Ökologe der ersten Stunde: G.W.F. Hegel
(Zum 250. Geburtstag des Vordenkers
der modernen Naturfrage)
G.W.F. Hegel. Unbestritten ein Großer seines Metiers. Vielleicht der
Größte.
Aber was sagt er uns Heutigen? Wie aktuell ist seine Philosophie?
Die Antworten auf diese Frage sind breit gefächert – besonders,
wenn seine praktische Philosophie beurteilt wird. Wer sich zum Beispiel seiner
Staatsphilosophie zuwendet, ist in der Regel befremdet, weil sie dem
Metternich-/Gentzschen Staatsdenken sowie dem preußischen Staat seiner Zeit
nahe zu stehen scheint. Hier stößt er auf Ablehnung. Hier ist er der Philosoph
des „Machtstaates“[1]. Da Hegel aber
unbestritten als erster die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Begriff gebracht
hat, wird seit der Schrift G. Ritters „Hegel und die französische Revolution“[2]
der liberale Hegel betont und seine Bedeutung und Aktualität von hier aus
gesehen. Dieses Lob hat ihn wiederum bei denen in Misskredit gebracht und den
Ruf eingetragen, ein Apologet der modernen Industriegesellschaft zu sein, die
als die philosophischen Vordenker der modernen ökologischen Bewegung gelten
können.[3]
Diese weit auseinander liegenden Standpunkte: Apologet des
preußischen Obrigkeitsstaates und Apologet der Industriegesellschaft, bestimmen
das heutige Hegelbild. Aber beide Sichtweisen werden ihm nicht gerecht. Hegel
ist Apologet weder des einen noch der anderen. Wer ihn so apostrophiert, verkennt
das grundsätzliche Anliegen seiner praktischen Philosophie; übersieht, dass es
ihm schon damals um jene Frage geht, die unbestritten die zentrale Frage des
21. Jahrhunderts[4] ist:
Wie ist das Überleben mit jener bürgerlichen Gesellschaft möglich, die
seit 250 Jahren das Schicksal der Menschheit bestimmt.
Zum Schicksal des Menschen, zu diesem
Generalthema seiner Philosophie, äußert sich Hegel erstmals ausführlich im
Naturrechtsaufsatz von 1802. Noch im Bunde mit Schelling stehend, aber schon
damals über ihn hinausgehend[5],
sagt er dort, dass mit Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft die
Schicksalsfrage eine dramatische Verschärfung erfährt. Denn mit ihr erwächst
der Natur ein Gegner, der – bleibt er sich selbst überlassen – das Potential in
sich trägt, sie unter sich zu begraben. Mit ihr etabliert sich eine zweite,
eine vom Menschen selbst hervorgebrachte, eine „produzierte“ Natur, die neben
die „primäre“, wie Hegel sagt: „vorgefundene“[6],
Natur tritt. Vorherrschend war bisher im Rahmen eines „naturwüchsigen
Gemeinwesens“ die „primäre“ Natur. Jetzt aber nimmt die „produzierte“ Natur das
Heft in die Hand. Eine Umkehrung, die wir unter „Freiheit“ verbuchen, obwohl
sie zur Unfreiheit der „vorgefundenen“ Natur führt. Hier setzt Hegel ein. Er fragt,
wie das moderne Gemeinwesen zu organisieren ist, damit in ihm beide Naturen
eine gleichberechtigte Existenz erlangen.
Hegel wird in eine Zeit hinein geboren, in der
das Heilige römische Reich deutscher Nation, das letzte große „naturwüchsige“,
nach biologischen Grundsätzen organisierte und funktionierende, Gemeinwesen in
Zentraleuropa, sein Leben aushaucht. Es ist schon lange, die letzten Jahrhunderte,
in „elender Verfassung“. Aber nun, 1800, steht für Hegel fest: „Deutschland ist
kein Staat mehr.“[7] Was diesem untergegangenen
„naturwüchsigen“ Gebilde nachfolgt, was aus ihm schon längst in dutzendfacher
Variation heraus geboren ist, sind Staaten neuen Typs. Sie alle sind noch, mehr
oder weniger, dem Alten verhaftet, keiner ist als moderner Staat
fertiggestellt. Eine neue Welt mit einer neuen, schwierigeren Art des
Zusammenlebens ist im Entstehen. Ein Tod und eine Geburt. Eine Zeit „des
Übergangs zu einer neuen Periode“[8].
Unter den Augen des Publikums steigen Staaten empor, in denen die beiden
Naturen, bisher Glieder eines Organismus, auf neue Weise ins Verhältnis gesetzt
sind. Aber wie? Der Vernunft folgend nach den logischen Grundsätzen des
Verhältnisses des Ganzen und der Teile oder in der Weise einer bloßen
Umkehrung?
Deutschland ist spät dran. In England und Frankreich ist der
Übergang längst erfolgt. Was ist von dort zu lernen, was nicht? Jene Fragen stehen an, die den Untergang der
feudalen Gemeinwesen überall begleiten. Wie geht es weiter? Was
folgt nach? Es drängt sich hier, in Deutschland, geradezu auf, die vor der Tür stehende bürgerliche
Gesellschaft anhand der dort gemachten Erfahrungen zu messen. Und es gilt, die
Vorschuss-Lorbeeren, mit denen die Philosophie der Aufklärung die bürgerliche
Gesellschaft bedacht hat, zu überprüfen. Hat die bisherige Praxis diese bestätigt?
Und wenn nicht: Welche Korrekturen sind vorzunehmen, welche philosophischen
Schlüsse sind aus den erhobenen Befunden zu ziehen?
Das Deutschland dieser Zeit: der ideale
Nährboden für Denker vom Schlage Hegels.
Der
Mensch ist, biologisch betrachtet, ein Tier. Als eine Einzelheit des Tierreichs
gehört er insoweit der „vorgefundenen Natur“ an. Was diesen „Tier-Menschen“
aber heraushebt aus dem Tierreich, allgemeiner aus der Natur, ist, dass er
produzierendes und denkendes Tier, insoweit also „Geist“ ist. Als „tätiger
Geist“ tritt er, ausgestattet mit einem Plan, der vorgefundenen Natur „als ein
Subjektives“[9] gegenüber und erschafft[10]
sich aus ihr eine eigene Natur. Die „produzierte“ Natur ist also Ergebnis eines
„Stoffwechsels“, sie ist umgeschaffene „primäre“ Natur. Als „zweite Natur“ [11], als „produzierte“ Natur, wie ich sie nenne,
tritt sie zur vorhandenen, zur „äußeren“, zur „primären“ Natur hinzu. Der
Mensch ist somit Geschöpf und Schöpfer zugleich. Er lebt in und mit zwei
Naturen, die sich zunächst als „Verschiedene“, später als „Entgegengesetzte“[12]
gegenüber stehen, und wird zunehmend von der zweiten, von der „produzierten“
Natur geprägt. Das ist sein Schicksal[13]. Mit ihm und dem immer deutlicher werdenden
Unvermögen es zu meistern, verbinden sich all die fast unlösbar gewordenen
Probleme der heutigen Menschheit. Die Auseinandersetzung damit, erst Nährboden
der Religion[14], wird in der Moderne zum Hauptgegenstand der
Philosophie.[15] Hegel ist mit der
Seinigen darin am weitesten gekommen, denn seinem „System“ liegen die
„Unterschiede“ zu Grunde, „zu denen der Begriff der Natur sich entfaltet“, d.h.
die selbständige Existenz zweier
Naturen, die aus einer früheren „Einheit“ hervorgegangen sind und auch jetzt,
nach ihrer Trennung und Verselbständigung, ihrer bedürfen.[16]
Nachfolgend soll gezeigt werden, wie die
Naturfrage sich auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschheit stellt bzw.
welchen Wandlungen sie unterliegt.
***
Stufe 1
Als werdende
Natur steht die „produzierte“ über lange Zeiträume im Schatten ihres
Gegenübers. Abertausende Jahre zeigt sie sich nur als Faustkeil, Steinaxt,
Speer, Pfeil und Bogen und als einfache Töpferware.
Und doch: schon hier, in dieser Frühzeit, ist
die ökologische Frage eröffnet.
Kant[17]
umreißt sie unter Bezug auf das AT (1. Buch Moses, Kap. 2-6) wie folgt:
Der frisch in die Welt gesetzte
Mensch begegnet einem Schaf und sagt zu diesem:
„Der Pelz, den Du trägst, gehört
nicht Dir, sondern mir.“
Und was empfiehlt uns Kant und
nach ihm Hegel, um diesen Grundkonflikt erträglich zu gestalten? Den vernünftigen Umgang mit den Schafen.[18] Und
diese abverlangte Vernunft fällt uns in dieser frühen Zeit nicht schwer. Einmal
weil wir damals den Schafen noch nahe stehen. Zum anderen, weil wir damals noch
generell unter der Vorherschaft der „primären“ Natur stehen. Sie war es, die
für den Menschen „dachte, sorgte und handelte“[19]
und ihn über die ihm eingepflanzten Instinkte regierte. Ob er wollte oder
nicht, er musste damals vernünftig
sein.
Aus der Rückschau kann man sagen:
Auf dieser Stufe sind wir ohne eigenes Zutun vor uns selbst geschützt.
Stufe 2
Tausende von Jahren vergehen. Mehr und mehr kommt
die „produzierte“ Natur in Schwung, schnellt dann exponentiell nach vorne und
nach oben, wird erst sichtbar, dann unübersehbar. Der Tag kommt, an dem sie
sich aus der Vormundschaft ihrer Nährmutter herausgearbeitet hat. Sie hat nun ein
solches Gewicht erlangt, dass sie als selbständige Natur erkannt und anerkannt wird.
Der Zeitpunkt ihrer Emanzipation – der
„produzierten“ Natur und ihres Menschen. Ein „epochaler Bruch“[20]. Als „bürgerliche Gesellschaft“ und als
„Person“ zur Gestalt geworden[21],
stehen sie jetzt im Zentrum und bestimmen das Denken. Eine Sternstunde der
Menschheit. Aber zugleich ihre Schicksalsstunde. Was jetzt geschieht, was jetzt
ausbleibt, wird über ihre Zukunft entscheiden.
Eine große Aufgabe kommt auf den Menschen zu: „Was
die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt für
sich übernehmen“[22]. Wo ihn bisher die
Instinkte leiteten, ist nun die Vernunft am Zuge; sie steht jetzt für
„Vermittlung“, steht für das Miteinander beider Naturen. Doch es kommt anders.
„Der Abfall des Menschen vom Instinkte“[23]
erfolgt zwar, aber nicht auf die Weise, dass nun die Vernunft an seine Stelle
tritt. Diese frisch ins Leben getretene „produzierte“ Natur tritt zwar ihre
Herrschaft an, sorgt aber zugleich dafür, dass es jetzt „andersherum“ geht. Sie
sieht sich jetzt als Herr – und die andere Natur als den Knecht. Das ist eine
bloße „Umkehrung“[24];
sie führt vom bisherigen „Entweder“ zu einem „Oder“. Nach dem Bilde der
„produzierten“ Natur wird jetzt alle Natur und alles, was „Mensch“ heißt erklärt.
Allem wird die Eigenschaft der „produzierten“ Natur und der „Person“ angedichtet[25].
Ein Naturbegriff und ein Begriff vom Menschen machen Furore, werden jetzt zum
„archimedischen Punkt des politischen Denkens“[26], denen das „Bauprinzip“ nur der „produzierten“
Natur zugrundeliegt.
Statt Vorherrschaft der „primären“ nun die
Vorherrschaft der „produzierten“ Natur. Aber diese „erste Erscheinung der neuen
Welt“ zeigt nur einen Zwischenstand an, nämlich die Teile eines Ganzen, das
selbst zunächst noch „verhüllt“ ist.[27]
Wird, wie es dann ja auch kommt, voreilig eines der Teile, die „produzierte“
Natur, zum Ganzen erhoben, bleibt das wahre Ganze unerkannt. Ein
verhängnisvoller Irrweg wird beschritten. Denn auch das jetzt aktuelle
politische Gemeinwesen muss sich als das Gemeinwesen für beide Naturen, als
ihre Einheit, verstehen.
Man sage also nicht, dass diese Umkehrung
längst fällig und nichts weiter war als ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit.
Denn schließlich bleibt es dabei, dass die „primäre“ Natur die Nährmutter der
anderen Natur ist und nicht umgekehrt. Sie jetzt auszugrenzen und rechtlos zu
stellen, sie der „produzierten“ Natur auszuliefern, kann von daher nichts
weiter als verkehrt sein.
Und doch, so geschieht es.
„Produzierter“ Mensch und
„produzierte“ Natur, „Person“ und „bürgerliche Gesellschaft“, werden die
Favoriten der Philosophie der Aufklärung. Diese wirft gegenüber früheren
Philosophien das Ruder um 180 Grad herum und sieht in ihnen den frei
gewordenen, den befreiten Menschen und die menschliche
Natur. Sie rückt also diese Natur (und den auf sie entfallenden Teil des
Menschen!) in den Vordergrund. Ausgangspunkt wird der
mathematisch-physikalische Naturbegriff Descartes, der den Atomismus der
„produzierten“ Natur nun beiden Naturen überstülpt.[28] Und weil die je andere Seite nun übersehen
wird, scheint es, als bliebe der Mensch, als bliebe die Natur ungeteilt. Ein
Schein, der entstehen kann, weil sie jetzt beide vom anderen Ende her definiert
werden.
Vom „Entweder“ zum „Oder“.
Ein „organischer“ Naturbegriff wird ersetzt durch einen anorganischen,
„Organik“ wird ersetzt durch „Atomistik“. Das biologische Wesen „Mensch“ wird
ersetzt durch den Automaten. Ersetzt wird das eine durch das andere. Eine
Verschiebung des Standpunktes[29], eine „gewaltsame Halbierung“[30],
die die „primäre“ Natur zur
Rohstoffquelle, zum Objekt der Ausbeutung degradiert. Sie wird von der „Identitätsphilosophie“[31]
aufgegriffen und abgesegnet. Hegel hält das für grundfalsch. Nicht diese
Umkehrung steht auf der Tagesordnung, sondern ein historisch neuer Typ von
„Einheitsnatur“. War diese bisher eine „Naturgestalt“, so wird diese jetzt
abgelöst durch ihre „Vernunftgestalt“. Die frühere „Personalunion“ in Gestalt
des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens ist beendet. Doch sie darf jetzt nicht
einfach durch die „schlechteste Weise der Einheit“[32]
fortgesetzt werden: durch die Vorherrschaft der „produzierten“ Natur.
Gegen die
„Identitätsphilosophie“ gewandt, fordert Hegel die „Wiederherstellung“[33]
des früheren Zustandes der Einheit, nun allerdings unter Berücksichtigung des
Faktums, dass die „produzierte“ Natur selbständig geworden ist.
Der frühere biologische
Organismus ist in zwei Naturen zerfallen, die jedoch unter logischen Gesichtspunkten
(weiterhin) eine Einheit bilden. „Einheit“ wiederum bedeutet, dass beide
Naturen nur relativ[34]
selbständig sind. Und bedeutet, dass beide durch das Ganze vermittelt werden müssen. Denn die „Teilung des ursprünglich Einen“
bringt nicht nur die Teile, sondern auch das „Ganze“ ans Licht. Beide stehen in
einem Verbund, der nur mit der dialektischen Logik zutreffend erfasst werden
kann.[35]
Also kein Entweder – Oder,
sondern ein Sowohl als „Auch“[36].
Im Bewusstsein der
„Zeitzeugen“ spiegelt sich der Zerfall der „naturwüchsigen Einheitsnatur“ im
Streit um die Naturen. Anschaulich trägt O. v. Gierke dazu vor, dass als Natur
zunächst galt, was in den „naturwüchsigen“ Gemeinwesen unter Führung der
„primären“ Natur über die Bande des „Blutes und des Bodens“ zusammengeschlossen
war. Jetzt aber, im Ausgang des Mittelalters, kommt der Gedanke auf, „dass
alles menschliche Gemeinleben auf einem Vertrage der Verbundenen beruht“[37]. Er wurde bald ausgebaut „zum konstruktiven
Prinzip“ eines darauf beruhenden Staatsdenkens. Die Lehre vom
Gesellschaftsvertrag tritt in die Welt. Wurde bisher das Individuum aus der
Gemeinschaft, so wird jetzt die „Gemeinschaft aus dem Individuum“ hergeleitet.
War bisher die Gemeinschaft älter als das Individuum, so ist jetzt „der vereinzelte
Mensch älter als der Verband“. Eine Weile ging es hin und her. Es wird
gestritten[38] darüber, was jetzt als
die menschliche Natur, überhaupt: was
als „Natur“ anzusehen ist. Aber bald war es „ein ganz aussichtsloses
Unternehmen, wenn stets von neuem einzelne Naturrechtslehrer diesem
theoretischen Individualismus entgegentraten und wieder mehr vom Ganzen
auszugehen oder doch die staatlichen Hoheitsrechte aus einer vom Individuum
unabhängigen Quelle herzuleiten suchten“[39]. Ging vorher die „produzierte“ am Gängelband
der „primären“, so geht jetzt die „primäre“ am Gängelband der „produzierten“
Natur. Erfüllte bisher die „primäre“
Natur die Funktion des Ganzen, so scheint diese Funktion nun auf die
„produzierte“ Natur übergegangen zu sein.
War der Streit anfangs durch „Konfusion“[40]
geprägt, ist nun die „Umkehrung“ perfekt gemacht. Der Begriff war auf den Kopf
gestellt. Was vorher Natur und
„Gesellschaft“ war, war nun „Natur“[41].
Was vorher das „Natürliche“ war, ist jetzt das „Künstliche“.[42]
Das bisherige „gemeinschaftliche Naturrecht“ war durch ein „gesellschaftliches
Naturrecht“[43] abgelöst – von nun an der
„fixe Punkt“[44], um den alles Denken und
Handeln zentriert ist. Die neue „Theorielage“[45]
gewann die Oberhand. Und bei ihr bleibt es. Kant, Fichte, Schelling, am entschiedensten
aber Hegel, stürmen gegen sie an. Sie wenden sich gegen den „Dogmatismus der
Aufklärerei“, der darin besteht, den mit der „Umkehrung“ erreichten Zustand heilig
zu sprechen. Ein Ergebnis wird verabsolutiert, das sich, erdgeschichtlich gesehen,
mit den dramatischen Folgen einer Polumkehr verbindet[46],
mit Folgen, die – wie wir heute erkennen – die Existenz der Menschheit in Frage
stellen. Ein Ergebnis, das Zwischenergebnis ist, aber nicht Endergebnis werden
darf.
Eine Umkehrung, eine falsche
Weichenstellung. Sie wird sichtbar einmal darin, dass damit die „primäre“ Natur
nicht nur vom Sockel gestoßen, sondern zum Objekt gemacht wird. Und sie wird
sichtbar in einem Staat, der nicht mehr der Staat beider Naturen, sondern nur
noch der Staat der „produzierten“ Natur ist, also bloßer „Not- und
Verstandesstaat“[47]. Mit Blick auf die hohe Dynamik und die
ungeheure Expansionskraft der jetzt herrschenden Natur, sieht Hegel schon
damals die dramatischen Folgen voraus, wenn eine Korrektur ausbleibt. Doch was
geschieht? Die jetzt vorherrschende Philosophie, bedeutsamer noch: die jetzige
Praxis, erklären das Gemeinwesen für tot. Und mit ihm die Vernunft.
Letzte „naturwüchsige“
Gestalt des Gemeinwesens war die Feudalmonarchie. Bei Übergewicht der
„primären“, waren in ihr beide Naturen als „zwei unterschiedene Quanta“[48] enthalten. Jetzt aber haben sich die Gewichte
verschoben. Bis dahin, wo der Punkt erreicht ist, „auf welchem die Qualität
geändert wird, das Quantum sich als spezifizierend erweist und damit in eine
neue Qualität, ein neues Etwas umgeschlagen ist.“[49] Das ist der Punkt, an dem das feudale
Gemeinwesen zerbricht und scheinbar nur noch in seinen beiden Teilen
fortexistiert. Was aber zu beachten ist: Zerschlagen wird nur die feudale
Gestalt, nicht das „Gemeinwesen“ selbst. Dieses wird nicht zu Nichts. Vielmehr beobachten
wir es bei „seinem Übergang zum Wesen“[50].
Es wird aufgehoben – was heißt: es
wird vorübergehend „gestaltlos“, existiert
vorübergehend als „gestaltloses Sein“[51] fort und wartet in diesem Zustand darauf, dass
es mit unserem Zutun[52]
in die jetzt fällige Vernunftgestalt, in eine „vernünftige Institution“[53]
überführt wird.
Nicht die Reduzierung
des Staates auf den „Not- und Verstandesstaat“ und schon gar nicht seine
gänzliche Abschaffung ist Forderung der Zeit. Auf der Tagesordnung steht vielmehr die erstmalige Herstellung des Staates als
„Vernunftgestalt“.
Im feudalen Gemeinwesen waren
beide Naturen vermittelt, jedoch auf „naturwüchsige“ Weise unter Führung der
„primären“ Natur. Damals vertrug sich „ein Naturrecht … mit Staat und Politik“.
Jetzt aber ist eine „Scheidung erfolgt“[54].
Sie trennt Staat und Politik hier und Naturrecht dort und macht sie zu
„Entgegengesetzten“. Erstere stehen für das untergegangene „Ganze“. Das
Naturrecht versteht sich jetzt als das Recht der „produzierten“ Natur und
zugleich als der Ausgangspunkt des „Not- und Verstandesstaates“. Legitimiert
wird diese Scheidung und Entgegensetzung mit der Behauptung, dass sie dem
menschlichen Glück diene. Denn dieses gehe allein von der „produzierten“ Natur
aus. Je mehr es von ihr gibt, umso mehr Glück.
Ein Glück auf Kosten der
„primären“ Natur. Ein Glück auch auf Kosten des Menschen, soweit er Bestandteil dieser Natur ist. Gegen dieses
behauptete Glück tritt Hegel an. Er stellt nicht die Emanzipation der
„produzierten“ Natur und ihres Menschen in Frage. Aber er stellt in Frage, dass
sie auf Kosten der „primären“ Natur erreicht wird. Das „Ganze“ muss erhalten
bleiben. Es darf nicht sein, dass es durch einen Teil ersetzt wird. Aber darauf
läuft es theoretisch und praktisch hinaus.
Damals wird die Naturfrage dem
Grunde nach gegen die „primäre“ Natur entschieden. Wer das Problem anspricht,
in welcher Form auch immer, dem wird entgegengehalten:
Natur? Davon gibt es genug![55]
Die Gefahr, die von der bürgerlichen
Gesellschaft ausgeht, wird geleugnet. Die Geschwindigkeit, in der ihr Treiben,
bleibt dieses ungezügelt, zur Zerstörung der „primären“ führt, wird
unterschätzt. Um auf Kant und seine Anmerkung zum Alten Testament
zurückzukommen: Angetrieben durch die Freiheits- und Glücksversprechen der
bürgerlichen Gesellschaft, ermuntert durch den Spruch: „mach sie dir untertan“, fallen wir über alles her, was „Schaf“ heißt.
Schlimmer als die Wölfe.
Der ganze Kurs ist falsch. Die
Sklaverei scheint jetzt abgeschafft zu sein. Und doch wird sie fortgesetzt, ja
potenziert, indem jetzt die „primäre“ Natur versklavt wird.
Was Hegel entdeckt:
Die bürgerliche Gesellschaft ist
das Produkt der Entwicklung; sie ist notwendig. Kein Weg führt an sie vorbei.
Er durchschaut sie, sieht ihre Für und Wider. Sie ist ebenso gefährlich wie
folgerichtig. Ihr Wesen ist die Maßlosigkeit. Sich selbst überlassen, führt ihr
Drang, sich weiter und weiter auszudehnen, zur Zerstörung der „primären“ Natur.
Um sie naturverträglich zu machen, bedarf es daher ihrer Zügelung. Da die
bisherige, von der „primären“ Natur selbst ausgehende, jetzt weggefallen ist,
fragt er, was an deren Stelle tritt. Die Antwort, die er findet: die Vernunft. Selbstbeschränkung, wo früher
äußere Schranken gesetzt waren. Aber damit kommt er uns mit der schlimmsten
Zumutung. Denn wer von uns will schon vernünftig sein? Und wer kann, wer will sie
sich in einer Welt leisten, in der sie als Schwäche oder gar Dummheit gilt? Wer
in der bürgerlichen Gesellschaft seinen Schnitt machen, auch, wer in ihr bloß
über die Runden kommen will, sieht sich im Räderwerk ihres Zwecks gefangen. Und
dieser Zweck läuft darauf hinaus, sich die „primäre“ Natur im Rahmen eines
„Stoffwechsels“ einzuverleiben. Bei dieser Sachlage reicht es nicht, die Vernunft
dem einzelnen zu überlassen. Jedenfalls zeigen die bisherigen Erfahrungen, dass
die bürgerliche Gesellschaft und ihre Mitglieder resistent sind gegenüber ihrer
Anrufung. Die skeptischen Äußerungen N. Luhmanns aus den 80-er Jahren des
vorigen Jahrhunderts zu den Stichworten „Bewusstseinsveränderung“, „neue
Umweltethik“ gelten nach wie vor: „Wir haben diese Forderungen bereits
verschiedentlich berührt – und nicht viel damit anfangen können. Unsere
Untersuchungen haben in eine ganz andere Richtung geführt.“ Die Erwartung, dass
die bürgerliche Gesellschaft von selbst zur Vernunft kommt und ablässt von
ihrem naturzerstörerischen Verhalten hält er deshalb für eine Utopie, die jener
vom grasfressenden Wolf gleicht.[56] Alle
Appelle an sie werden verpuffen, wenn die Vernunft nicht auch zur Institution
erhoben wird und im Vernunftstaat Hegels Gestalt gewinnt. Davon sind wir weit
entfernt. Was sich an „Staat“ stattdessen rings um die bürgerliche Gesellschaft
herausgebildet hat, ist „Not- und Verstandesstaat“, d.h. ein Staat, der sich
als die Geschäftsführung der „produzierten“ Natur versteht. Ein Staat eher der
Unvernunft.
Und Hegel? Er muss sich bis heute
gefallen lassen, dass ihm seine philosophische Vorausschau des schlimmen Ganges
der Dinge statt Anerkennung den Vorwurf einbringt, ein Gestriger, ein Apologet
des noch halbfeudalen preußischen Staates zu sein. Bestand wird nur jenen
Teilen seiner Philosophie zugebilligt, die die Vorherrschaft der „produzierten“
Natur zu bestätigen scheinen. Das ist eine selektive Betrachtungsweise seines
Werkes, die tatsächlich einer Verfälschung gleichkommt.
Stufe
3
Zweihundert Jahre sind vergangen
seit Hegel die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Begriff brachte. Und was
zeigt uns die Gegenwart? Dass seine düstere Prognose in einem erschreckenden
Ausmaß bereits Wirklichkeit geworden ist!
Eine neue Stufe ist erreicht. War
die bürgerliche Gesellschaft des 19. und des 20. Jahrhunderts eine im
Wesentlichen national gebundene, so ist sie jetzt eine weltbürgerliche
geworden. Wir stehen vor der Apotheose des Kapitalismus. Der Sieg ist errungen. Die „produzierte“ Natur hat ihr Ziel erreicht:
sie ist nahezu völlig frei geworden, sie hat sich nahezu aller Kontrolle entzogen.
Sie hat sich von nahezu allen Pflichten der Schöpfung gegenüber losgesagt. Mit diesem Sieg geht einher eine
ungeheure Verschärfung der ökologischen Frage. Dies unter zwei Aspekten: Einmal
deshalb, weil die nationalen Schranken weggefallen sind oder doch immer mehr
ins Leere laufen, die früher den „Tatendrang“ der bürgerlichen Gesellschaft
zügelten. Es ist leicht geworden, die Nationalstaaten gegeneinander
auszuspielen; selbst ihre größeren sind längst zum Spielball des international
agierenden Kapitals geworden. Nicht das Kapital muss um den Staat buhlen,
sondern umgekehrt. Zum anderen ist jetzt über die „nationale“ Natur hinweg auch
die „Weltallmende“ in Gestalt der Ozeane und des Luftraums seinem
zerstörerischen Zugriff ausgesetzt. Längst kann von einem Gleichgewicht der
Naturen keine Rede mehr sein. Die bürgerliche Gesellschaft ist zu einer
Wucherung geworden, die die Grundlagen alles Lebens unter sich zu ersticken
droht. Und aller Aktivismus, der national wie international entfaltet wird, um den
Kollaps zu verhindern, ändert nichts daran, dass die Lage Jahr für Jahr prekärer
wird.[57]
Welcher Ausweg?
Zu denken wäre an eine erneute „Umkehrung“. Wiederherstellung des
„naturwüchsigen Gemeinwesens“ in der modernen Gestalt einer Öko-Diktatur. Aber
siehe oben: bloß Umkehrung!?
Das wäre nicht Dialektik, das wäre nicht Entwicklung, das wäre
nicht Hegel. Was also rät er uns? „Vernunft“ walten lassen! Vernunft über
„vernünftige Institutionen“ exekutieren. Die Geschichte wiederholt sich nicht –
jedenfalls nicht anders als in Gestalt der „Aufhebung“. Das aufgehobene
„naturwüchsige Gemeinwesen“ aber ist das Gemeinwesen als „Vernunftgestalt“.
Zwei Naturen – und jede soll Bestand haben. Das aber heißt, dass
die „produzierte“ Natur nicht auf Kosten der Substanz der „primären“ leben
darf, dass sie aufhören muss, diese Natur über deren Reproduktionskraft zu
nutzen. Vernunft bedeutet Maßhalten und nicht Maßlosigkeit. Vernunft bedeutet,
das „Glück“ der einen Natur nicht durch das Unglück der anderen zu befördern. Nicht
Wachstum hier und Vernichtung dort. Das „Ganze“ muss erhalten bleiben. Das ist
die Aufgabe eines Staates, der auf nationaler wie auf globaler Ebene die
Einheit der beiden entgegengesetzten Naturen herzustellen und zu exekutieren in
der Lage ist. Hegels Staatsphilosophie handelt von ihm.
Bereits zur Zeit des Nationalstaates war die Natur und ihr Erhalt vielerlei
„Zufälligkeiten“[58] ausgesetzt. Schon
deshalb, weil das „sittliche Ganze“ auf globaler Ebene zu Hause ist, nicht auf
nationaler. Einen mehr oder weniger umfassenden Schutz konnte daher allenfalls
jene Natur erhoffen, die sich im „Privateigentum“ der jeweiligen Nation befand.
Aber was ist mit der „Welt-Allmende“, also jener Natur, die außerhalb der
Nationalstaaten und ihrer Kompetenzen gelegen ist? Schon längst vollzieht sich
vor unseren Augen die Tragödie der Gemeingüter, wie ein Blick auf den
verpesteten Luftraum, auf die überfischten und verdreckten Weltmeere und auf
das Klima zeigt – und auf die Folgen daraus, die wir Jahr für Jahr deutlicher
zu spüren bekommen. Ihr Schutz muss
auf globaler Ebene organisiert und exekutiert werden. Längst macht der „Geist
der Welt“, der „unbeschränkte“ Geist, „sein Recht“ geltend – „und sein Recht
ist das allerhöchste“[59].
Er fordert uns auf, den Weltstaat zu errichten, jenen Staat, der „Träger und
Vollstrecker eines Rechts [ist], vor dem die Rechte aller einzelnen Staaten
zurückzutreten haben, ja das geradezu einem an ihnen allen auszuübenden Gericht
gleichkommt.“[60]
Der Weltvernunftstaat als Pendant
der weltbürgerlichen Gesellschaft! Als zweite Stufe seines „Vernunftstaates“
ist er zu Lebzeiten Hegels nur erst „Idee“ und als solche verpackt in der
„Weltgeschichte“. Aber inzwischen ist seine materielle Basis längst
hervorgebracht. Es wäre also an der Zeit, ihm Gestalt zu verleihen.
Der „Weltvernunftstaat“ scheint mir angesprochen,
wenn M. Riedel formuliert: „Der hegelsche Staatsbegriff, der nach rückwärts die
Auflösung der ‚substantiellen Einheit‘ der alten und die eingetretene Differenz
mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung hat, bezieht sich
nach vorwärts auf eine weitere Sphäre – die der Weltgeschichte.“[61]
Also kein „Ende der Geschichte“, natürlich nicht, „vielmehr das Ende einer
Geschichtsperiode, den geschichtlichen Abschluss einer Welt“[62],
die um den Nationalstaat zentriert war. Die von ihm umfassten „Völkergeister“
agieren mit abnehmender sittlicher Kraft, bleiben jedoch erhalten. In puncto
„Sittlichkeit“ werden sie insoweit durch den „Welt-Vernunftstaat“ ersetzt. „Indem so die Philosophie des Staates
sich auf dem Wege über die Vielheit der Staaten zur Weltgeschichte ausweitet,
beginnt ein in den Grundlagen von Hegels System angelegter Gedanke seine
bedeutsamen Konsequenzen zu entfalten“, merkt Litt[63]
dazu an.
Die Nationalgeschichte des Staates weicht seiner Weltgeschichte. Die
„sittliche Substanz“ des Nationalstaates ist „eine besondere und beschränkte“[64].
Sie ist durch viele „Zufälligkeiten“ geprägt. Anders beim Weltvernunftstaat.
Dort erhebt sich das Zufällige zur „Wesentlichkeit“.[65]
Der beschränkte Geist geht „in die allgemeine Weltgeschichte über, deren
Begebenheiten die Dialektik der besondern Völkergeister, das Weltgericht,
darstellen.“[66] Der Nationalstaat geht
nicht verloren. Er wird jedoch gegenüber dem Weltvernunftstaat ein
„Untergeordnetes“.
Mit der „Weltgeschichte“ zielt Hegel auf die
Zukunft. Diese geht auf den Weltstaat zu; sie gebiert ihn zu gegebener Zeit; er
ist ihr Endzweck. [67] Zur Entstehung gelangt,
ist er die „absolute Macht gegen die individuellen Staaten“[68],
ist ihnen gegenüber die „übergreifende Einheit“, ist „ein drittes Verbindendes
über ihnen“[69]. Nur er kann einer
weltbürgerlich gewordenen Gesellschaft und den zerstörerischen Kräften, die von
ausgehen, Paroli bieten. Und es wäre geradezu eine Einladung an diese, wenn er ausbliebe. Der globalisierte
Kapitalismus, der seit den 90-er Jahren in Orkanstärke über die Erde fegt und
sich mit der Gier eines Schwarzen Loches Natur einverleibt, sollte uns längst
auf ihn verwiesen haben.
Was 1820 noch „allgemeine Idee“[70]
war, ist heute längst das dringende, ja überfällige Erfordernis der Zeit. Hier,
auf Weltebene, entfaltet der „Vernunftstaat“ sein Potential. Hier bleibt die „bunte
Wirklichkeit“ der „Völkergeister“ außer Betracht. Hier interessiert die
Weltgeschichte nur als Resultat und als die Wahrheit aller Geschichte, als
„geistige Wirklichkeit“[71].
Hier geht es nicht um die Belange einzelner Völker, Nationen oder Rassen,
sondern um die „Gattung“[72].
Hier geht es um das universell gewordene „Gemeinwesen“, in welchem wahr wird,
was E. Gans bereits 1833 zum Ausdruck bringt:
„[W]as die vergangenen Jahrhunderte trennten, muss sich jetzt wieder
zusammentun und organisch auszubilden suchen.“[73]
Unter dem Zepter der Vernunft wiederholen sich in ihm die „ungetrennten“, auf
lokaler Ebene existierenden, Miniatur-Gemeinwesen der Antike.
Der
Weltstaat als Korrektor der weltbürgerlichen Gesellschaft. Ein Weltstaat und
viele Nationalstaaten, die sich um „dessen Thron“[74]
scharen. Ein Weltbundesstaat anstatt des Kant’schen Weltstaatenbundes, der
deshalb ungenügend ist, weil er keinen „Prätor“[75]
kennt. Welch ein „ungeheures Schauspiel“! „Von der Höhe des Staates aus sieht
man die einzelnen Staaten, als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der
Geschichte stürzen, und der kurze Abriss der Entwicklung derselben ist nur die
Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen.“[76] Eine kühne, bis heute eher
missverstandene Vision, ausgesprochen zu einer Zeit, als der Nationalstaat der
letzte „Schrei“ der Geschichte ist. Dem Weltstaat ist zu leisten auferlegt, was
die „Völkergeister“ nicht zu leisten vermögen. Diese bleiben. Aber sie sind jetzt
an ihren richtigen Platz gestellt. Wohin es führt, wollte man sie ignorieren,
deutet Hegel an mehreren Stellen an. „Das Volk als Staat“ bleibt. Jeder
„Völkerstaat“ bleibt „gegen die andern in souveräner Selbständigkeit.“[77]
Aber der Schwerpunkt hat sich verlagert.
Die Vermittlung der beiden Naturen wird zur Aufgabe des Weltstaates. Ihn zu
installieren und handlungsfähig zu machen wäre deshalb das bedeutsamste
Geschehnis der Zukunft. Er könnte die Führungslosigkeit des Gemeinwesens auf globaler
Ebene beenden; mit ihm entstünde ein adäquates Gegengewicht zur
weltbürgerlichen Gesellschaft.
[1] H. Heller, Hegel
und der Machtstaatsgedanke in Deutschland, Leipzig, Berlin 1921.
[2] G. Ritter, Hegel
und französische Revolution, Frankfurt a.M. 1965. Diese Schrift ist nach ihrem ersten
Erscheinen (1957) auch in der damaligen DDR von M. Buhr (Deutsche
Literaturzeitung 11/1958, Sp. 987ff.) wohlwollend rezensiert worden. Der Grund:
Ritters Beurteilung der bürgerlichen Gesellschaft bei gleichzeitiger Ablehnung
des Hegelschen Staates, entspricht in Vielem der Auffassung des jungen K. Marx in
der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“.
[3] Ein Beispiel ist
K.M. Meyer-Abich, der Hegel einen Naturbegriff in der Nachfolge Descartes
unterstellt und meint, dass Hegel alles Nicht-Geistige „maschinell“ und als
bloßes Objekt sieht. „In der Brutalität aber, dass alles was nicht Mensch ist,
der Hoheit des menschlichen Willens gegenüber keinerlei Eigensinn habe und vollends rechtlos sei, ist das
industriewirtschaftliche Handeln vor Hegel noch von niemand gerechtfertigt
worden.“ K.M. Meyer-Abich, Naturordnung und Menschenrecht, in: Tilman Evers
(Hrsg.), Schöpfung als Rechtssubjekt, Hofgeismar 1990, S. 34. (Hofgeismaer
Protokolle).
[4] K. Vieweg (Das
Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München
2012, S. 117): „Schlüsselgedanke des 21. Jahrhunderts“.
[5] Siehe dazu den Beitrag „Wo Schelling anfängt und Hegel zu Ende kommt: die Klärung des Begriffs ‚Natur‘“ – hier auf dieser Plattform.
[6] § 39 R.
[7] Die Verfassung
Deutschlands, MM 1, S. 452 u. 461.
[8] Phän, S. 18.
[9] Ebd.
[10] M. Riedel (Bürgerliche
Gesellschaft und Staat, Neuwied u. Berlin 1970, S. 28) spricht von der „vom Menschen
hervorgebracht[en] und ins Werk gesetzt[en] Natur“, die „Welt des Geistes“ ist
und als solche neben die bereits vorhandene tritt.
[11] Siehe dazu: M. Riedel, Natur
und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Materialien 2, S.
109-127; M. Winkler, Die Geburt der zweiten Natur, HJ 1990, S. 209-216; I.
Testa, Selbstbewusstsein und zweite Natur, in: Hegels Phänomenologie des
Geistes, hrsg. von K. Vieweg u. W. Welsch, Frankfurt a.M. 2008, S. 286-307.
[12] Vgl. L (B), S. 39.
[13] Hegel, NR, S. 495;
Informativ dazu: F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Berlin 2010, S. 190 ff. Er
führt dort aus, wie in Hegel die „Idee des Schicksals“ heranreift und später
seinen Staatsbegriff prägen wird. Das Schicksal macht die „Tragödie“ des
Menschen aus. H. Glockner (Hegel, 2. Bd. Stuttgart 1940, S. 331) kommentierend:
„Sie besteht darin, dass die sittliche Natur ihre unorganische Natur als ein
Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüberstellt.“ Ausführlich setzt sich
G. Lukacs (Der junge Hegel, Zürich 1948, S. 239-275) mit der „Frankfurter
Schicksalskonzeption“ auseinander. Negativ daran sei vor allem das darin
enthaltene „Ausweichen vor einer feindlichen Macht“ (S. 236) bzw. der
„freiwillige Verzicht auf den Kampf mit dem Schicksal“ (S. 267).
[14] Siehe dazu Hegel in seiner
Berliner Antrittsvorlesung, MM 10, S. 410 f.
[15] Die „Entzweiung“, formuliert
er in der „Differenzschrift“ (S. 20), ist „der Quell des Bedürfnisses“ nach Philosophie.
[16] Siehe dazu: § 381/Z E.
[17] Siehe sein Aufsatz „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ von 1786!
[18] Die Wölfe sind
von ihrer Natur über den Instinkt zu einem „vernünftigen“ Umgang mit ihren
Beutetieren angehalten. Der Mensch hat sich von solchen Instinkten frei
gemacht. Ohne aber sehen zu wollen, dass zur jetzigen Freiheit ein vernünftigen
Handeln gehört.
[19] F. Schiller,
Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen
Urkunde, Werke in 15 Bd., Stuttgart o.J., Bd. 12, S. 242.
[20] A. Adam,
Despotie der Vernunft,
Freiburg/München 1999, S. 253. Dieser Bruch verbindet sich mit dem Aufstieg des
„Vertragsdenkens“, dieser „privatrechtlichen Antwort“ auf ein Problem, „das
gerade nicht privatrechtlicher Art ist.“ (ebd., S. 251f.)
[21] Wird zur „Objektivation mit
ontisch eigener Aktualität“, wie es bei M. Winkler (a.a.O., S. 209) heißt.
[22] Schiller,
a.a.O., 242.
[23] Ebd., S. 243.
[24] L. Rizzi, Hegels
Kritik der Vertragstheorie, HJ 1990, S. 255. Staatsphilosophisch wird sie
erstmals von Thomas Hobbes auf den Punkt gebracht. Er setzt an die Stelle des
bisherigen Menschen den Maschinen-Menschen und an die Stelle des bisherigen
feudalen Gemeinwesens den „Leviathan“, den „Maschinen-Staat“. Hegel setzt sich
damit im 2. Abschnitt seines NR-Aufsatzes auseinander (MM 2, S. 453ff.). Siehe
dazu auch M. Riedel, Natur und Freiheit, a.a.O., S. 111. Über Feuerbach
schließt sich Marx dieser „Umkehrung“ an, was theoretisch und praktisch im 20.
Jahrhundert von großer Bedeutung werden wird (siehe dazu vor allem im Beitrag
„Gegenübergestellt: die Natur bei Hegel und Marx“ – auf dieser Plattform.
[25] Hegel spricht vom
„erdichteten Naturzustand“ (vgl. § 502/A E).
[26] Adam, a.a.O., S. 252.
[27] Phän, S. 19.
[28] Weil er unhaltbar ist, kommt
es zum Rückfall „von Aufklärung in Mythologie“ (M. Horkheimer/T.W. Adorno,
Dialektik der Aufklärung, Leipzig 1989, S. 11) einerseits und zur Verwässerung
ihres Anliegens durch einen platten Positivismus, z.B. dem A. Comtes. (Siehe
dazu auch: Christine Zunke, Die zwieschlächtige Natur der Moderne. Vom
Hegelschen Naturrecht und positivistischem Naturbegreifen, HJ 2012, S. 65).
[29] Mit der sich Hegel in der
„Differenzschrift“ auseinandersetzt – siehe MM 2, (insbesondere) S. 94-115.
[30] Vgl. dazu E, Vorrede zur 2. Ausgabe (MM 8, S. 18).
[31] jener
Philosophie, für die alle Natur identisch ist mit der „produzierten“!
[32] Ebd., S. 21.
[33] Ebd., S. 15.
[34] Beide Naturen
sind „relative Totalitäten“ (§ 141 R), was bedeutet, dass sie über eine dritte
Größe „vermittelt“ werden müssen.
[35] Was er entdeckt,
nenne ich „systemische“ oder triadische Dialektik. Im Unterschied zur
aristotelischen Dialektik, die das Verhältnis der Teile zueinander und zum
Ganzen in dem noch nicht auseinander getretenen „naturwüchsigen Gemeinwesen“
zum Ausdruck bringt, hat sie das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen
nach dem „Bruch“ des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ zum Gegenstand. War vorher
das „Ganze“ eine unselbständige Größe, die sich nur über die „primäre“ Natur
geltend machen konnte, so gewinnt es jetzt eine selbständige, von den beiden
Naturen abgelöste institutionelle Gestalt, z.B. als Institution „Staat“.
[36] Vgl. L(W), S.
145. Das dortige Generalthema: Das Verhältnis des Ganzen und der Teile.
[37] O. v. Gierke, Johannes Althusius (7. Aufl.),
Aalen 1981, S. 99.
[38] im Rahmen der, wie Hegel (NR, S. 439f.) sagt,
„empirischen Behandlungsarten“ des Naturrechts.
[39] Gierke, a.a.O., S. 105f.
[40] NR, S. 450.
[41] Der Naturbegriff Galileis
und Newtons wurde zum „Wertbegriff“. (Vgl. dazu: G. Lukacs, Zur Ontologie des
gesellschaftlichen Seins, Neuwied u. Berlin 1971, S. 10).
[42] Siehe MEW Bd. 4,
S. 139, wo Marx den jetzigen Standpunkt der Ökonomen wie folgt referiert: „Die
Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von
Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus
sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche.“
[43] F. Tönnies, Hegels
Naturrecht, SchmJB 1932, S. 71-85, besonders S. 82 f. Tönnies Werk ist
bekanntlich durch die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ geprägt, die er
als ein zeitliches Nacheinander und – das ist der Mangel – entsprechend der
liberalistischen Sichtweise als ein „Entweder-Oder“ versteht. Damit übersieht
er (wie überhaupt!), dass sich „Gemeinschaft“ auf zwei Naturen bezieht, dagegen
„Gesellschaft“ nur auf eine, auf die „produzierte“ Natur.
[44] GuW, S. 292.
[45] N. Luhmann, Die Theorie der
Ordnung und die natürlichen Rechte, RJ 3. Jg. (1984), S. 133. Luhmann
untersucht diese Zeit der Umstellung vom „alten“ auf das neue Naturrecht,
diesen Schwenk vom alten zum neuen Verständnis des Rechts und des Staates,
unter systemtheoretischen
Gesichtspunkten in mehreren seiner Arbeiten. Da ihn mit Hegel das „systemische“
Denken verbindet, werden uns daher seine Gedankengänge, seine Fragen und
Lösungsansätze noch näher zu interessieren haben, besonders wenn es um das
Thema „Recht“ geht.
[46] Vgl. dazu T.
Litt in seiner Einführung in: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte, Reclams Universalbibliothek Nr. 4881, S. 1-34, besonders S. 7 ff.,
wo er von der „Denaturierung“ der Natur spricht.
[47] Zur
Unterscheidung des „Vernunftstaates“ vom bloßen Not- und Verstandesstaat: Siehe
den Beitrag: „Der Not- und Verstandesstaat“ – auf dieser Plattform.
[48] L (S), S. 421.
[49] Ebd. S. 412.
[50] L (B), S. 33.
[51] Hegel definiert in der
„Wesenslogik“ (L[W], S. 161) die Wirklichkeit als „die Einheit des Wesens und
der Existenz“. Das Wesen für sich allein ist „gestaltlos“. Die Erscheinung für
sich allein ist „haltlos“. Das „Wesen“, entnehme ich daraus, ist „gestaltloses
Sein“.
[52] Siehe dazu den Beitrag Zwischen Sein und Bewusstsein – hier auf dieser Plattform.
[53] Zum Begriff der
„vernünftigen Institution“ G. Lübbe-Wolf, Die Aktualität der Hegelschen
Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gebhardt/Walter Jaeschke
(Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels,
Hamburg 2009 (HS, Beiheft 52), S. 328-349.
[54] E, 2. Vorrede,
MM 8, S. 15.
[55] Die Endlichkeit
der Natur und ihrer Ressourcen ist weder ein Thema für Ricardo, noch für Marx.
Als Fragestellung der hegelschen Philosophie, „die der Existenz der Erde selbst
ein mögliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sicheres Ende vorhersagt“,
galt sie F. Engels als „konservativer Vorbehalt“, der außer Acht zu lassen war.
(MEW 21, S. 268).
[56] N. Luhmann, Ökologische
Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen
einstellen?, Opladen 1986, S. 256 u. 259.
[57] Ein Indiz ist
der World Overshoot Day, der Tag, von dem ab unser Ressourcenverbrauch die
jährliche Reproduktionskraft der Erde übersteigt. Das war 1987 der 19.Dezember,
2010 der 21.August, 2015 der 13. August und 2019 der 29.Juli.
[58] Vgl. ebd.
[59] Ebd. Siehe auch
B. Bourgeois (Der Begriff des Staates, in: L. Siep [Hrsg.], G.W.F. Hegel.
Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 228): „Für Hegel ist das
unwiderstehlichste Staatsrecht das Recht des Weltgeistes“.
[60] Theodor Litt, Hegel.
Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, S. 122.
[61] M. Riedel,
Zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 59.
[62] R.
Kroner, System und Geschichte bei Hegel, Logos 20 (1931), S. 251.
[63] Litt, Versuch, a.a.O.,
S. 123.
[64] Vgl. § 552 E. Er verweist auf „das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit“ = die „Naturseite“ (§ 548 E).
[65] Ebd. (§ 552 E).
[66] § 548 E.
[67] § 549/A E: „Dass
der Geschichte und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck
an-und-für-sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden
sei und werde, - der Plan der Vorsehung“.
[68] § 259 R.
[69] § 259/Z R.
[70] § 259 R.
[71] § 341 R.
[72] § 259 R.
[73] In der Vorrede
der von ihm 1833 herausgebrachten 2. Auflage der „Rechtsphilosophie“, enthalten
in der Edition Ilting Bd. I, S. 593.
[74] § 352 R.
[75] Siehe dazu §
333/A R. Die dortigen Ausführungen, häufig missverstanden, müssen im
Zusammenhang des hier skizzierten Staatsbegriffs
gesehen werden. Sie gewinnen eine ganz andere Bedeutung, wenn man sie im Sinne
der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Not- und Verstandesstaates
interpretiert. Dann sind sie eher Beleg für Hegel, den „Machtstaatler“ oder gar
„Reaktionär“, mindestens aber Beweis dafür, dass Hegel hinter den von Kant
„erreichten Problem- und Bewusstseinsstand zurückgefallen ist“. (R. Dreier,
Recht-Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Kapitel 11 „Bemerkungen zur
Rechtsphilosophie Hegels“, dort S. 322f., Frankfurt a.M. 1981).
[76] E. Gans, a.a.O.
[77] § 331; vgl. auch
§ 322/A R.