere die Arbeitskraft ein; „Kapital“ und „Kapitalist“ dominieren. Aber trotz der Dominanz einer Seite gilt: Auch  die kapitalistische Unternehmung ist  „Gemeinschaft“. Und wenn sie es nur in abgewandelter und beschränkter Form ist, sie ist als Gemeinschaft „jedoch keineswegs aufgehoben“[20].

Die einen betonen ihre Diskontinuität, der andere ihre Kontinuität. Für Gierke steht im Mittelpunkt, dass das Produzieren auch jetzt notwendig auf „Kollektivität“ beruht. So, wie nur Mann und Frau das Kind zeugen und zur Arbeitskraft formieren, so erzeugen nur Kapital und Lohnarbeit all die dem Konsum dienenden Produkte. Die örtliche und sachliche Trennung durch den Auseinanderfall in Kleinfamilie und Unternehmung ändert daran nichts. Die zwei Hauptkomponenten modernen Produzierens, „lebendige“ und „vergegenständlichte“ Arbeit müssen zusammen kommen, ob der einzelne Kapitalist oder der einzelne Lohnarbeiter das will oder nicht. Der „freie Wille“ tritt hinter dieses Müssen zurück. Marx spricht in diesem Zusammenhang von „objektiver Assoziation“[21]. Beide – Gierke wie Marx – sind sich deswegen einig darin, wie auf die Mär zu antworten ist, der Arbeiter binde sich in Entfaltung seines „freien Willens“ an die Unternehmung. Zwar ist es nicht „direkte physische Gewalt“ [22], die seinen Eintritt in sie erzwingt, sagt der eine (Marx). Und der andere (Gierke) ergänzt: „aber zu wählen hat er nicht das Ob, sondern das Wo der Unterwerfung.“[23] Beide stellen das im Unternehmen regierende „Herrschaftsverhältnis“[24] heraus. Dieses prägt das Verhältnis, nicht der „freie Wille“. Dem wichtigsten Rechtsverhältnis, das der Lohnarbeiter – solange er arbeiten kann und muss – einzugehen hat, fehlt also das entscheidende Kriterium echten Rechts: der „freie Wille“.

Aus liberalistischer Sicht sieht es aus, als wolle Gierke eine untergegangene, eine historisch gewordene Institution – die feudale Wirtschaftsfamilie – mit Hilfe des Organismus-Begriffs in die Gegenwart hinüber retten. Aber es ist bei ihm wie bei Hegel. Wie dieser verwendet er den Begriff in Sinne der Wesenslogik, also ohne jeden biologischen Beiklang. Zum Missfallen des tonangebenden philosophischen und juristischen Individualismus eröffnet er eine Sicht auf Probleme und Dimensionen, die dort bewusst ausgeblendet sind. Gierke leistet daher mit Hilfe des „Organismus“ mehr zur Aufklärung der „objektiven Assoziation“ als Marx. Dieser sieht zwar das Problem, lotet es aber nicht tiefer aus, weil er ahnt, dass das Ergebnis seiner Revolutionstheorie widerstreitet.

Was von der einstigen „Wirtschaftsfamilie“ übrig bleibt – die bürgerliche Kleinfamilie – ist, was das Produzieren angeht, auf die Produktion der Ware Arbeitskraft reduziert. Beide „Produktionen“, die Produktion der Ware „Arbeitskraft“ und die Produktion der tausend „profanen“, der Bedürfnisbefriedigung dienenden Dinge, finden fortan an getrennten Orten statt, gehen überhaupt getrennte Wege. Treffpunkt beider Arten „Produkt“ ist der Markt. Ihm und seinen ökonomischen und juristischen Gesetzen sind beide unterstellt. Beide werden dort über einen Leisten geschlagen, werden unisono als „Ding“ gehandelt, verkauft und gekauft. Das ist die eine Wahrheit.

Aber es ist etwas grundlegend Anderes, ob auf dem Markt Brot, Fleisch und Gemüse oder ob Lohnarbeit gehandelt werden. Der Markt macht etwas gleich, was der Sache nach ungleich ist. Gegenstand des „einfachen“ Austausches sind die Produkte eines vorhergehenden Produktionsvorgangs. Hier aber geht es um einen Austausch, der nötig ist, um überhaupt erst „Produktion“ stattfinden zu lassen, weil er ihre Grundkomponenten: „lebendige“ und „vergegenständlichte“ Arbeit, zusammenführt. Was sich sodann abspielt, in der Produktionsstätte, ist der Austausch mit dem Naturstoff, ist der „Stoffwechsel“. Marx drückt es so aus:

„Wenn wir den Austausch zwischen Kapital und Arbeit betrachten, so finden wir, dass er in zwei nicht nur formell, sondern qualitativ verschiedene und selbst entgegengesetzte Prozesse zerfällt. … Die Trennung dieser beiden Prozesse ist so augenfällig, dass sie in der Zeit auseinanderfallen können und keineswegs zusammenfallen müssen.“[25] Austausch und Nicht-Austausch: gegeneinander aufgerechnet wird daraus ein bloßer „Schein“ von Austausch.[26] Und weshalb? Das habe damit zu tun, dass die „Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten.“ Und präzisierend: „Also z.B. das Verhältnis des römischen Privatrechts … zur modernen Produktion.“[27]

Die Rechtsform spiegele also lediglich eine „umgekehrte Reihenfolge derselben zwei entgegengesetzten Prozesse, Verkauf und Kauf“ wider. Ihr qualitativer Unterschied bleibe unberücksichtigt. Und so bleibe im Verborgenen, dass der Austausch Kapital – Arbeit genau genommen kein Austausch ist, weil er lediglich zwei zusammen gehörige Gestalten von Arbeit: Kapital (=vergegenständlichte Arbeit) und lebendige Arbeit zu einer handlungsfähigen Einheit, zur Unternehmung, zusammenführt. Der eigentliche Austausch knüpfe hingegen an das Produkt an, das aus dem Handeln einer produzierenden Einheit hervorgeht.[28]

Der „Auseinanderfall“ beider, kapitalistische Produktionsverhältnisse hier, „römisch“ gebliebene Rechtsverhältnisse dort: diese ungleiche Entwicklung ist für Marx der „eigentlich schwierige Punkt“[29], den es zu erörtern gelte.

Qualitativ Ungleiches wird auf dieser Ebene gleich gemacht. Und so wird diese Ebene zum – wie Marx sagt – „versteckten Hintergrund“ [30].

Und was wird versteckt? Ein „Etwas“ das zwar zur bürgerlichen Gesellschaft gehört, aber von ihren Rechtsverhältnissen nicht ausgewiesen wird. Diese „Einzigartigkeit“[31] sei die „Aneignung fremder Arbeit ohne Austausch“.

Über den einen Austausch erhält der Arbeiter – rechtlich begleitet - als Gegenwert seiner Arbeitskraft einen Lohn, der ausreicht, die Reproduktion seiner Arbeitskraft sicherzustellen. Der andere Austausch, der sogenannte „Stoffwechsel“, ist, weil er der Produktionssphäre angehört, rechtlich irrrelevant, weswegen der aus ihm resultierende Mehrwert, ohne dass gegen das Recht verstoßen wird, auch allein von dem oder den Kapitalisten „eingesackt“ werden darf. Dieser Austausch geht also am Recht vorbei. Er ist gewissermaßen dessen „blinder Fleck“. Rechtsstaat hin, Rechtsstaat her: hier darf sich der Arbeiter vom Recht nichts erhoffen.

Liegt das daran, dass ein antiquiertes, tausend Jahre (zu) altes Recht zur Anwendung kommt? Oder ist das Recht generell „blind“ für diesen Austausch?

Kapitalistische Produktionsverhältnisse und römischen Recht. Wie verträgt sich das?

Obwohl in den „Grundrissen“ an vielen Stellen thematisiert, bleibt die „Erörterung“ der Frage in den späteren Arbeiten aus – gerade auch in seinem Hauptwerk. Zeit seines Lebens findet Marx keine Gelegenheit, diesem „schwierigen Punkt“ – dieser „Lücke“ im Recht – zu Leibe zu rücken. Weder er noch Friedrich Engels[32] hinterfragen diese „ungleiche“ Entwicklung. Sie verbleiben bei dem Standpunkt, dass es jetzt – bei kapitalistischen Produktionsverhältnissen – durchaus seine Richtigkeit hat mit diesem „römischen“ bzw. „römisch“ geprägten Recht. Frühere Wendungen in ihren Werken, die den Eindruck erwecken, dass das römische Recht beim Übergang zum Kapitalismus deswegen „als das Recht der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft geltend gemacht werden musste“[33], weil ein besseres, weil ein adäquates Recht noch nicht zur Verfügung stand – also aushilfsweise – werden nicht weiter verfolgt. Es überwiegen die Bemerkungen, die in eine andere Richtung deuten und in denen zum Ausdruck kommt, dass das römische Recht als das Verkehrsrecht jeder Warenproduktion anzusehen ist, also auch der kapitalistischen. Das sind jene Stellen, wo Marx ausführt, dass das Recht den Umschlag von der einfachen zur qualifizierten Warenproduktion nicht mit vollzieht (und auch nicht mit vollziehen kann!), weil es generell „blind“ dafür sei. Entstand zunächst der Eindruck, als habe Marx das Unvermögen, den „versteckten Hintergrund“ sichtbar zu machen, mit der Unzulänglichkeit des „römisch“ geprägten Rechts begründet, so zeigt sich nun, dass er dieses Unvermögen auch auf das der bürgerlichen Gesellschaft adäquate Recht erstreckt.

Der eine Austausch bezieht sich auf das bereits fertige Produkt, sei es die Ware „Brot“ oder die Ware „Arbeitskraft“. Er findet vor und nach der Produktion unter Personen statt. Der andere Austausch, jener „Stoffwechsel“ im Rahmen der Produktion, ist ein Austausch von Sachen, der vom Recht, jedenfalls von diesem Recht, nicht erfasst wird. Kurz gesagt: Das Recht macht, wie die bürgerliche Gesellschaft selbst, vor den Toren der Unternehmung halt. Wie der Bauch, der das Brot verdaut, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts liegt, so auch die Unternehmung, die die Arbeitskraft gebraucht. Zutreffend daher, wenn Carl Schmitt formuliert, dass die bürgerliche Gesellschaft das ist, was nach Abzug von „Staat“ und „Industrie“ als Rest verbleibt[34]: die Sphäre der Zirkulation. Sie und ihr Recht werden zum „Versteck“ wichtiger Sachverhalte, die sich um das „Produzieren“ ranken. Sie steht im Licht, im Dunkeln hingegen jener Bereich, der den größten Teil der aktiven Lebenszeit absorbiert.

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Kein Jurist ist in der Umsetzung der praktischen Philosophie Hegels weiter gekommen als er. Kann man Hegel als den philosophischen Stammvater des Sozialstaates bezeichnen, so wäre Gierke als derjenige zu nennen, dem es gelang, den philosophischen Ansatz Hegels für sein Sozialrecht fruchtbar zu machen. Das gelingt ihm, weil er tragende Prinzipien und Begriffe der Hegelschen Philosophie auf der Grundlage gediegener Kenntnisse der historischen Abläufe und Zusammenhänge für das Recht aufgreift und sie zu verbinden versteht. Er tut dies anhand eines Daseinsbereiches, der damals das „Schwarze Loch“ des Rechts war – der Produktionssphäre. Der wichtigste Ort im Leben jeder modernen Gesellschaft, der Ort, in dem die materiellen Grundlagen menschlichen Daseins geschaffen werden, der Ort, in dem der Mensch den größten Teil der aktiven Lebenszeit verbringt. Und gerade er liegt außerhalb des Privatrechts.

Das war nicht immer so; es war nicht so, solange die „Wirtschaftsfamilie“ die ökonomische Grundeinheit der Gesellschaft war.

Wo Marx auf die Revolution setzt, sucht er nach einer juristischen Lösung. Und er macht es sich nicht leicht, bleibt nicht an der Oberfläche. Wie Helga Spindler zutreffend formuliert: Gierke gewinnt – und das nahezu zeitgleich[35] mit Marx - „als erster und einziger Jurist einen tiefen Einblick in die ökonomische Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus“[36]. Er steht also nicht nur Hegel, sondern auch, wenn man davon absieht, dass das „Endziel“ sie trennt, Marx nahe. Beide teilen die Erkenntnis, dass der Austausch Lohnarbeit – Kapital  von besonderer Art ist.

Gierke gehört der Historischen Rechtsschule an. Aber ihrem germanistischen Teil. Er setzt nicht bei „Rom“ an, sondern bei dem, was „Rom“ nachfolgt: bei den feudalen Verhältnissen des römischen Reiches deutscher Nation. Ihrem „unfertigen“[37] – noch eng mit der Sittlichkeit verwobenen – Recht gilt sein Interesse. Wie auch F. Engels[38], sieht er hierin das weiterführende, das über „Rom“ hinausweisende Moment. Rom hat sich in einem strikten Gegenüber, in die Scheidung der Menschen in Freie und Sklaven verrannt. Genereller gesagt: alle Verhältnisse werden in ein Entweder-Oder aufgeteilt und sich entgegengestellt. Eine „ausweglose Sackgasse“, konstatiert Engels. Ein neuer Anlauf ist nötig. Und so wird es die „historische Tat der Deutschen“, ihren „unfertigen Staat“, ihr „unfertiges Recht“ in die Konkursmasse Roms einzubringen. Gerade die unentwickelten Zustände werden zur „Brücke“ zwischen Rom und der Neuzeit.

Der eine –Savigny – nutzt „Rom“, um damit den Bruch mit allem Germanischen zu begründen. Der andere – Gierke – müht sich um den erhaltenswerten und weiterführenden Kern des letzteren, macht dessen „Sozialität“ geltend, will sie vor der Ausstoßung aus dem Rechtsbegriff der Moderne bewahren. Denn immerhin: diese „Sozialität“ war es, die Europa aus „dem Schlamm der Römerwelt“ herausgeführt hat. Sie ist „das geheimnisvolle Zaubermittel, wodurch die Deutschen dem absterbenden Europa neue Lebenskraft einhauchten“.[39] Aber gerade sie und die juristischen Institute, in denen sie sich zeigt, sollen jetzt „ausgemistet“ werden.

Und das werden sie auch. „Unter allen eigentümlich germanischen Bildungen traf die zwischen Staat und Individuen vermittelnden Verbände der tödlichste Pfeil der naturrechtlichen Doktrin.“[40] Sie werden ausgemerzt zugunsten eines souveränen Staates und eines souveränen Individuums. Folge ist „die Auflösung des sozialen Körpers“[41]. Solche Kritik galt vielen seiner Zeitgenossen als unzeitgemäßes Festhalten an feudalen Restposten. Was Gierke aber im Blick hat, ist das, was an ihre Stelle tritt, wenn man den Gesamtvorgang als „Aufhebung“ betrachtet. Sein wissenschaftlicher Ansatz ist daher  fundierter als jener, den die Hauptströmung der deutschen Rechtswissenschaft pflegt. Diese ist gerade damit beschäftigt, ein Recht zu positivieren, das der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise optimal entgegenkommt. Man ist in Eile. Ohnehin ist man gegenüber England und Frankreich in Verzug. Der Grundzug dieser Anstrengungen ist die juristische Festschreibung der „Umkehrung“. Soweit sie ihr Tun überhaupt philosophisch legitimiert, dann mit einem Kant, dessen Werk um die weiterführenden, auf Hegel hinweisenden, Momente bereinigt ist.

Das neuere Naturrecht, erkannt als das Recht der bürgerlichen Gesellschaft, macht das Rennen. Das römische Recht wird genutzt, es positiv zu machen.

Wider den Zeitgeist widmet Gierke sich dem „versteckten Hintergrund“, leuchtet in ihn hinein. Da er die Unternehmung als Form der modernen Wirtschaftsfamilie sieht, ist sie für ihn weder mit dem „Kapital“, weder mit der „Lohnarbeit“, noch mit beiden identisch. Als eigenständige Wesenheit enthält sie diese beiden Komponenten zwar, erschöpft sich in ihnen aber nicht. Kapitalist und Lohnarbeiter sind in ihr zu jener „personenrechtlichen Gemeinschaft“ verknüpft, die „zur beherrschenden Rechtsfigur der Privatrechtskritik“[42] seiner späteren Jahre avanciert. Mit ihr gewinnt Gierke Anschluss an Hegel. Wie für diesen die Familie „Person“[43] ist, ist für Gierke die Unternehmung allein aus dem Faktum der „Kollektivität“ heraus eine „Person“; eine originäre natürliche Person. Damit sind die Dinge gerade gerückt. Die „Vogelscheuche“[44] juristische Person ist vom Platz gejagt. Wie es Siegfried Marck ausdrückt: mit der Erhebung zur „echten“, zur „natürlichen“ Person, wird der Unternehmung das ihr „Gebührende zuteil“[45].

Gierke entlehnt von Kant dessen „auf dingliche Art persönliche Recht“, dieses Binnenrecht „organisierter Wesen“[46]. Sein Regelungsbereich: Das Verhältnis der Teile zum Ganzen und des Ganzen zu den Teilen, das Kant bereits mit Formulierungen beschreibt, die jenen Hegels in der „Wesenslogik“ verblüffend nahe stehen.[47] Es ergänzt die tradierte Einteilung. Die juristische Welt ist auflöst in Dichotomien, wo in Wirklichkeit Tetrachotomien[48] existieren, rügt Kant. Was bisher für „Recht“ gilt hält er für ein bloß „aufgerafftes Aggregat“, welches die Rechtswissenschaft, bliebe es dabei, zu einer „bloß statuarisch[en]“, metaphysisch bereinigten Wissenschaft, machen würde. Daher: keine bloße Dichotomie, die aus jedem Recht „entweder ein dingliches oder ein nicht-dingliches Recht“[49] macht!

Von der Kollegenschaft bis heute verworfen, weil es, allgemein gesehen gegen das individualistische Weltbild der Aufklärung, speziell juristisch gesehen: gegen die aus Rom tradierte Einteilung in Schuldrecht und Sachenrecht, verstößt[50], nutzt Gierke das „auf dingliche Art persönlichen Recht“, um es der eindimensionalen Weltsicht seiner Zeit entgegen zu halten. Er sieht darin das Binnenrecht kollektiv produzierender Einheiten. Der „Organismus“ wird so zur Plattform, von der aus er das „auf dingliche Art persönliche Recht“ Kants, zu seinem, auf die wirtschaftlichen „Verbandspersonen“ bezogenen, „Sozialrecht“ formt. Eine dritte Säule, die zu der bisherigen Einteilung hinzukommt, ist damit gefunden. Sie macht Schluss mit einer im rechtsfreien Raum angesiedelten Produktionssphäre.

Ein „(verbands-)internes“ Privatrecht. Ein Binnenrecht der kapitalistischen Unternehmung. Jedes Glied hat ein „dingliches“ Verhältnis zu „seinem“ Organismus; jedes ist an ihm beteiligt, insbesondere an ihrem Ertrag. Und wiederum ist jedes Glied der Verbandsperson persönlich verpflichtet.

Gierke führt also das „auf dingliche Art persönliche Recht“ gegen jene Gleichschaltung der Personen und jenem Verlust von Dimensionen des Rechts ins Feld, die Folgen des zu seiner Zeit herrschenden philosophischen und rechtswissenschaftlichen Individualismus sind. Es ist die Leistung Gierkes, in der „Wirtschaftsfamilie“ den gemeinsamen Stamm dieses Rechts erkannt zu haben. Das Produzieren erfolgt im Zusammenwirken von „lebendiger“ und „vergegenständlichter“ Arbeit. Nur diese beiden Komponenten zusammen bringen einen „Zugewinn“ hervor. Dieser ist Eigentum, das einerseits der „Verbandsperson“, andererseits als Gesamthandseigentum ihren Gliedern zugeordnet und an diese im Fall der Auseinandersetzung anteilig auszukehren ist.

Das „auf dingliche Art persönliche Recht“ führt zwei Begriffe zusammen, die zusammen gehören wie die Vorder- und Rückseite einer Medaille: „Ding“ und „Person“. Eine Verbindung, die im Falle der Arbeitskraft, dem wichtigsten Fall von Eigentum[51], schon aus biologischen Gründen unlösbar ist. Das römische Recht aber sieht in ihr eine Sache, die ist wie jede andere. Es setzt sich über den biologischen Befund hinweg und degradiert den ganzen Menschen zur Sache. Und jetzt? Auch jetzt wird dieses Recht, nun auf der Grundlage der Fiktion, wonach die Arbeitskraft wie jede gewöhnliche Sache von ihrem Eigentümer getrennt, also auch getrennt von ihm ver- und gekauft werden kann, zur Anwendung gebracht. Eine Fiktion, die Marx aufgreift und ihn sagen lässt:  Der Arbeiter betritt als Sache die „verborgne Stätte der Produktion“. Ihr Träger, die Person, bleibt vor der Tür. Für sie gilt: „No admittance except on business“.[52]

 

Arbeitsverhältnisse, die mit der römischen Sklavenmiete begründet werden[53]:

Denn das ist in Rom der Modellfall. Vermieter und Ware sind getrennt. Jetzt stehen wir vor der Situation, dass der Lohnarbeiter zugleich Mietsache ist. Was in Rom auf zwei Menschen „verteilt“ war, ist jetzt in einem einzigen Menschen vereinigt, der in Personalunion als Vermieter und Mietsache zugleich fungiert. Er ist Rechtssubjekt, bezüglich seiner Arbeitskraft aber Rechtsobjekt. Eine höchst widersprüchliche Situation folgt daraus. Die „Mietsache“, nur sie, untersteht jetzt dem Willen des Mieters, ist dessen „Direktion“, ist dessen „Plan“ unterworfen. Und ihr Träger, der Mensch? Er und sein „freier Wille“ sollen, so die Theorie, von der ganzen Transaktion unberührt bleiben.

Wäre da nicht diese Fiktion, würden wir sagen, es liegt ein Fall der „Konfusion“ vor, der im Normalfall ein bestehendes Schuldverhältnis erlöschen bzw. es gar nicht erst entstehen lässt. Hier aber soll es anders sein. Um das glaubhaft zu machen, muss die schwerwiegende „Verunreinigung“ des an sich klaren Sachverhaltes mit „Konstruktionen“ überbrückt werden, was heißt: aus einem Dreiecksverhältnis wird eine Zweierbeziehung gemacht. Was objektiv die Qualität von „Sozialrecht“ hat, wird in bloß „verwickelteres Individualrecht“[54] umkonstruiert.

 

Die Unternehmung als eine Privatperson ansehen statt als „Kollektivperson“: Das ist für Gierke der  Hintergrund seiner Attacke gegen die „juristische“ Person. Denn da die „Person“ untrennbar mit dem Eigentum verknüpft ist, alles Privatrecht also auf „Person“ und „Eigentum“ hinausläuft, bedeutet die Abkehr von der „Kollektivperson“ zugleich auch die Abkehr von einem „Kollektiveigentum“. Die juristische Person, diese Subjektivierung der Sache „Kapital“, diese Kunst-Person, trennt also die zwecks „Produktion“ zusammengeführten und zusammengehörigen Sachen und trennt zugleich auch die Sache „Arbeitskraft“ von den „Früchten“, die aus dem Zusammenwirken hervorgehen.

Und wieder zeigt sich, wie sehr das römische Recht dieser Abkehr entgegen kommt:

Die römische Familie stand, von Ausnahmen abgesehen, im Eigentum des Hausvaters. Die Rechtsstellung des germanischen Familienvaters war schwächer; er war Oberhaupt, aber nicht Eigentümer; Eigentümer war die Familie selbst – und jedes Familienmitglied war an ihr beteiligt. Die Abkehr von der „Kollektivperson“ bewirkt also im Falle der Unternehmung, dass sie zum Privateigentümer all dessen wird, was in ihrem Inneren an Vermögen „kollektiv“ neu geschaffen wird. Im Mittelpunkt steht dabei der „Zugewinn“, der nach familienrechtlichen Kriterien im Falle einer Scheidung unter den Ehepartnern, nach sozialrechtlichen Kriterien unter den Gliedern der Unternehmung aufzuteilen wäre.

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Wie bereits erwähnt:

Kants „auf dingliche Art persönliche Recht“, dieses Binnenrecht „organisierter“ Wesen, dient ihm einer Neuinterpretation des Austausches von Lohnarbeit und Kapital. „Ding“ und „Person“, Schuld- und Sachenrecht sind darin zur Einheit gebracht. Um deutlich zu machen, dass beide Elemente nur einen Teil der Beziehung abdecken, die beide Seiten eingehen, gebraucht Gierke den Oberbegriff Arbeitsverhältnis. Damit ist hervorgehoben, was Marx unter „objektiver Assoziation“ fasst: die Zusammenführung und Vermittlung zweier Teile in einem Übergeordneten und durch dieses.  Beide Teile sind die „Glieder“ eines Ganzen. Weil die Partner sich auf dem Markt erst finden und binden müssen, wird das schuldrechtliche Element Teil des Arbeitsverhältnisses. Aber Gierke lässt keinen Zweifel daran, dass das objektive, das vorgegebene Element „Kollektivität“ im Vordergrund steht. Ja, das Arbeitsverhältnis ist auch Schuldvertrag, aber nicht in erster Linie. „[D]as moderne geschäftliche Unternehmen [ist] eine Form personenrechtlicher Verbindung“! Zäumt man diese Verbindung von hinten, vom Vertrag auf, wird hingegen das nachgeordnete Element tonangebend gemacht. Aber: „Löst da wirklich das gemeine Privatrecht seine Aufgabe, wenn es gleich dem Vogel Strauß den Kopf in den Busch steckt und bei dem lügenhaften Schema des streng individualistischen reinen Obligationenrechtes verharrt?“[55] Und die soziale Folge dieser Lüge: Die Einordnung des Arbeitsvertrages in das Schuldrecht „gibt den … Arbeiter dem Kapitalisten wehrlos in die Hand.“[56]

Der schuldrechtliche Vertrag steht eher am Rande. Die Zweier-Beziehung tritt hinter eine Dreiecks-Beziehung zurück bzw. – wie Gierke formuliert – hinter den „Organismus“. Wer nur einen Austausch von „Dingen“ sieht oder sehen will, verfehlt also diese körperschaftliche Dimension. Nicht nur die Arbeitskraft, sondern der ganze Mensch wird in die Unternehmung „eingegliedert“[57], untersteht als „Glied“ ihrem „Plan“ und ihrer „Direktion“. Die Folge: er büßt während der Arbeitszeit einen Teil seiner Souveränität ein, er tauscht seinen Status als „Person“ gegen den minderen Status als „Glied“ ein. Ein Verlust, der zugleich ein Gewinn ist. Denn als „Glied“ ist er mehr als bloß „Sache“. Es bezeichnet eine Rechtsstellung und ein Beteiligungsverhältnis am Zugewinn der Unternehmung.

 

Im „Glied“ sind die beiden Grundelemente des „auf dingliche Art persönlichen Rechts“ zusammengeführt: „Ding“ und „Person“. Die „Gliedschaft“ ist das neue, das gegenüber „Rom“, weiterführende Element der Wirtschaftsfamilie. Sie betrifft beide: Der „Freie“ wird zum Glied erniedrigt und der Sklave wird dazu erhöht. Die Feudalität beendet das „römische“, rein sachenrechtliche, Verhältnis zum Arbeiter. Sie ersetzt es durch ein personenrechtliches Verhältnis, das für beide Seiten Rechte und Pflichten bereit hält. Dieses Neue und Weiterführende überlebt den Zerfall der Wirtschaftsfamilie und setzt sich in ihren Zerfallsprodukten - „Kleinfamilie“ und „Unternehmung“ - fort. Jedermann ist dort „Glied“, wenn auch die individuelle Stellung und die individuelle Aufgabe innerhalb der „Verbandsperson“ eine ganz verschiedene und ungleiche ist, wenn auch der eine ein „schwaches“, der andere ein „starkes“ Glied ist, wenn auch der eine oben steht, der andere unten.   

Das Glied hat – gebunden an seinen jeweiligen Aufgabenkreis im Unternehmen – Rechte und Pflichten, die zu einer konkreten „Rechtsstellung“ führen. Mathematisch gesehen, nimmt das „Glied“ eine Mittelstellung zwischen „Person“ und „Sache“ ein. Und das kann man auch für das Recht sagen, das sich um den Begriff „Glied“ rankt und von Gierke „Personenrecht“ genannt wird – ein Recht, das sich als Binnenrecht der Verbandsperson versteht. Es hat die Rechte und Pflichten der Glieder zum Gegenstand. Es ordnet sie in den Organismus der „Verbandsperson“ ein; es weist ihnen ihre Stellung in der “Glieder-Hierarchie“ zu. „Gliedstellung“ und „Rechtsstellung bilden eine Einheit.[58]

 

Im Übrigen ist die Person damit nicht negiert. Gierke zeigt nur auf, dass ihr Freiheitsraum tatsächlich geringer ist als fleißige Ideologen behaupten und die juristische Konstruktion vorspiegelt. Das „Glied“ ersetzt die Person in einem Bereich, wo diese ohnehin nur Fiktion ist.

„Gliedschaft“ statt Sklaventum. Für Gierke ist es undenkbar, „dass wir hier auf die Dauer bei dem im römischen Sklavenrecht wurzelnden Schema der nach dem Muster der Sachmiete geformten Dienstmiete stehen bleiben.“[59] Er betont: was für die „Wirtschaftsfamilie“ galt, gilt auch für die jetzige Unternehmung. Auch sie ist vom Recht durchdrungen, jedoch – aristotelisch gesehen – nicht von einem kommutativen, sondern von einem distributiven Recht, von einem Recht also, das aus dem Rahmen des jetzt tonangebenden Privatrechts fällt.

Das römische Recht ist für die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft nicht gemacht. Was so nah erscheint, ist durch tausend Jahre von uns getrennt. Das Verhältnis Lohnarbeit – Kapital war in Rom unbekannt, zeigt sich dort allenfalls als Vorstadium. Wo sich auch damals schon ein Freier als Arbeiter verdingen musste, fand die Praxis daher auch nur eine pragmatische, begrifflich[60] „unsaubere“, Lösungen, die die Grenzen des römischen Rechts aufzeigen.

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Gierke hat als Quelle des „Sozialrechts“ den zentralen – besser: den „zentralsten“ – Lebensbereich erkannt und ihn dem juristischen Dunkel entrissen: die Sphäre der Produktion und der Arbeit. Sein Verdienst ist es, eine Dimension des Privatrechts (wieder-)entdeckt zu haben, die außerhalb der herkömmlichen Einteilung gelegen ist und bis heute – gerade heute – ignoriert oder geleugnet wird. Jener Teil des Rechts ist entdeckt, der Ansprüche des Lohnarbeiters formuliert und durchsetzbar macht, die über den bloßen Lohnanspruch hinausgehen.

Aus der „Kollektivität“ des Vorgangs „Produktion“ folgt, dass der „Zugewinn“ daraus Eigentum der „Kollektivperson“ wird. Und dieser muss an alle, die ihr als Glieder angehören, verteilt werden – wenn auch je nach ihrer „Stellung“ im Unternehmen, also nicht  unterschiedslos.

 

Gierke gelangt zu einem individuell einklagbaren Anspruch der Glieder auf Beteiligung am Zugewinn. Es sind privatrechtliche Ansprüche, die vor die Zivilgerichte gehören. Der Begriff „Sozialrecht“ hat damit bei ihm eine andere und ungleich tiefere Bedeutung als der uns geläufige. Heute verbindet sich mit ihm eine dem öffentlichen Recht zugeordnete Materie, die als geltendes Recht im vor-digitalen Zeitalter meterweise Regalwand beanspruchte und alle Ansprüche regelt, die der bedürftige Bürger gegen den Staat hat. Rechte dieser Art stehen bei Gierke nicht im Mittelpunkt. Sein „Sozialrecht“ ist ein besonderes Privatrecht, das dem Lohnarbeiter Ansprüche aus seiner Tätigkeit in der Produktion zuspricht, die über seine schuldrechtlichen Ansprüche hinausgehen. 

Nicht der Staat ist für Gierke die Quelle der sich aus dem Sozialrecht ergebenden Ansprüche, sondern die Produktionseinheiten, in denen der werktätige Mensch sein Arbeitsleben verbringt. Gegen sie, nicht gegen den Staat, sind die materiell-rechtlichen Ansprüche gerichtet, die sich aus der „Gliedschaft“ ergeben.  

Gierke nähert sich der sozialen Problematik nicht, indem er für eine Seite, für einen der Teile, Partei ergreift, sondern von „oben“, vom „Ganzen“. Seine Warte ist die der „Wirtschaftsfamilie“ und des „Zugewinns“. Das bewahrt ihn vor einseitiger Parteinahme. Marx hingegen ergreift Partei für eines der Teile. Er nimmt eine Gegenposition ein, nicht die der „Vermittlung“. Seine Mehrwerttheorie geht davon aus, dass nur die „lebendige“ Arbeit den Mehrwert erzeugt, dass dieser dem Proletarier also ganz entzogen wird und nicht nur anteilig. Er sieht in den beiden Teilen nicht Partner, sondern Gegner. Erklärlich, dass er von dieser Position aus kein Interesse an einer Vermittlung haben kann, ja eine solche nicht nur weiträumig meidet, sondern sie mit aller Schärfe bekämpft. Vermittlung ist der Tod der Revolution. Aus dem gleichen Grunde hat er kein Interesse an der juristischen Aufarbeitung des Innenlebens der Unternehmung. Für die Revolution ist es besser, wenn der Proletarier dem „harten“[61] Schuldrecht ausgesetzt ist als einem Personenrecht a la Gierke. 

Gierkes „Sozialrecht“, verstanden als jener Teil des Privatrechts, der die Binnenbeziehungen der Verbandsperson „Unternehmung“ abbildet, hat sich in der Hauptsache nicht als ein Bestandteil unserer Rechtsordnung durchsetzen können. Gleichwohl ist sein Wirken nicht erfolglos geblieben. Jedoch ging die Entwicklung andere Wege. Sie folgte eher Hegel als ihm.

Hegel gelangt, gestützt auf die Erkenntnisse aus seiner „Wesenslogik“ in seiner praktischen Philosophie zum „Sozialstaat“. Über seine, in den „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft inkorporierten Elemente „Polizei“ und „Korporationen“ korrigiert er die Gerechtigkeitslücken, die ein „römisch“ verstandenes Privatrecht mit sich bringt, mildert sie jedenfalls so ab, dass die Gefahr einer „Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft“ gebannt ist.[62]

Und dennoch:

In der Sache stehen sie sich nahe. Denn auch Hegel versteht den Anspruch des „Bedürftigen“ als (Privat-)Rechtsanspruch. Aber mit seiner Lösung begegnet er einem zentralen Problem des sozialrechtlichen Anspruchs a la Gierke: der Schwierigkeit, ihn in der Praxis zu realisieren. Man denke nur daran, dass der Lohnarbeiter in seinem Arbeitsleben regelmäßig gezwungen ist nicht nur eines, sondern mehrere Arbeitsverhältnisse einzugehen. Und jedes Ende eines solchen wäre ein Auseinandersetzungsfall. Hinzu kommt, was jeder Praktiker weiß: wie schwer gesamthänderische Ansprüche vor Gericht zu handhaben sind. Ein individuelles Vorgehen würde also die Justiz überfordern und für die Anspruchsteller de facto Rechtsverluste bedeuten. Hier liegt also der Schwachpunkt. Deswegen bietet die Hegelsche Sozialstaats-Lösung die größeren Vorteile. Mit ihr verbindet sich die Übertragung des privat- bzw. sozialrechtlichen Anspruchs auf den Staat bzw. auf ihm zu- und nachgeordnete Einrichtungen mit dem Auftrag, diesen für die Berechtigten geltend zu machen. Und auch an dieser Lösung kann sich Gierke über seine Mitgliedschaft im 1873 gegründeten Verein für Socialpolitik beteiligt sehen. Denn dieser Verein bewirkte durchaus einiges von dem, was im  deutschen Reich unter Bismarck als „Sozialstaat“  begann und sich im heutigen Sozialstaat fortgesetzt hat. Auch das aus den politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen der Arbeiterbewegung hervorgehende kollektive Arbeitsrecht, wie es ab Ende des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der Praxis wird, steht der Intention Gierkes sehr nahe – und so wurde das auch von Hugo Sinzheimer u.a. anderen gesehen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Materie auf den Begriff zu bringen. Gleichwohl ist hier noch vieles offen geblieben – theoretisch wie praktisch.[63] Ebenso sind aber auch viele positive Ansätze dieser Zeit wieder aufgegeben oder zugeschüttet worden. So die Erkenntnisse des sog. „Institutionalismus“, die dahin führen, das Unternehmen als eine „Arbeits- und Betriebsgemeinschaft“ zu sehen, die abgelöst vom Betriebsinhaber bzw. von den Gesellschaftern besteht. Wurden sie zur Seite gelegt, weil sie von Faschisten und Nationalsozialisten aufgegriffen und, erweitert auf die Ebene des Staates, zur Begründung totalitärer Staatlichkeit missbraucht wurde? Oder deshalb, weil die damals starken Gewerkschaften sich darauf beriefen?[64] Tatsache ist, dass sie in die heile liberale und neo-liberale Denkwelt nicht hineinpassen und aus dieser Sicht als vom Teufel selbst abstammend angesehen werden, wenn man sich ihre praktischen Auswirkungen vor Augen führt.

Die personenrechtliche Auffassung Gierkes dominierte noch bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts die arbeitsrechtliche Diskussion in der BRD.[65] Und sie war noch bin in die 80-er Jahre fester Bestandteil der Rechtsprechung, erst jener des Reichsarbeitsgerichts[66], dann der des Bundesarbeitsgerichts. Dann aber wurde sie, nahezu neunzig Jahre nach Inkrafttreten des BGB, mit der vergleichsweise billigen Begründung verabschiedet, sie sei „mit der eindeutigen gesetzlichen Regelung des Arbeitsverhältnisses in § 611 ff. BGB als schuldrechtliches Verhältnis“ nicht vereinbar.[67] Hilfsweise wird darauf verwiesen, dass heute jedes Arbeitsverhältnis in eine Unzahl öffentlich-rechtlicher Normen eingebettet ist, deren Aufgabe es ist, den pfleglichen Umgang mit der Arbeitskraft des Arbeitnehmers durch das Unternehmen sicher zu stellen. Die Person des Arbeitnehmers sei also ausreichend geschützt, so dass es schon von daher entbehrlich sei, das Arbeitsverhältnis personenrechtlich zu interpretieren.

Warum diese Abkehr jetzt und warum mit so dürftiger Begründung?

Ein rigider Wirtschaftsliberalismus brach sich Bahn. Von Keynes zu Friedman, zu Mises, zu Hayek. Zurück zum Manchestertum. Erst in der Theorie, dann auch in der Praxis. Mit dem Amtsantritt Reagans wurde seit Anfang der 1980er Jahre die wirtschaftsliberale Rezeptur nicht nur zur Politik der USA, sondern auch zur Politik nahezu aller Staaten. Die global agierende Wirtschaft trat ihren Siegeszug an. Nationalstaatliche Beschränkungen, wo es solche gab, wurden beiseite geschoben - auch in Deutschland. Die von Gierke damals beklagte „schonungslose Ausbeutung geistiger und wirtschaftlicher Übermacht“[68] erlebte ihre Wiedergeburt und einsamen Höhepunkt. Eine in der Geschichte beispiellos dastehende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten ganz Weniger setzte ein. Man denke an das Auseinandertriften der Einkommen seit dem Jahre 1980, das längst die Grundfesten vieler nationaler Gesellschaften und ihrer politischen Systeme erschüttert. In Windeseile vergrößerte sich (in den USA) der Abstand zwischen den durchschnittlichen Arbeiterlöhnen und den Löhnen der Topmanager von 1: 40 auf den Wert 1:400 (Stand im Jahr 2006). Das führt schon längst – und trotz aller Predigten an die ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten, nicht dem „Sozialneid“ zu verfallen – zur „Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft“[69]. Diese Kluft hat auch einem Donald Trump den Weg ins Präsidentenamt geebnet und wird sicher auch in Europa noch so manchen Oligarchen auf den Thron bringen.

Was nun diese „Fabrikgesetzgebung“ zum Schutze der Arbeitskraft, die es, wenn auch nicht im heutigen Umfang, bereits zu Zeiten Gierkes gab, anbelangt:

Sie hat nicht zu tun mit der privat- und damit eigentumsrechtlichen Dimension, um die es Gierke geht. Aber gerade diese Dimension ist gemeint und getroffen, wenn das „personenrechtlich“ aus dem Sprachgebrauch des Arbeitsrechts verbannt wird. Denn nichts passt weniger zur neo-liberalen Theorie und Praxis als ein auf diesen Begriff fußendes Verständnis des Arbeitsverhältnisses.

Gleichzeitig zeigen aber die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, dass der neo-liberale Kapitalismus auf die Freiheit vom Staat nur pocht, wenn alles gut läuft. In solchen Zeiten werden die Gewinne eingestrichen und die Unternehmen „schlank“ gehalten. Aber die nächste Krise, der nächste Einbruch des fragilen Wirtschaftssystems ist gewiss. Und die Zeit kommt, wo die Profiteure des Neo-Liberalismus den Staat am lautesten und am erfolgreichsten um „Staatshilfen“ angehen.  

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Viele kennen ihn. Aber wer folgt ihm? Wie Hegel schwimmt er gegen den Strom. Wie dieser gilt er,  was seine Staatslehre anbetrifft, nicht Wenigen schon zu Lebzeiten als ein Apologet des preußischen Machtstaates. Er taugt nicht zur Legitimierung der Weimarer Republik. Und obwohl unter dem Stichwort „Gemeinschaft“ der erste Anschein dafür sprach, obwohl viele Stimmen auf ihn wiesen: Gierke wurde auch im „Dritten Reich“ nicht wiederentdeckt. Reinhard Höhn[70] nahm im Auftrag der Partei eine Tiefenprüfung vor. Für ihn ist „Gierkes Rechtssystem der letzte große Pfeiler, der uns im Kampf um die Rechtserneuerung … entgegensteht.“[71] Sein „Fehler“ war, dass er die von ihm erkannte verbandsinterne „Gliedschaft“ nicht auf das Staatsganze erstreckt, dass die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft für ihn eine Errungenschaft von bleibenden Wert, ein „Fundamentalprinzip“[72] ist und bleibt. Insoweit ist Höhn also recht zu geben:

Gierke war kein Vordenker dieser Zeit und dieser Leute. Er steht fernab des „Völkischen“. Gierke war ein Liberaler. Jedoch kein Dutzendliberaler. Er sieht nicht im Atom – in der egoistischen Person – die soziale Grundeinheit, sondern im Molekül – in der Kollektivperson.

Gierke und sein Werk waren meines Wissens in der DDR nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung. Und hätte es eine solche gegeben, hätte man seine sozialrechtliche Anschauungsweise sicher als eine Ausgeburt des geschmähten „Juristensozialismus“[73] angesehen. Im Übrigen hätte auch hier einer positiven Beurteilung entgegengestanden, dass Gierke das „Fundamentalprinzip“, die Einteilung in privates und öffentliches Recht nicht infrage stellt. Das passt nicht zu einer Gesellschaft, in der alles Recht öffentlichen Charakter trägt.[74]

Und die Bundesrepublik? Wenn er auch in ihrer Sozialstaatlichkeit fortlebt: Kaum einer wird behaupten, dass sie ihn wiederentdeckt hätte. Wieder steht im Wege, dass Gierke kein Dutzendliberaler ist. War es in den auf 1933 folgenden Jahren das „Völkische“ und das auf „Volk“ gegründete Führertum, die ihm abgingen, so stört jetzt seine im Bereich des Produzierens angesiedelte „Kollektivperson“.

Gierke passt nicht in das heute vorherrschend gewordene neoliberale Weltbild. Er leuchtet zu tief in einen Bereich hinein, dem das Dunkel lieb ist. Ein Bereich, der gerade in der Gegenwart Ort einer beispiellosen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten weniger ist und es nach dem Willen dieser wenigen auch bleiben soll. Er legt das „Versteck“ offen. Er rührt an etwas, das unberührt bleiben möchte.

 

 



[1] Vgl. dazu: Georg Gurwitsch, Otto v. Gierke als Rechtsphilosoph, Logos, XI. Bd. (1922/23), S. 86-132. Soweit ich sehe, bringt lediglich W. Schönfeld (Puchta und Hegel, in: Rechtsidee und Staatsgedanke, FS f. J. Binder, Berlin 1930, S. 29) Gierke mit Hegel in Verbindung: O. v. Gierke, dessen Lehre, wenn auch „vielleicht unbewusst vom Geiste Hegels lebt.“

[2] Hans Kiefner, Der Einfluss Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, in: J. Blühdorn, J. Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 3-26.

[3] Otto (v.) Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Berlin 1880, ND Aalen 1981 (7. Aufl.), S. 120 f.

[4] S. dazu: Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Rechtsidee und Recht, gesammelte Schriften Bd. II, Göttingen 1960, 46 ff.

[5] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, § 22 ff.

[6] Otto (von) Gierke, Althusius, (Fn. 3), S. 96.

[7] Diese Problematik ist Gegenstand des Beitrags „Hegels Zwei-Naturen-Lehre“ – auf dieser Plattform.

[8] Otto (von) Gierke, Althusius, (Fn. 3), S. 95 f.

[9] Verwiesen sei auf den Beitrag „Vom Sein zum Bewusstsein“ – hier auf dieser Plattform.

[10] In der „Begriffslogik“ weist er uns den Weg zu ihr.

[11] Die „vernünftige Institution“, wie Gertrude Lübbe-Wolff formuliert: Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: B. Sandkaulen/V. Gerhardt/W. Jaeschke [Hrsg.], Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009 [HS, Beiheft 52], S. 330.

[12] G.W.F. Hegel, GW 11 (Lehre vom Wesen; das Verhältnis des Ganzen und der Teile), S. 142 ff., § 141 Rechtsphilosophie.

[13] Die Ära zivil-religiöser Deutungen setzt mit Rousseau ein. Das Zeitalter der Philosophie geht über in das Zeitalter der Ideologie. Grundlegend dazu: Hermann Lübbe, Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, ARSP Beiheft Nr. 15, Wiesbaden 1981, S. 40-64.

[14] Vgl. G.W.F. Hegel, GW 12 (Lehre vom Begriff) S. 39.

[15] Otto (v.) Gierke, Die soziale Aufgabe …, S. 24.

[16] Natur? Davon gibt es genug. Ricardo und Marx sehen die Natur als eine grenzenlose, unerschöpfliche Ressource. Die Frage, wie sie sie trotz pausenloser und sich pausenlos intensivierender Ausbeutung zu erhalten ist, ist nicht ihre Frage. Vereinzelte Warnungen, „die der Existenz der Erde selbst ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sicheres  Ende [vorhersagen]“, werden von F. Engels als „konservativer Vorhalt“ (MEW 21, S. 268f.) zurückgewiesen. In diesem Punkt stimmen die Vertreter des Kapitals und die Vertreter des Proletariats überein. Beide Seiten sind sich sicher, dass die Menschheit „noch ziemlich weit von dem Wendepunkt entfernt [ist], von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abwärts geht.“

[17] Siehe dazu: Bernd Rettig, Hegels sittlicher Staat, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 299 ff.

[18] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 405: „Es steht dem nicht im Wege, dass bei der Auflösung der Zünfte einzelne Zunftmeister sich in industrielle Kapitalisten verwandeln; indes ist der Kasus rar und so der Natur der Sache nach. Im Ganzen geht das Zunftwesen unter, der Meister und der Gesell, wo der Kapitalist und der Arbeiter aufkommt.“)

[19] Otto (von) Gierke, Deutsches Privatrecht I (Allgemeiner Teil und Personenrecht), Leipzig 1895, S. 663.

[20] Otto (von) Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 697.

[21] Karl Marx, Grundrisse …, (Fn.18), S. 484.

[22] Karl Marx, Grundrisse …, (Fn. 18), S. 484.

[23] Gierke im Artikel „Genossenschaftswesen“ für Bluntschlis „Staatswörterbuch“, zitiert bei Spindler (Von der Genossenschaft zur Betriebsgemeinschaft, Frankfurt a.M. 1982, S. 53). Circa 60 Jahre später schreibt Eugen Rosenstock-Huessy (Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen, in: Festgabe für Xaver Gretener, Berlin und Breslau 1926, S. 144) zum Thema: „Der einzelne Arbeitsvertrag … ist nur die temporäre Konkretisierung der ‚höheren Notwendigkeit‘, Arbeitsverträge einzugehen.“

[24] Marx unter dem Stichwort „Direktion“.

[25] Karl Marx, Grundrisse … (FN 18), S. 185.

[26] Karl Marx, Grundrisse …, (FN 18), S. 362.

[27] Vgl. Karl Marx, Grundrisse …, (FN 18), S. 30. Das scheint mir eine ganz wichtige, bisher nicht hinterfragte, Behauptung im Rahmen der ökonomischen Theorie des Marxismus zu sein. Und es wird noch deutlich werden, dass diese von Marx behauptete Diskrepanz wesentlich dafür wird, dass Marx nicht Reformer, sondern Revolutionär wird.

[28] Entsprechend beginnt der zweite Band des „Kapital“ (MEW 24, S.31) mit der „Formel für den Kreislauf des Geldkapitals …: G – W … P … W‘ – G‘, wo die Punkte andeuten, dass der Zirkulationsprozess unterbrochen ist, und W‘ wie G‘ ein durch Mehrwert vermehrtes W und G bezeichnen.“ Der springende Punkt ist das „P“, stehend für „Produktion“. Charakteristisch sei, dass sich der Produktionsprozess sowohl in „Rom“ wie auch in der Moderne, in einem rechtsfreien Raum vollzieht. Das sieht Gierke anders.

[29] Karl Marx, Grundrisse …, (Fn. 18), S. 30.

[30] Karl Marx, Grundrisse …, (Fn. 18), S. 409.

[31] So F. Neumann, Das Arbeitsrecht in der modernen Gesellschaft, Recht der Arbeit 4. Jahrg. 1951, S. 1.

[32] Dieser vertritt den Standpunkt, dass das Recht Roms auch das Recht der kapitalistischen Gesellschaft ist, dass es „das reine“ Privatrecht ist, an dem „alle späteren Gesetzgebungen nichts Wesentliches … zu bessern vermochten“ (MEW, Bd. 21, S. 397).

[33] Karl Marx, Grundrisse …, (Fn. 18), S. 157.

[34] Ohne Quellenangabe zitiert bei Hans Krupa, Genossenschaftslehre und soziologischer Pluralismus, Archiv für öffentliches Recht 1941, S. 97 ff. [S. 99]).

[35] Das „Kapital“ erscheint 1867, der erste Band des „Genossenschaftsrechts“ 1868.

[36] Helga Spindler, Von der Genossenschaft zur Betriebsgemeinschaft. Kritische Darstellung der Sozialrechtslehre Otto von Gierkes, Frankfurt a. M., Bern 1982, S. 57.

[37] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 7.

[38] Friedrich Engels (MEW 21, S. 141 ff., besonders S. 149f.) bezeichnet es als die „historische Tat der Deutschen“, ihre unentwickelten Zustände in die Konkursmasse Roms eingebracht zu haben. „Aber nicht ihre spezifischen nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt haben, sondern einfach – ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung“, ihr noch vor der Institutionalisierung stehendes „Gemeinwesen“. Zustände, die elastisch genug sind, um „Brücke“ zwischen Rom und der Neuzeit zu sein, die es ermöglichten, „aus dem Schlamm der Römerwelt neue Staaten entstehen zu lassen.“ Das deckt sich mit Hegel, der (in § 358 Rechtsphilosophie) meint, dass die Verbindung, die die Germanen mit Rom eingehen, einen „Wendepunkt“ darstellt.

[39] MEW 21, S. 149 f.

[40] Otto von Gierke, Naturrecht und Deutsches Recht, S. 25.

[41] Otto von Gierke, Naturrecht und Deutsches Recht, S. 29.

[42] Helga Spindler, Von der Genossenschaft zur Betriebsgemeinschaft … (Fn. 37), S. 133.

[43] G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, § 169.

[44] Otto (von) Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Berlin 1902, S. 6.

[45] Siegfried Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, S. 92.

[46] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, § 67.

[47] Siehe dazu: Erich Kaufmann, Über den Begriff …, (Fn. 4), S. 49  und die dort zitierten Stellen aus Kants „Kritik der Urteilskraft“.

[48] Rein logisch gesehen kommen zu den Schuld- und Sachenrechten sowohl ein „auf persönliche Art dingliches“ als ein „auf dingliche Art persönliches“ Recht hinzu. Jedoch wird nur das Letztere praktisch: Denn „[d]er Begriff eines auf persönliche Art dinglichen Rechts fällt ohne weitere Umstände weg; denn es lässt sich kein Recht einer Sache gegen eine Person denken.“ (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, S. 602).

[49] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, (Fn.46), S. 601 f.

[50] Hans Kiefner, Der Einfluss Kants …, (Fn. 2), S. 12 bezeichnet es als ein „Kuriosum“. Zur Kuriosität wird dieses Recht aber nur dann, wenn man die Unternehmung als von einem oder mehreren Kapitalisten geschaffene juristische Figur ansieht, nicht aber als die eigenständige natürliche Person der Ebene der „Besonderheit“.

[51] Hegel unterscheidet das „Produktiv-Eigentum“ in Gestalt der „lebendigen“ und „vergegenständlichten“ Arbeit von dem Eigentum, das der Bedürfnisbefriedigung dient. Ersteres ist notwendiges Eigentum, jeder muss es haben, um „Person“ zu sein. Das andere Eigentum ist nur insoweit ebenfalls notwendig, wie es dem Lebensunterhalt dient. Zu dem, was darüber hinausgeht sagt er: „Was und wieviel Ich besitze, ist … eine rechtliche Zufälligkeit.“ (§ 49 R). Näher ausgeführt ist diese Problematik in dem Beitrag „Im Urteil der Hegelschen Philosophie- das Arbeitsverhältnis bei Savigny, Marx und Gierke. Hier auf dieser Plattform..

[52] MEW, Bd. 23, S. 189.

[53] O. v. Gierke, Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Aufsätze und kleinere Monographien Bd. II, Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 855-886.

[54] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 36.

[55] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 41.

[56] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 31.

[57] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 34.

[58] Da die „Rechtsstellung“ im „Dritten Reich“ und dann wieder im realen Sozialismus (nicht nur) der DDR Furore machte, halte ich eine Bemerkung zum Unterschied für notwendig: Für Gierke ist klar, dass sich seine „Gliedschaft“ und seine „Rechtsstellung“ nur auf die Bereiche der ehemaligen „Wirtschaftsfamilie“ beziehen, also auf Kleinfamilie und Unternehmung. Seine „Rechtsstellung“ ist also privatrechtlich, enger gefasst: „sozialrechtlich“, gemeint. Im „Dritten Reich“ und in der DDR trat die „Rechtsstellung“ jedoch generell an die Stelle der subjektiven Rechte im privaten wie öffentlichen Raum. Überall war dort die „Person“ durch das „Glied“ ersetzt, überall herrschte dort ein rechtliches Regime, wie es Gierke für das Innere der „Verbandsperson“ beschreibt. Deshalb habe ich diese beiden Staatstypen an anderer Stelle („Hegels sittlicher Staat“ und „Staat, Recht, Ökologie“), ungeachtet der großen Unterschiede zwischen ihnen, als „Betriebsstaaten“ bezeichnet.

[59] Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 32.

[60] Hier ist auf das zu verweisen, was Hegel in § 40 seiner Rechtsphilosophie zur begrifflichen „Unreife“ des römischen Rechts ausführt.

[61] Savigny mit durchaus bedauernden Unterton zu den Folgen der von ihm favorisierten Konstruktion: Dass jetzt „der Reiche den Armen untergehen lassen [kann] durch versagte Unterstützung oder durch harte Ausübung des Schuldrechts“. (System 1, 371). Aber so ist es nun einmal; so ist das Recht. Die bissigen, überwiegend polemischen Äußerungen des jungen Marx zu Savigny bzw. zur historischen Schule (z.B. MEW 1, S. 380) gelten also nicht so sehr dem wissenschaftlichen Hauptwerk Savignys, sondern dem als Gesetzgebungsminister Mitverantwortlichen für die (z.B.) restriktive Zensurgesetzgebung, die Marx als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu spüren bekam.

   H. Freyer (Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1921, S. 93) zitiert Marx, der 1848 in einer Rede zum Freihandel (MEW 4, S. 444 ff.) diesen insoweit befürwortet, wie er den Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf die Spitze treibt, mit den Worten: „In diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“ Zur gleichen Rede äußert sich F. Engels 40 Jahre später so: Freihandel bedeutete für Marx „Verrennung der Gesellschaft in eine Sackgasse, aus der kein Entkommen möglich ist, außer durch eine vollständige Umgestaltung der der Gesellschaft zugrunde liegenden ökonomischen Struktur.“ (MEW 21, S. 374).

[62] G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, § 255. Ausführlich dazu: Bernd Rettig, Staat, Recht, Ökologie, (Fn. 17), S. 221 ff.

[63] Ernst-Wolfgang Böckenförde nennt – unter Bezug auf Hegels §§ 254-256 Rechtsphilosophie – diesen Teil 1983 „ein noch unaufgearbeitetes Stück seiner Rechtsphilosophie.“ – Für Hegel sei die Korporation das „unentbehrliche Vermittlungsglied zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, indem in ihr die Erwerbstätigkeit von den bloßen Privatzwecken weggelenkt und zur bewussten Tätigkeit für einen gemeinnützigen Zweck erhoben wird.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, Hannover 1983, S. 32.

[64] Vgl. dazu: F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt/M. 1986, S. 69 ff.

[65] Siehe dazu: Friedhelm Jobs, Die Bedeutung Otto von Gierkes für die Kennzeichnung des Arbeitsverhältnisses als personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis, Zeitschrift für Arbeitsrecht, 3. Jgg. (1972), S. 305-343.

[66] Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, Band 1, Leipzig 1927/28 (Urteil vom 20. Juni 1928).

[67] Hansjörg Weber, Die Nebenpflichten des Arbeitgebers, RdA 1980, S. 289-299 (292).

[68] Otto (von) Gierke, Die soziale Aufgabe, (Fn. 37), S. 29.

[69] G.W.F. Hegel, Rechtsphilosophie, § 255.

[70] Reinhard Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1936.

[71] Ebd., S. 8.

[72] Otto von Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts, Tübingen 1915, S. 92.

[73] S. dazu: Friedrich Engels, Juristen-Sozialismus, Staat und Recht, Berlin 1954, S. 390-406. (nicht in MEW enthalten!)

[74] Siehe dazu die Ausführungen in FN 58.

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