Der „halbierte“ Begriff. Zur
Hegel-Kritik L. Feuerbachs
(Der
Anteil L. Feuerbachs an der Perhorreszierung der Hegelschen Philosophie)
1.
Der richtige Anfangspunkt?
Ein
zentraler Punkt seiner Kritik ist so formuliert:
„Hegel beginnt … mit dem Begriffe
des Seins oder mit dem abstrakten Sein.“
Ist damit aber der „Anfangspunkt“
der Philosophie richtig gesetzt?
„Warum soll ich nicht mit dem
Sein selbst, d.h. mit dem wirklichen Sein beginnen können?“[1]
Der richtige „Anfangspunkt“!
Hegel sieht ihn im Begriff des Seins. Denn das Wahre wird nur im Begriff
sichtbar. „Ganz ohne Identität des Begriffs und der Realität vermag … nichts zu
bestehen.“[2]
Doch das ist Idealismus. Ihm
setzt Feuerbach seinen Materialismus entgegen. Er orientiert sich am „Wirklichen“.
Philosophie ist für ihn „die Erkenntnis
dessen, was ist.“ Er bekräftigt:
„Das, was ist, so, wie es ist“ – das ist das Wahre.[3]
Der Begriff: Für Feuerbach das
Markenzeichen der Hegelschen Philosophie. Und diese wiederum ist ihm eine
sublime Art von Theologie; „nichts anderes als das rationalisierte, realisierte, vergegenwärtigte Wesen Gottes.“[4]
Eine Philosophie, die auf spezifische Art das Himmlische irdisch zu machen
sucht. Deshalb ist der „Begriff“, dieses „Absolute“, zu ersetzen durch einen
Ausgangspunkt, der allein im Irdischen, der im Menschen selbst gelegen ist.
Nicht nur, dass Hegel damit den
„Anfangspunkt“ nicht richtig gesetzt habe. Schlimmer noch ist, dass der Anfang
in seiner Philosophie nie endet. Ein Anfang, der bis zum Ende anhält. Wie soll
es eine Entwicklung geben, wenn die Geschichte im „Anfang“ stecken bleibt?
Der Anfang stört. Er führe zu
einem geschlossenen System, wo Anfang und Ende ineinander übergehen.
Der hegelsche Begriff ist es, gegen den Feuerbach opponiert, nicht der
Begriff, wie er Verwendung findet, um ein „bestimmtes Dasein“ zu bezeichnen.
Was ist der Unterschied? Lassen wir Hegel sprechen. Gegen das gewandt, „was
Kant den Begriff nennt“, führt er aus: Kant bleibe beim „sinnlichen Dasein“
stehen, bei einem Dasein, das für sich genommen wird, das ohne Bezug zu anderen
Formen des Daseins gesehen wird. Deshalb bilde dessen Begriff nur ein
unvermittelt Existierendes ab. Er beziehe sich auf eine „abstrakte Identität“,
die die „Entgegensetzung“ ignoriert. Sein (Hegels) Begriff beziehe sich hingegen
auf zwei Entgegengesetzte, die ihre Einheit in einem „gestaltlos“ gewordenen
Sein haben, von dem aus sie vermittelt werden.
Damit ist es gesagt: Der
Kant‘sche Begriff abstrahiert von der „Vermittlung“. Gerade diese aber ist das wesentliche
Element des Hegelschen. Bezogen auf das Sein: es gibt zwei „Seine“, von denen
jedes das „notwendige Andere“[5]
ihres Gegenübers ist. Soweit auch Kant die „Vermittlung“ anerkennt, sei es so,
dass er bei der Behauptung stehenbleibt, „dass der Begriff schlechthin von der Realität
getrennt sei und bleibe“[6].
Folge sei ein Begriff, der dem Sollen, nicht dem Sein angehört.
Das könnte auch gegen Feuerbach
gesagt sein.
Astrophysikalisch gesehen: Hegel
beginnt mit dem Sein vor dem Urknall, Feuerbachs Sein ist jenes nach dem Urknall.
Das Sein vor dem „Urknall“ ist
die „Substanz“ Spinozas. Das Absolute. Das göttliche Sein.
Nach dem „Urknall“ zeigt sich
diese „Substanz“ als die Einheit des Ganzen und der Teile. Und um das Lebendige
und Dynamische dieser Einheit deutlich zu machen: als „Verhältnis des Ganzen
und Teile“[7].
So wird sie bei Hegel Inhalt des
Begriffs.
Für Feuerbach gehen aus der „Substanz“
nur Teile hervor. Und so folgt sein Begriff auch nur den Teilen. Wo Hegel zwei
„Seine“ im Blick hat sowie deren Einheit, sieht Feuerbach nur das jetzt in
Teile zerfallene Sein. Und „Einheit“? Sie sagt ihm wenig; „Einheit“ ist für
Feuerbach bloßes „Und“[8]. Allenfalls
akzeptiert er sie als Einheit der Teile.
Wir stehen vor dem, was beide
prinzipiell unterscheidet.
Kommen wir auf die Natur zu
sprechen.
Hegels Natur ist sowohl die Natur
vor Eintritt des Menschen in die Geschichte, ist „vorgefundene Natur“[9],
als auch die hinzukommende menschgeschaffene Natur. Und weil beide Naturen
„entgegengesetzt“ sind, stehen wir zugleich vor der Notwendigkeit ihrer
„Einheit“ im Rahmen einer „Einheits-Natur“.
Feuerbach hingegen kennt nur die
menschgeschaffene Natur; sie ist ihm die „menschliche“ Natur. Er übersieht, was der „Begriff“ für Hegel
ist: das ins Bewusstsein gehobene Wissen davon, dass es zwei, zwei entgegengesetzte, Naturen sind, denen
der Mensch angehört. Und es ist der Begriff, der uns die Notwendigkeit ihrer
Einheit aufzeigt; er zeigt uns die „Wahrheit der Substanz“[10].
Was ist der Mensch?
Für Hegel ist der Mensch „zwei
Menschen“. Er ist Geschöpf und er ist selbst auch Schöpfer. Er ist Teil der einen wie der anderen Natur. Er teilt daher
die „Entgegensetzung“ der beiden Naturen. Er ist ein Doppelwesen, das mit sich
selbst im Streit liegt - der Nährboden des Phänomens „Entfremdung“. In der Familie und im Staat
haben diese beiden Menschen einen außer ihnen liegenden „Einheitspunkt“.
Anders Feuerbach. Er spricht der
Verdoppelung der Natur und des Menschen eine Realität ab. Sie sei ein
Standpunkt, der die „Wahrheit gänzlich
verrückt.“[11]
Hegel gelange dazu, indem er die „spezifische Differenz des Menschen“, den
Unterschied zum Tier, weglässt. Das Ergebnis ist nicht der Mensch, „sondern ein
selbstgemachtes Wesen“[12],
eine Erfindung. Für ihn ist der Teil-Mensch der „produzierten“ Natur der ganze
Mensch. Was er erschafft ist „verobjektiviertes“ Menschentum[13].
Für Feuerbach gilt:
Das Außereinander von Mensch und
Tier, von dieser und jener Natur ist ein „Außereinander, das sein soll, das der Vernunft nicht wider-, sondern entspricht.“ Wo Hegel den beiden
„Außereinander“ ein Miteinander vor die Nase setzt, heißt es bei ihm:
„[W]as außereinander ist, das
kann auch nur nacheinander gedacht werden.“[14]
Die Frage Hegels, wie jetzt, nach
Wegfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“[15],
die beiden Naturen zur Einheit gebracht werden, stellt sich ihm nicht. Apodiktisch
formuliert er:
„Der Mensch unterscheidet sich keineswegs
nur durch das Denken von dem
Tiere. Sein ganzes Wesen ist vielmehr
sein Unterschied vom Tiere.“[16]
Der Mensch ist die „Wahrheit der Tiere“[17]. Er
hat ein „zweifaches“, das Tier nur ein „einfaches“ Leben.[18]
Aber während Hegel in diesem „zweifachen“ Leben das Problem des Menschen sieht,
ergibt sich für Feuerbach daraus seine gottähnliche Stellung.
„Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst
des Menschen.“[19]
Deshalb: „Alle Wissenschaften
müssen sich auf die Natur gründen. … Die Philosophie muss sich mit der
Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden.“[20] Sicher,
er meint es gut mit dieser Forderung. Und doch führt sie in die Irre.
Die „vorgefundene“, die „primäre“,
Natur ist bei Feuerbach ausgeblendet. Und mit ihr: der „tierische“ Mensch. Wie
wir aber heute wissen, sind wir zu 60-95 Prozent unseres Erbmaterials mit
Schwein, Kuh und Affen identisch. Wir gehören also ebenso der Tierwelt an wie
die Tiere der Menschenwelt. Auch das zeigt uns als Wesen, das auf zwei Naturen
„verteilt“ ist. Und da wir gerade dabei sind, die Tierwelt zu zerstören,
sollten wir bedenken, dass wir insoweit Hand an uns selbst anlegen. Der Riss,
die Spaltung geht durch den Menschen hindurch. Sein Unterschied vom Tier, sein
planender und tätiger „Wille“, gehört der einen, seine Leiblichkeit der anderen
Natur an.
Bei Feuerbach wird das zentrale
Problem der Menschheit, die Frage Hegels,
zum Scheinproblem. Er kritisiert: „Die Hegelsche Philosophie … hat das
Ich außer das Ich gesetzt, abgesondert vom Ich, als Substanz, als Gott
vergegenständlicht“[21]. Er
übersieht, dass Hegel Dimensionen des Menschen erfasst, die am Rande stehen
oder gar verborgen bleiben, wenn – wie bei Feuerbach - nur der (einzelne) Mensch im Mittelpunkt steht. Der Mangel des
„wirklichen Menschen“ Feuerbachs: Er ist aus der Sicht Hegels nur der Leib
gewordene „Wille“, der, zusammen mit der „produzierten“ Natur, als Teil-Mensch „Person“ aufkommt[22].
Hegel untersucht das menschliche
Dasein auf drei Ebenen:
-
die
der beiden Naturen, d.i. die Ebene der Allgemeinheit; die Ebene des Staates;
-
die
der Familie, d.i. die Ebene der Besonderheit;
-
die
des einzelnen Individuums, d.i. die Ebene der Einzelheit.
Aus diesen drei Ebenen sowie
ihren Verbindungen und Interaktionen gewinnt Hegel sein Menschenbild.
Die bisherige Geschichte verlief
so, dass auf jeder dieser Ebenen die „Einheit“ durch „Blut und Boden“, durch
(Bluts-)Verwandtschaft gestiftet wurde – mit abnehmender Kraft, je mehr die
„produzierte“ Natur voran kam. Dann das: Die über tausende von Jahren auf diese
Weise hergestellte Einheit wird vom Sockel gestoßen. Das „naturwüchsige
Gemeinwesen“ und seine politischen und ökonomischen Institutionen: Feudalstaat
und Wirtschaftsfamilie, zerbrechen. Es ist die Stunde der „produzierten“ Natur.
Sie emanzipiert sich. Sie reißt als bürgerliche Gesellschaft die Herrschaft an
sich. Das bisherige „höhere Dritte“ hat ausgelebt.
Aber wer, was stiftet nun die
Einheit? Das ist die Frage, die Hegel umtreibt.
Eine Frage, für die Feuerbach
keinen Grund sieht. Es bedarf dieser Einheit nicht. Schon gar nicht, wenn man
das Individuum „Mensch“ in die Mitte stellt. Denn in was sollte, wie könnte es
zerfallen, ohne dass dies zum Tode führt? Es war, ist und bleibt unteilbar.
Keine Abstraktion der Welt kann daran etwas ändern. Für ihn ein „sonnenklarer“
Befund, der die „unmittelbare Einheit“ dessen belegt, was für Hegel getrennt
sein soll und (nur deshalb) zu vermitteln ist.[23].
Und biologisch gesehen hat er damit
völlig recht!
Freilich, es existiert eine
dialektische Einheit. Aber sie geht nicht durch den einzelnen Menschen
hindurch, sondern beruht auf der Unterscheidung „in Ich und Du“[24],
handelt also auf gleicher Ebene; aus Sicht Hegels: auf der der Einzelheit. Auf
dieses „Ich und Du“ verschrumpft bei ihm der Gegensatz sowohl der beiden
Naturen wie der des Menschen.
Der weitere Blick Hegels zeigt:
Auf den Ebenen der Allgemeinheit
und der Besonderheit führt der „Zerfall“ zu ganz neuen politischen und
ökonomischen Gestaltungen. Die „produzierte“ Natur emanzipiert sich, die
„naturwüchsig“ hergestellte Einheit der Naturen bröckelt erst und wird dann
gänzlich beseitigt. Der Feudalstaat wird
ersetzt durch den „Not- und Verstandesstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft. Ein
Staat bloß der „produzierten“ Natur, ein „Halbstaat“ - weshalb er Hegel nicht
genügt und zu einem „Vernunftstaat“ weitergeführt werden muss. Und dort, auf
der Ebene der „Besonderheit“, verliert die „Wirtschaftsfamilie“ ihre
ökonomische Bedeutung. Sie zerfällt im Rahmen der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung in die bürgerliche Kleinfamilie, die auf die „Produktion“ des
Nachwuchses spezialisiert bzw. reduziert ist und sie zerfällt in die
kapitalistische Unternehmung, auf die jetzt das Produzieren der profanen Güter
übergeht..[25]
Was früher eine Einheit bildete, zeigt sich jetzt als „Entgegengesetzte“, als
Plus und Minus. Aber beide Teile bedürfen weiterhin der Vermittlung. Eine
Aufgabe, die auf der Ebene der „Besonderheit“ jenen Institutionen des „Not- und
Verstandesstaates“ – „Polizei“ und „Korporationen“ -, obliegt, die heute zum
Sozialstaat zusammengefasst sind.
Der Aufstieg der „produzierten“
Natur ist die Stunde der „personifizierten Selbstsucht“[26],
kurz: der „Person“. Das „Entgegengesetzte“ des „tierischen“ Menschen ist jetzt der Mensch.
Ausschließlich ein Gewinn, wie
Feuerbach meint. Ein Gewinn und ein Verlust, wie es Hegel sieht. Immerhin sind
der jetzige Zustand und seine Folgen eine Hauptquelle jener „Entfremdung“, die
Feuerbach für eine Erfindung Hegels hält.
„Die Hegelsche Philosophie hat
den Menschen sich selbst entfremdet,
indem ihr ganzes System auf diesen Abstraktionsakten beruht.“[27]
Und doch ist sie in der Welt.
Zwar ist sie kein völlig neues Phänomen, aber es gewinnt eine neue, vorher unbekannte Dimension; nie
waren sich beide Teil-Menschen fremder als jetzt.
Obwohl er tatsächlich „zwei
Menschen“ ist, wird der Mensch jetzt nur als jener Teil-Mensch wahrgenommen,
der sich soeben zur „Person“ konstituiert hat. Die „Person steht im Licht, der
andere Teil-Mensch, das „Subjekt“[28],
steht im Schatten. Auf die „Person“ entfallen die Rechte, die die „produzierte“ Natur zu
vergeben hat, auf das Subjekt die Pflichten. Bei dieser, dem
Entweder-Oder-Denken verpflichteten, Vorgehensweise bleibt Hegels Anliegen
unverstanden. Ihm geht es nicht um die Betonung der subjektiven Rechte der
Person, sondern um die (Rechts-)Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung
und unter Berücksichtigung seines eigenen Schöpfertums.
Nicht zu vergessen:
Im antiken Rom war der „Freie“,
der Römer die Vorstufe der „Person“, der Sklave war die Vorstufe des
„Lohnarbeiters“.
Zwischenergebnis:
Es geht beiden, Hegel und Feuerbach, um
den Begriff des Menschen. Was sie unterscheidet, ist bereits aufgezeigt worden:
Hegel sieht den Menschen mit zwei Naturen verwoben, Feuerbach bringt ihn nur
mit der selbstgeschaffenen Natur in Verbindung. Für ihn sieht es daher so aus,
als verdoppele Hegel den Begriff. Dieser würde entgegenhalten: Feuerbach
halbiert ihn.
Die „Halbierung“ führt auf der Stufe der
Allgemeinheit zum Ausschluss der „primären“ Natur aus dem Begriff „Natur“, wie
er auf der Ebene der Einzelheit zum Ausschluss des „tierischen“ Menschen aus
dem Begriff „Mensch“ führt. Übertragen auf den Gegenstand der Philosophie:.
Auch dieser wird „halbiert“, indem jetzt die „primäre“ Natur und ihr Mensch zum
alleinigen Gegenstand der Naturwissenschaften gemacht werden.
Die so
halbierte Philosophie wird zur Ideologie.
Zwischen
Sein und Nichts: das Wesen
.Feuerbach zählt Hegel zu den
„Identitätsphilosophen“ um Fichte und Schelling. Von Fichte sagt er, dieser
habe nur ein „negatives Verhältnis zur Natur“[29].
Von Schelling sagt er, dieser huldige einer romantisierten Natur. Gemessen an
ihnen sei Hegel „wie unter Trunkenen als der einzig Nüchterne“[30]
anzusehen.
Ihre Leistung sieht er darin:
„Allerdings stellte die Identitätsphilosophie
eine verlorene Einheit wieder her“.
Aber: „[N]icht insofern sie diese
Einheit als das Absolute, als ein gemeinschaftliches und doch wieder von Geist
und Natur unterschiedenes Wesen vergegenständlichte – denn dieses Absolute war
nur ein ununterschiedenes Zwitterding von Idealismus und Naturphilosophie,
entsprungen aus dem Zwiespalt des Urhebers der Naturphilosophie zwischen sich
als Idealisten und Naturphilosophen -, sondern nur insofern, als der Begriff
dieser Einheit eben der Begriff der Natur als Subjekt–Objekt, also die
Wiederherstellung der Natur überhaupt war.“[31]
Feuerbach übersieht, dass Hegel selbst
ein Kritiker der „Identitätsphilosophie“ ist. Und dass er sie überwindet, indem er in seiner Logik den
Nachweis erbringt, dass das „Ding an sich“
irdischer Natur ist, dass es als besonderes, „gestaltloses“, Sein
existent ist. Das erfolgt in zwei Schritten: über das „Wesen“ und über den
„Begriff“.
In der „Wesenslogik“ sagt uns
Hegel: Auch wenn der Schein es uns glauben machen will: das „Ganze“ ist nicht
aus der Welt. Es hat zwar seine ursprüngliche Gestalt verloren. Es ist dadurch
aber nicht zu einem Nichts geworden. Auch „gestaltlos“ wirkt es als
„Kraftzentrum“[32]
fort. Allerdings im Nachhinein, in der spontanen, chaotischen Weise, die uns
als das Wirken der „unsichtbaren Hand“ bekannt ist. Der Prozess geht weiter, er
führt zu einer historisch neuen Gestalt; zur „Vernunftgestalt“. Das Problem
daran: die „Vernunftgestalt“ stellt sich nicht von selbst her. Dazu ist unser
Zutun gefordert. Daran fehlt es damals und - ganz überwiegend - auch noch
heute. Zwar werden wir über die „Idee des Ganzen“[33]
ständig daran erinnert, diesen Beitrag zu leisten, aber gerade die Vernunft gilt
uns als die größte Zumutung, weshalb wir sie gerne meiden – so auch hier.
Überhaupt: Seine „Logik“ weist
uns den Weg. Hier zeigt uns Hegel, dass Geschichte nicht als Hinauswurf des
Unliebsamen, des lästig Gewordenen aus der „ursprüngliche[n] Einheit“ zu verstehen
ist, sondern als eine Aufhebung, die zu
einer historisch neuen Gestalt von Einheit führt.[34]
Er fragt:
Wohin, zu welchem Ergebnis, führt
der Zerfall des „ursprünglich Einen“? Dazu, dass aus einem Quantum eine
Vielzahl von Quantitäten wird; dazu, dass an die Stelle einer Totalität
Totalitäten treten? Seine Antwort:
Der „Zerfall“ zeigt sich darin,
dass aus der Ursprungs-Totalität ein Verhältnis des Ganzen und der Teile wird,
das die Stelle der Ausgangssubstanz einnimmt. Die Teile gehen daraus nicht als
Totalitäten hervor, sondern als „relative Totalitäten“ – was darauf verweist,
dass der „Zerfall“ nicht alle Bindungen zur Ursprungs-Substanz erlöschen lässt.
Ganzes und Teile bleiben verbunden; das Ganze wirkt relativierend auf die Teile
ein. Die Totalität geht nicht vollständig in den Teilen auf, sie ist nicht aus
der Welt, sondern zeigt sich jetzt als das Verhältnis des Ganzen und der Teile.
Das Besondere dieses
Verhältnisses:
Nur die „relativen Totalitäten“
nehmen Gestalt an. Das „Ganze“ hingegen bleibt zwar Sein, verliert aber seine
Gestalt; es existiert fort als „gestaltloses“ Sein. Der Zerfall führt also zum
„gestalthaften“ Sein der Teile und zum „gestaltlosen“ Sein des „Ganzen“.
Das „Ganze“ und die „Teile“:
Zusammen ergeben sie eine neue Realität, die Hegel zum Gegenstand seiner
Philosophie macht. Feuerbachs Philosophie ist dagegen auf die „Teile“ beschränkt.
Was stattfindet ist eine
zweifache Negation des Bestehenden; eine „Aufhebung“. Ein Vorgang, der dem
Alten ein Ende bereitet ohne es zu vernichten. „Was sich aufhebt, wird dadurch
nicht zu Nichts.“[35]
Das Aufgehobene verliert lediglich seine Unmittelbarkeit, lebt aber als Sein
fort. In unserem Fall als das „gestalthafte“ Sein der Teile und das
„gestaltlose“ Sein des Ganzen. Zusammen, als Einheit des Ganzen und der Teile,
treten sie an die Stelle des Alten.
Feuerbach denkt mechanisch, nicht
dialektisch, wenn er sagt: „Das Geheimnis der Hegelschen Dialektik ist zuletzt
nur dieses, dass er die Theologie durch die Philosophie und dann wieder die Philosophie
durch die Theologie negiert. … Erst wird alles umgeworfen, aber dann wieder
alles an sein alten Platz gestellt“[36].
Damit ist verkannt, dass die
Aufhebung der logische Kern der Geschichte ist.
Für Feuerbach führt der Zerfall
hier zu neuen Totalitäten und dort zum „Nichts“. Wo Hegel das „Ganze“ sieht,
sieht Feuerbach „ein Gespenst der spekulativen Imagination“[37].
Wo die „Substanz“ Hegels in „gestaltloses“ und „gestalthaftes“ Sein zerfällt,
sieht Feuerbach das „Nichts als Gegensatz des Seins“[38].
Er hält es mit Kant, für den - wie Hegel kritisch anmerkt - die
Ursprungs-Substanz zur „verschwundenen Realität“[39],
zum Nicht-Sein wird,. Sah Kant darin aber wenigstens noch ein von der Realität
getrenntes „Gedankending“[40],
so ist es für Feuerbach gar nur ein „Glaubensding“.
Das sind die Fragen:
Was aber, wenn dieses „Glaubensding“
eine Form des Seins ist; ein Sein, das „gestaltlos“ ist? Man denke an die
moderne Physik, die uns an so manche Materieformen gewöhnt hat, denen es an
„Gestalt“ mangelt.
Was ist wirklich. Nur das
sinnlich Wahrnehmbare?
Die Antworten gegenübergestellt:
Hegel:
Die Abwesenheit der Gestalt führt
nicht zum „Nichts“! Das „Nichts“ markiert lediglich den Punkt, an dem das
„gestalthafte“ in „gestaltloses“ Sein umschlägt. Nur der Aggregatszustand ändert
sich.
Feuerbach:
Die Abwesenheit einer Gestalt
führt zum Nichts. Das Nichts ist „dasjenige, dem kein Begriff entspricht.“[41]
Es ist das „absolut Gedanken- und Vernunftlose.“[42].
Das Nichts ist und bleibt ein
Nichts. „Gestaltloses“ Sein? Ihm kommt keine Wirklichkeit zu. Es ist
„Spukgestalt“, „Mystik“, „Gedankending“, „Ursprung eines Gespenstersehens“.[43]
Nur Hegel nimmt es für „bare Münze“[44]. „Nur
die Phantasie macht das Nichts zu einem Substantiv; aber nur so, dass sie das
Nichts selbst in ein gespenstisches, wesenloses Wesen metamorphisiert.“[45]
Merke: „Was in der Wirklichkeit getrennt ist, soll auch im Gedanken nicht identisch sein.“[46]
Das „gestaltlose Sein“, Gegenstand
der Hegelschen „Wesenslogik“, ist verworfen. Aber auch das Kant’sche „Ding an
sich“. Damit fällt Feuerbach nicht nur hinter Hegel, sondern auch hinter Kant
zurück. Sein philosophischer Ansatz entpuppt sich als eine Spielart des jetzt
zur Herrschaft gelangenden Positivismus. Er sorgt dafür, dass mit dem Nichts auf
allen Ebenen des Seins eine Praxis bestätigt und zementiert wird, die auf der
Ausgrenzung der „primären“ Natur und all dessen, was zu ihr gehört, beruht.
Raum
und Zeit (Kritik am Geschichtsbild Hegels)
Der „logifizierte“ Abriss des
Hegelschen Geschichtsbildes könnte so lauten:
Das
Sein ist gegenwärtig und unmittelbar; es
ist „Gestalt“.
Das
Wesen resultiert aus der ersten Negation des Seins. Aus ihr geht das Wesen als
zeitlos gewordenes Sein hervor; alles „Bestimmte und Endliche“ fehlt ihm.[47]
Das
Wesen ist anwesend, jedoch „gestaltlos“; es ist Sein in der Form der
Mittelbarkeit.
Sichtbar
wird es im Rahmen der „zweiten Negation“ [48]
– im „Begriff“. Dieser macht es als „Vernunftgestalt“ sichtbar. Das Sein ist
damit wiederhergestellt, aber nicht als das alte. Mit der „Vernunftgestalt“
haben wir es jetzt vor uns „als die unendliche Vermittlung und Negativität
desselben mit sich selbst.“[49]
Der
Begriff zeigt uns die „Entgegensetzten“ und deren Mitte im Wesen. Zum Zwecke
der Vermittlung muss das Wesen handlungsfähige Einheit sein, also in die „vernünftige Institution“ überführt werden.
„Raum und Zeit sind die
Offenbarungsformen des wirklichen
Unendlichen.“[50]
Das geht gegen Hegel, der das Problem des Menschen in seiner Zugehörigkeit zu
zwei entgegengesetzten Naturen sieht. Ein zeitloses, ein endloses Problem.
Unüberwindbar und stetig an Bedeutung gewinnend – woraus sich die Daueraufgabe
„Vermittlung“ ergibt. Dieser „verkehrten Weise“ zur Wahrheit zu gelangen,
nämlich vom Unendlichen her[51],
stellt Feuerbach die „Wahrheit des Endlichen“ gegenüber.
Für Hegel ist Geschichte nicht
die Geschichte sich einander ablösender Gesellschaftsformationen oder – wie bei
Marx – die von Klassenkämpfen, sondern sie ist für ihn in erster Linie die
Geschichte des Verhältnisses der beiden Naturen. Zu seiner Zeit unterliegt
dieses Verhältnis einem dramatischen Wandel. Das „naturwüchsige Gemeinwesen“,
in welchem, unter Führung der „primären“ Natur, die Menschen durch „Blut und
Boden“ zusammen geschlossen waren, zerbricht. Die „produzierte“ Natur,
angetrieben von der Produktivkraftentwicklung, durch Webstuhl und
Dampfmaschine, drängt nach vorne und nach oben. Und schließlich das: Sie befreit
sich von den Fesseln des „naturwüchsigen Gemeinwesens“. Freiheit!
Die „produzierte“ Natur ist jetzt
als eigenständige Natur erkannt und als solche unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ anerkannt. Die
Vorgeschichte ist beendet. Was folgt ihr nach?
Eine
neue Epoche der Menschheitsgeschichte beginnt. Und war es so, dass bisher die
„primäre“ Natur vorherrschte, so wechselt jetzt die Vorherschaft auf die
„produzierte“ Natur über. Ein Wechsel, der auf der Ebene des Rechts von der
Herrschaft des „älteren“ zu jener des „neueren“ Naturrechts führt. Er wird von
der tonangebenden Philosophie wie auch von der Rechtswissenschaft begrüßt.
Anders Hegel. Er sieht darin eine ungeheure Verschärfung jener Frage, die er
als die Schicksalsfrage des Menschen
ansieht – die Frage seines jetzigen und künftigen Umgangs mit der „primären“
Natur. Denn mit der jetzt frei gewordenen „produzierten“ erwächst der anderen
Natur ein Gegner, der – werden ihm nicht Zügel angelegt – das Potential in sich
trägt, sie unter sich zu begraben.
Zwei
Naturen, die sich gegenüberstehen. Zwei Naturen – und zu jeder von ihnen hat
der Mensch ein anderes Verhältnis. Und jetzt das: Die „produzierte“ Natur wird
zum Nabel der Welt erklärt. Sie allein steht im Zentrum und bestimmt das Denken
und Handeln. Nach ihrem Bilde wird nun alle Natur erklärt. Aller
Natur wird jetzt die Eigenschaft dieser
Natur angedichtet.
Eine Umkehrung.
Mag die Mehrheit seiner
Zeitgenossen sie unter dem Gesichtspunkt einer „ausgleichenden Gerechtigkeit“
schönreden. Hegel gehört nicht zu ihnen. Für ihn ist es etwas anderes, ob die
„produzierte“ am Gängelband der „primären“ geht oder ob es nun umgekehrt zugeht.
Denn weiterhin bleibt es doch dabei, dass die „primäre“ Natur der Ursprung von
allem ist. Ist diese „Umkehrung“ also vernünftig?
Er lebt in einer „Zeit der Geburt
und des Übergangs zu einer neuen Periode“[52].
Vor seinen Augen haucht das Heilige römische Reich deutscher Nation, das letzte
große „naturwüchsige“, nach Art eines Organismus organisierte und
funktionierende, Gemeinwesen in Zentraleuropa, sein Leben aus. Es ist schon
lange, die letzten Jahrhunderte, in „elender Verfassung“. Aber nun, 1800, steht
fest: „Deutschland ist kein Staat mehr.“[53]
Wer beerbt es, was folgt ihm nach?
Deutschland ist spät dran. In
England und Frankreich ist der Übergang längst erfolgt. Was ist von dort zu
lernen, was nicht? Jene Fragen stehen an, die den Untergang der feudalen
Gemeinwesen überall begleiten. Wie geht es weiter? Was
folgt nach? Es drängt sich hier, in Deutschland, geradezu auf, die vor der Tür
stehende bürgerliche Gesellschaft anhand der dort gemachten Erfahrungen zu
messen. Und es gilt, die Vorschuss-Lorbeeren, mit denen die Philosophie der
Aufklärung die bürgerliche Gesellschaft bedacht hat, zu überprüfen. Hat die
bisherige Praxis diese bestätigt? Und wenn nicht: Welche Korrekturen sind
vorzunehmen, welche Schlüsse sind aus den erhobenen Befunden zu ziehen?
Das Deutschland dieser Zeit: der
ideale Nährboden für Denker vom Schlage Hegels.
Ein
Ruck geht durch die Geschichte. Er bringt das Ende eines „Ganzen“, das „ein
Vielfaches nicht von Teilen, sondern von Gliedern“ war.[54]
Der Organismus löst sich auf. Dessen Glieder
werden zu „Teilen“; zu Teilen, die, oberflächlich gesehen, „Totalitäten“
zu sein scheinen. Die „Glieder“ standen in einem Gemeinschaftsverhältnis. Jetzt
aber, als Teile, sind sie „Entgegengesetzte“. Ein bedeutsamer Unterschied. Und
er wird noch bedeutsamer durch den jetzigen Wechsel der Vorherrschaft. Wir
stehen also vor einer Entgegensetzung, die zugleich eine Umkehrung der
Machtverhältnisse ist.
Was
sind die Folgen? Und wie ist mit ihnen umzugehen?
Beide
Naturen sind nun ihrer bisherigen Verklammerung los und ledig. Beide sind nun
frei. Und besonders frei sieht sich die „produzierte“ Natur geworden. Sie, die
sich jetzt „bürgerliche Gesellschaft“
nennt und vorgibt, die menschliche Natur zu sein.
Das Generalthema seiner
praktischen Philosophie ist eröffnet: Die Frage, was jetzt „Natur“ und
„Naturrecht“ bedeuten, die Frage, was jetzt „Staat“ ist - jetzt, nach dem
Zerfall des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens.
Aber
die Frage ist von der Praxis – siehe England, siehe Frankreich, siehe
Nordamerika - längst im Sinne der „Halbierung“ entschieden.[55]
Hegel und seine Philosophie passen nicht mehr in die Zeit. Sie stören bei dem, was jetzt angesagt ist:
„Also
Explorieren der ganzen Natur … Exploration der Erde nach allen Seiten“[56].
.
Hegel
stört. Denn wohin führt sein „Absolutes“?
Doch
dahin, dass „die Totalität, die Absolutheit einer besonderen geschichtlichen Erscheinung oder Existenz als Prädikat
vindiziert“ wird. Die Folge: Die einzelnen Entwicklungsstufen werden nicht als
„selbständige Existenzen“ wahrgenommen[57];
sie bleiben im Schlepptau des „Absoluten“. Ihre Totalität wird negiert. Sie
gelangen über den Rang „relativer Totalitäten“[58]
nicht hinaus.
Was
bei Hegel fehlt, ist die Betonung des „Konkret-Historischen“. Es fehlt der
konkrete Begriff, moniert Feuerbach. Alles konkret Existierende ist bei Hegel
dem Fortbestehenden ein- und untergeordnet. Und so bewege er sich „in der
Abstraktion von aller Realität“[59].
Die daraus folgende mangelnde Selbständigkeit des Konkreten hemme die
Entwicklung. Was entsteht ist ein Kreislauf, der eine Entwicklung nur in
„homöopathischen Tropfen“[60]
zulässt.
Feuerbachs
Fazit:
Die
Bindung an das Absolute führt zu einem „Stillstand der Zeit“[61]. Und
er meint damit, dass die Geschichte
bei Hegel nicht - wie später F. Tönnies
formulieren wird - voranschreitet von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“. Dem
vermeintlichen Anspruch Hegels, mit seinem System eine ewige Philosophie
geschaffen zu haben, hält Feuerbach entgegen: Auch seine Philosophie ist
endlich und hat ein Verfallsdatum. Sie ist „entstanden in einer Zeit, wo die
Menschheit, wie zu jeder anderen Zeit, sich auf einer bestimmten Stufe des
Denkens befand“[62].
Sie war die Antwort auf die Fragen dieser Zeit. Aber diese Zeit ist vorbei.
Was
also ist zu tun? Das Existierende aus den Fängen des „Absoluten“ befreien, die
ohnehin nur eingebildeten Fäden zu ihm kappen.
Richtig
daran ist, dass sich die Entwicklung der Menschheit, ginge es nach Hegel, sich
in gemächlicheren Bahnen vollzogen hätte; nicht in diesem Eilzug-Tempo. Möglich,
dass viele der Errungenschaften, die uns heute selbstverständlich sind, noch
„Zukunftsmusik“ wären. Aber wir stünden dafür gewiss nicht vor dem heutigen
Scherbenhaufen. So aber: Wir gehen auf das Zeitliche zu, wo er das Zeitlose
will. Wir setzen der „primären“ Natur mit unserem Verstand zu, wo er für einen
vernünftigen Umgang mit ihr plädiert.
„[D]ie
Forderung der Vermittlung“.[63]
Schon in Jena setzt sich Hegel
mit der „Identitätsphilosophie“ auseinander. Das „Ich“ Fichtes, die
romantisierte Natur Schellings: beides führt nicht zum Ziel. Identität
bedeutet, dass eine von zwei Seiten absolut gesetzt wird. Das führt in die
Irre. Nicht Identität ist gefordert, sondern „Einheit“.
„Einheit“, d.h. zugleich
„Vermittlung“!
Mit Eintritt des Menschen in die
Geschichte ist die einstige Totalität „Natur“ dem Verhältnis des Ganzen und der
Teile gewichen. Zwei relativ selbständige
Naturen sind in einer „Einheitsnatur“ zusammengefasst, der die „Vermittlung“
obliegt. Zu vermitteln ist auf allen drei Ebenen menschlicher Existenz. Es ist
ständige Aufgabe, das Überleben der „Entgegengesetzten“ auf Dauer zu sichern.
Vermittler ist das „Ganze“, dieses „Dritte, Höhere“ [64],
diese „enthüllte oder gesetzte Notwendigkeit“[65],
das als „gestaltloses Sein“ aus dem Zerfall einer früheren Totalität
hervorgeht. Denn das „Band der Notwendigkeit“[66]
muss erhalten bleiben, nicht zuletzt im Interesse der Teile. Da aber der
einzelne Mensch wie auch die vielen Menschen sich allzu sehr als Bestandteile
der „produzierten“ Natur verstehen, kann das „Vermitteln“ nicht ihnen
überlassen werden. „Vermitteln“ ist vielmehr Sache einer Instanz, die die
Interessen aller „Entgegengesetzten“ auf der Ebene der Naturen wie ihrer Teile
wahrzunehmen imstande ist.
Das Besondere des „höheren
Dritten“ ist seine „Gestaltlosigkeit“. Sie führt dazu, dass es nicht als Sein
erkannt wird. Für Feuerbach ist es jedenfalls eine Spukgestalt, eine mystische
Größe. Und deshalb auch: Die Hegelsche „Vermittlung“? Nichts weiter als ein
Rückgriff auf den „Böhmeschen Vermittlungsprozess“. Bloß die Überführung der
„Mystik“ in eine „rationelle Mystik“[67].
Wenn Hegel vermittelt, „appelliert [er] stets an eine höhere … Instanz“,
kritisiert er, „nicht an den Verstand in uns.“[68]
Soll sagen: Hegels „Vermittlung“ haftet der Geruch der Willkür an.
Nicht, dass „Vermittlung“ für
Feuerbach ein Fremdwort wäre. Er leugnet ihre Notwendigkeit nicht. Weshalb
würde er für Hegel trotzdem zu jenen zählen, denen Hegel ein „Perhorreszieren
der Vermittlung“[69]
vorwirft?
Im Raum steht folgende Frage:
Wer vermittelt in einer bloßen
Zweierbeziehung? Wer ist dort Subjekt, wer Objekt? Soll nicht bloße
„Wechselwirkung“ unter Gleichen stattfinden, muss es eine Seite geben, die
„übergreift“. Das sagt Feuerbach nicht bzw. nicht deutlich genug, weshalb er in
diesem wichtigen Punkt später von Marx/Engels korrigiert bzw. ergänzt wird.[70]
„Vermittlung muss sein“, kommentiert G. Lukacs. Sie sei unverzichtbares
Instrument „ontologischer Selbstkorrektur“[71].
Aber als in die „Wechselwirkung“ eingebettete Vermittlung unterliegt sie dem
Gesetz von der „Einheit und den Kampf der Gegensätze“, ist insoweit die
Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen.
Feuerbachs eigene Position wird
deutlich, wenn er formuliert:
„Alles ist vermittelt, sagt die
Hegelsche Philosophie. Aber wahr ist
etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern ein Unmittelbares ist.“[72]
Vermittelt werden Verhältnisse;
die Vermittlung ist deren „Wahrheit“[73].
Aber es gibt solche und solche, wesentliche und unwesentliche Verhältnisse. Und
Hegels „wesentliches Verhältnis“ ist das des Ganzen und der Teile.[74]
Hier sieht er den Schwerpunkt, den Hauptfall der „Vermittlung“, während
Feuerbach das in diesem Zusammenhang
unwesentliche Verhältnis, das
Verhältnis der Teile untereinander vermittelt. Aber „Vermittlung“ ist mehr als nur Wechselwirkung
zwischen den Teilen; diese ist nur eine „gegenseitige Kausalität von
vorausgesetzten, sich bedingenden Substanzen“.[75]
Der Unterschied ist bedeutsam und
folgenreich:
Vermitteln nach Hegelscher Art
bedeutet, den Gegensatz der „Entgegengesetzten“ beherrschbar zu machen, ihm sein
(selbst-)zerstörerisches Potential zu nehmen. Die Vermittlung der anderen Art
bewirkt hingegen dessen Vervielfachung.
Hier, bei der „Vermittlung“,
bedeutet „Umkehrmethode“ also, dass eine der der beiden Gegenüber das Heft an
sich reißt. Und war es bisher die „primäre“ Natur, die übergriff, so ist es
jetzt die „produzierte“. Diese logische Konsequenz seines Ansatzes und der sich
daraus ergebenden praktischen Folgen umgeht Feuerbach jedoch, indem er die
Vermittlung zu einer Sache des Herzens und der Liebe macht.
„Liebe“
versus „Vernunft“
Die Liebe ist für Feuerbach
„Kriterium des Seins“. „[N]ur der ist
etwas, der etwas liebt – Nichts sein und Nichts lieben ist identisch. Je mehr einer ist, desto mehr liebt er
und umgekehrt.“[76]
Wer liebt wen? Der Mensch die
Natur; die Natur den Menschen; der Mensch den Menschen?
Ist das Neue Testament so zu
verstehen, dass die Natur sich aus Liebe zu den Menschen ans Kreuz nageln
lässt? Lieben wir die Natur, indem wir sie kreuzigen?
Liebe: „Sie ist das zu Verstand
gebrachte Herz. Das Herz will keine abstrakten, keine metaphysischen oder
theologischen – es will wirkliche, es will sinnliche Gegenstände und Wesen.“[77]
Galt das Herz bisher als die „Brustwehr der Theologie“, macht Feuerbach daraus
das „atheistische Prinzip im Menschen“[78].
Damit ist die Hegelsche „Vernunft“
verworfen bzw. zum „Brei des Herzens“[79]
gemacht. Denn „Liebe“ und „Herz“ sollen ja an ihre Stelle treten; sie sollen
vermitteln. Für Hegel eine Preisgabe der Vermittlung überhaupt.
Die „Liebe“ ist das wohl
schwächste Glied der „Neuen Philosophie“. Sie soll Wunder wirken – so auch das
Wunder der „Vermittlung“. „Liebe“ und „Herz“ – sie sollen die Mitte bilden.
Welche Verkennung einer
Gesellschaft, deren Wesen die Lieblosigkeit ist, die, wenn sie überhaupt ein
Herz hat, so doch höchstens ein kaltes!
Diese „Liebe“:
„Das Pferd, welches der
Reitknecht mit seinen Hinterbacken niederdrückt“: Reicht es, wenn der Maler es
zu einem Kunstgegenstand erhebt?
Der „Zobel, den der Kürschner
totschlägt, um sein Fell zu einem Momente des Putzes menschlicher Eitelkeit zu
machen“[80]:
Reicht es diesem aus, wenn er sich sagen kann, dass sein Fell nun den Hals
einer reichen Dame schmückt?
Da fehlt „Liebe“.
„Liebe“ – dieses „Zauberwort“!
Sie soll leisten, was bei Hegel Sache des „Absoluten“ ist.
Da schreckt einer vor der
Wahrheit zurück. Und wahr ist: Wo gehobelt wird fallen Späne. Und jetzt wird
mehr denn je gehobelt. Jetzt erst geht es ganz alttestamentarisch zur Sache.
Die bürgerliche Gesellschaft, die Anti-Natur, ruft ihren Menschen zu: „macht
sie euch untertan, und herrschet über Fische und Meer und über Vögel unter dem
Himmel und über alles Tier, dass auf Erden kreucht.“[81].
Liebe zur Natur? Die muss man sich
leisten können und vor allem: leisten wollen.
Die „Liebe“ paart sich mit dem „Glück“,
mit dem die bürgerliche Gesellschaft haussieren geht. Ein Glück der Dinge. Es
wird gewonnen durch gnadenlose Ausbeutung der „primären“ Natur mit Hilfe der
modernen Produktionsmittel. Und wie es aus damaliger Sicht aussieht: Natur?
Davon gibt es genug.[82]
Sie ist dazu da, ausgebeutet zu werden. Umso mehr, wenn das Ziel darin besteht,
nicht nur Wenige mit den ihr abgerungenen Gütern zu beglücken, sondern alle
Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft.
Folglich sieht der junge Marx in der „Liebe“, die Feuerbach auch der
bzw. dieser Natur zuteil werden lassen will, die Inkonsequenz der „Neuen
Philosophie“. Sollen die „Springquellen“[83]
des Reichtums für alle Menschen fließen, ist Tätigkeit verlangt – Tätigkeit
gegen die „primäre“ Natur.
Der Hauptsatz Feuerbachs’s
lautet:
Die Natur ist für den Menschen
da.
Im Nebensatz heißt es:
Soweit und solange sie dafür
ausreicht, ist sie auch die Natur der Tiere.
Für Feuerbach ist nicht die Natur
schlechthin primär, sondern die menschliche
Natur. Dass diese sich unmenschlich gegenüber den Tieren verhält, übersieht er
bzw. nimmt er in Kauf. Damit steht er zwar nicht alleine, sondern sagt damit,
was dem Zeitgeist entspricht und bis heute Praxis ist. Aber macht das die Sache
besser?
Liebe – und das in einer
Gesellschaft, in der jeder jeden bekriegt und der Frieden nur ein Zustand
zwischen Kriegen ist. Und dieser
Krieg wird permanent geführt: der Krieg gegen die Natur.
Wo Hegel zu einer Einheit von
Vernunft und Verstand gelangt, bei der die Vernunft durch eine außerhalb des
einzelnen Menschen gelegene „Vernunftgestalt“ exekutiert wird, gelangt
Feuerbach zur Einheit von „Kopf und Herz“[84],
die er in seinem „wirklichen“ Menschen zu finden glaubt.
Diese „Liebe“! Sie lässt Feuerbachs
Philosophie verpuffen. Diese verliert ihren praktischen Nutzwert sowohl für die
anstehende bürgerliche, wie für die damals noch in der Ferne liegende
proletarische Revolution. Soll seine
„Neue Philosophie“ zu etwas nütze sein, dann muss sie in diesem Punkt
korrigiert bzw. ergänzt werden. Sie muss in jener „schmutzig-jüdischen
Erscheinungsform gefasst und fixiert werden“[85],
die die menschliche Praxis beherrscht.
Die
„vernünftige Institution“
„Das Hegelsche System ist die absolute Selbstentäußerung der Vernunft.“[86]
Damit klar wird, was Feuerbach von ihr hält, fügt er an: Aber diese Vernunft
ist außerhalb des Menschen angesiedelt. Deshalb appelliere Hegel an sie, nicht
an den Verstand; er „abstrahiert von der Präexistenz des Verstandes“[87].
Aber so einfach ist es nicht. Die
Vernunft findet sich nicht außerhalb des Menschen, sondern außerhalb der
Person, des Teil-Menschen der „produzierten“ Natur. Sie kommt in den Blick,
wenn man den „ganzen“ Menschen, also die Einheit der beiden „Teil-Menschen“ zur
Kenntnis nimmt. Und umgekehrt: Sie wird vergessen gemacht, wenn nur die eine
Natur, wenn nur der eine Mensch gelten sollen. In diesem Fall sind wir beim
Verstand; bei einem Verstand, der der anderen Natur ihre Geheimnisse
„ablistet“, um sie gegen sie zu verwenden.
Vernunft und Verstand. Beide sind
notwendig, Aber kein vernunftloser Verstand! Hegel plädiert für eine
verständige Vernunft.
Kehren wir zu den, im Begriff
„Natur“ zusammengefassten, zwei Naturen zurück und lassen wir uns zu der in der
„Wesenslogik“ vorgeführten „Einheits-Natur“ verweisen. Wie geht es weiter?
„Das Wesen hat noch kein Dasein;
aber es ist … eine Unmittelbarkeit, die noch nicht gesetzt ist“[88].
Die „Setzung“ fehlt! Die Setzung zur „vernünftigen Institution“. Das ist die
Aufgabe des Menschen.
Das von uns als „gestaltloses“
Sein Erkannte, spiegelt sich in unserem Bewusstsein als „Idee“ wider. Da es sich
nicht von selbst in eine Gestalt überführt, ist es unsere Aufgabe, es von der
„Idee“ in die „Gestalt“, in die „vernünftige Institution“[89]
zu überführen. Letztere ist also herzustellen. Unterbleibt das, kann sich die
Vernunft des Ganzen nur im Nachhinein und nur hinter unserem Rücken, als
„unsichtbare Hand“, Gehör verschaffen. Ist sie von uns aber zur „vernünftigen Institution“ gemacht, kann sie
prophylaktisch wirken, kann sie als Funktionär der „Einheits-Natur“ und als
Vermittler der „Entgegengesetzten“ agieren..
Die „Idee“ ist der Maßstab, an
dem die „vernünftige Institution“ zu messen ist; sie ist – wie Hegel sagt[90] –
deren „Wahrheit“.
Wird das „gestaltlose“ Sein
geleugnet, wird auch die Hegelsche „Vernunftgestalt“ geleugnet. Wer sie anspricht, wer sie gar fordert, muss
sich sagen lassen: sie ist ein „bloß Subjektives und Zufälliges“[91].
Hier scheiden sich also die Geister. Für Hegel ist jedenfalls die Annahme, der
Idee stehe „kein kongruierender Gegenstand in der Sinnenwelt“ zur Seite, ein
„sonderbarer Missverstand“.[92]
Die „vernünftige Institution“ ist
Menschenwerk. Sie teilt also die Fehler und Mängel derer, die sie errichten.
Von daher ist nicht zu erwarten, dass sie eine hundertprozentige Realisation
der „Idee“ ist. Aber eine Annäherung
muss sein. Vom Grundsatz her gilt: „Ganz ohne Identität des Begriffs und der
Realität vermag … nichts zu bestehen.“[93]
Fehlt es daran, sind Begriff und Realität geschieden. Beispiel:
„Wenn aber ein Gegenstand, z.B.
der Staat, seiner Idee gar nicht
angemessen, das heißt, vielmehr gar nicht die Idee des Staates wäre, wenn seine
Realität, welche die [der] selbstbewussten Individuen ist, dem Begriff ganz
nicht entspräche, so hätten seine Seele und sein Leib sich getrennt“. Aber wie
groß die Spanne zwischen Idee und Realität sein kann, ohne dass der Begriff
verlassen ist, zeigt der nächste Satz: „Der schlechteste Staat, dessen Realität
dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist noch Idee;
die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriff.“[94]
Das Hauptproblem der
„vernünftigen Institution“ sind die Menschen, ohne die sie nicht auskommt.
Ihnen wird abverlangt, dass sie den Interessen des „Ganzen“ dienen, also
entsprechend entscheiden und die getroffenen Entscheidungen exekutieren.
Der Mensch an der Spitze, der
Monarch; die von ihm ernannten Minister..
Die Menschen des
Vollzugsapparates, die Beamten.
Die gewählten Repräsentanten der
Stände.
Die Akteure der Gerichtsbarkeit.
Alles Menschen, die sich,
biologisch gesehen, in nichts von dem allgemeinen Menschen unterscheiden. Sie
müssen daher, sollen sie der „Vernunft“ verpflichtet bleiben, aus den
tausenderlei Sachzwängen, die von der „produzierten“ Natur ausgehen,
herausgehalten werden. Dazu gehört, dass ihr materielles Dasein unabhängig vom
Getriebe und Geschiebe der bürgerlichen Gesellschaft sichergestellt wird.
Der Monarch. Er ist von Hegel
konzipiert als Mensch, der nicht „Person“ geworden ist und der auch nicht
„Person“ sein soll. Er steht außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist
eine Art „letzter Mohikaner“; er symbolisiert beide Naturen; er ist die „verleiblichte“ Vernunftgestalt.
Und wenn der Monarch „übel
gebildet“ ist, wird Hegel von seinen Studenten und Kollegen gefragt. Was
dann?
Natürlich leidet die Institution
„Monarchie“ unter einem übel gebildeten Monarchen. Aber das bedeutet nicht,
dass die Institution als solche von Übel ist.
Das Parlament – eine vernünftige
Institution. Aber was macht ein allgegenwärtiger, ausufernder Lobbyismus
daraus?
Was wird aus der Institution
„Regierung“, wenn die bestellten Minister wissen, dass ihnen nach Ausscheiden
aus dem Amt ein hoch dotierter Posten in der Wirtschaft winkt. Ist da die
Verlockung nicht groß, in Erwartung der späteren Pfründe die zahlenden
Sonderinteressen zu bedienen?
Die „vernünftige Institution“ ist
also letzten Endes so gut oder schlecht, wie die Menschen, die ihr dienen, gut
oder schlecht sind. Was bleibt ist die Hoffnung, dass die ihr zur Hand gegebenen
Kontrollinstrumente sicher stellen, dass die Institution die Oberhand behält.
So ist wohl auch Hegel zu verstehen, wenn er, im Wissen um all diese
Gefährdungen der Vernunft, sagt:
„Der Staat ist kein Kunstwerk, er
steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des
Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der
hässlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein
lebender Mensch; das Affirmative, das leben, besteht trotz des Mangels, und um
dieses Affirmative ist es hier zu tun.“[95]
Die „vernünftige Institution“ ist
die mehr oder weniger gelungene, mehr oder weniger in Praxis umgesetzte Idee.
Und nur sie, die „Idee ist der adäquate
Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches.“[96]
Vom
Kopf auf die Füße gestellt?
Der Anspruch der „Neuen
Philosophie“:
Sie „ist die Realisation der
Hegelschen, überhaupt bisherigen Philosophie, aber eine Realisation, die zugleich die Negation
und zwar widerspruchslose Negation
derselben ist.“[97]
Sie soll Hegels Philosophie, diese letzte Form theologischen Philosophierens,
ersetzen: Denn sie sei die „vollständige,
die absolute, die widerspruchslose Auflösung der Theologie in
der Anthropologie“.[98]
Wird die „Neue Philosophie“
diesem Anspruch gerecht?
Heute, 180 Jahre nach Erscheinen
von „Das Wesens des Christentums“, zeigt
sich, dass die von Feuerbach beschworene
Zeit Verstand und Herz nicht zur Einheit gebracht hat. Im Gegenteil: Seine „menschliche“ Natur hat uns in eine
ökologische Katastrophe hineingeführt.
Ein Zerrbild der „Neuen
Philosophie“, ein von der „Liebe“ und von der Dialektik bereinigter
Positivismus, kann für sich durchaus verbuchen, maßgebliche philosophische
Grundlage der bürgerlichen, auch: der realsozialistischen, Gesellschaft geworden
zu sein. Aber bedeckt das Feuerbach mit Ruhm oder macht ihn das eher ruhmlos?
Tatsache ist, dass die „Neue
Philosophie“ hinter Hegel, auch hinter die kritisierten „Identitätsphilosophen“
Fichte und Schelling, ja hinter Kant zurückfällt. Nicht in jedem einzelnen
Punkt, aber in der Hauptsache. Aber sie hat den Zeitgeist hinter sich.
Denselben Zeitgeist, der Hegel und seine Philosophie die nächsten fünfzig Jahre
von der Bühne fegen wird. Und sie hat das liberale Bürgertum und später auch
den Marxismus auf ihrer Seite.
Feuerbach arbeitet der
bürgerlichen Gesellschaft in die Hände. Dieser letzte Schrei der Geschichte, in
England, mehr noch: in Nordamerika, längst Alltag geworden, steht in Deutschland in Wartestellung. Und ein philosophisches
Bollwerk, das sie auf ihrem Siegeszug noch zu überwinden hat, ist die
Philosophie Hegels.
Die „Neue Philosophie“ Feuerbachs
verengt den Gegenstand der Philosophie. Da der Mensch auf den Unterschied vom
Tier reduziert wird und die „Neue Philosophie“ Anthropologie sein soll, sieht
sie sich für die „primäre“ Natur nicht mehr zuständig. Analog zur Praxis, die
sie zum Objekt gnadenloser Ausbeutung gemacht hat, wird sie als Gegenstand der
Forschung den Naturwissenschaften überlassen.
War Gegenstand der bisherigen
Philosophie die Einheit beider Naturen, stehen wir jetzt vor seiner „Halbierung“.
Feuerbachs Blick gilt der menschgeschaffenen, der „produzierten“ sowie dem ihr
zugehörigen Teil-Menschen. Er schaut eine friedliche Natur. Der Krieg, den sie
gegen die „primäre“ Natur führt, ist nicht sein Thema. Demgegenüber macht sich
Hegel allein deshalb unbeliebt, weil er zeigt, dass dieser Krieg zum Wesen der
bürgerlichen Gesellschaft gehört.
Statt – wie Hegel – den Menschen
als den Problemfall der Schöpfung anzusehen, erklärt Feuerbach ihn zum
Idealfall.
Die „Halbierung“ ist das
Schlüsselereignis der Moderne. Theorie und Praxis gehen Hand in Hand.. Sie
ergreift alle Bereiche, Begriffe,
Institutionen, die Gegenstand der praktischen Philosophie sind. Und
schon ist es so, als habe ein schwarzes Loch die andere Hälfte verschluckt. Da
nutzt es nichts, dass Hegel sich dagegen stemmt, dass er sich gegen einen Staat
ausspricht, der nur „Not- und Verstandesstaat“ ist, gegen ein Recht, das auf
der Rechtlosigkeit der „primären“ Natur basiert, gegen eine Freiheit, die nur
die Freiheit der Person meint.
Feuerbach hingegen schwimmt mit
seiner „Neuen Philosophie“ im Strom der Zeit. Sein Begriff vom „Staat“ führt zu
einem „Halbstaat“[99],
dessen Zuständigkeit sich auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt. Sein
Begriff vom „Recht“ macht das Recht zu einem an die Mitglieder der bürgerlichen
Gesellschaft adressierten Kodex, der ihr Verhalten untereinander vorgibt, aber
das Recht von der Gerechtigkeit trennt oder, was dem nahezu gleich steht:: von
der Pflicht der anderen Natur gegenüber.
Mit der „Neuen Philosophie“ wird
ein „Halbes“ verabsolutiert, d.h. in den Rang eines „Ganzen“ erhoben. Aber es
ist ein „begriffswidrig“ Existierendes und deshalb „ein in sich selbst
Zerfallendes.“[100]
Gegenüber dem Materialismus der
Aufklärungs-Philosophie, der sich lediglich gegen die Vorherrschaft der
„primären“ Natur richtet, geht Feuerbach den nächsten Schritt. Er bringt
„Dialektik“ in deren „Mechanik“, was heißt: Wo es damals hauptsächlich darum
ging, die Gleichberechtigung der „produzierten“ Natur zu betonen, geht es
Feuerbach jetzt um deren Vorherrschaft. Gemäß seiner „Umkehrmethode“ überführt
er die Gleichordnung der Naturen in ein Subordinationsverhältnis. War im
Mittelalter die „produzierte“ Natur Leibeigene der „primären“, so ist jetzt
letztere Leibeigene der „produzierten“.
Wie weit ist ein „halbierter“
Begriff von der Wahrheit entfernt? Rein rechnerisch scheinbar fünfzig Prozent.
Aber wegen der „Entgegensetzung“ heißt „Halbierung“ nicht, dass unsere Begriffe
doch wenigstens zur Hälfte wahr sind; sie sind zu hundert Prozent falsch. Wir
sollten uns deshalb nicht wundern, dass, wenn die richtige Natur bricht, auch
alles andere brüchig wird. Zum Beispiel die „Werte“, die wir so oft beschwören.
Oder unsere Vorstellungen von Demokratie und von Freiheit. Sie werden zunehmend
zu Worthülsen, deren Abstand zur Realität immer offenkundiger wird.
Wortkrusten, unter denen es gärt und brodelt. Kants metaphysisches „Ding an
sich“ kann die bürgerliche Gesellschaft ertragen. Als „Wesen“ irdisch gemacht
ist es unerträglich, weil es die bürgerliche Gesellschaft als ein „Halbes“
entlarvt bzw. als ein angemaßtes „Ganzes“.
Hauptergebnis der Untersuchung:
Von der „Neuen Philosophie“ profitiert allein die „produzierte“ Natur und der
ihr angehörende Teil-Mensch. Sie sind die Gewinner.
Was Feuerbach, später Marx/Engels
als den Aufbruch in eine „menschlich“ bzw. kommunistisch gestaltete Zukunft
ansehen und begrüßen, - die bürgerliche Gesellschaft – beurteilt Hegel auf der
Grundlage seines tatsächlich naturgeprägten Geschichtsbildes sehr viel
realistischer. Hätten wir uns an ihn gehalten, stünden wir sicherlich nicht vor
dem Scherbenhaufen, der sich nach 250 Jahren praktizierter „Umkehrmethode“ vor
uns auftürmt. Wir stünden heute nicht in der Endzeit, sondern hätten noch eine
Zukunft vor uns. Richtig ist daher, dass Feuerbach und - nach ihm noch
konsequenter – Marx/Engels Hegel nicht vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern
ihn geköpft haben. Der entscheidende Teil seiner Philosophie, dort, wo er der
Frage nachgeht, wie und mit welchen Institutionen jetzt ein ausgewogenen, das
Überleben beider Naturen sichernden, Verhältnis der beiden Naturen zueinander
praktiziert werden kann, ist von ihnen nicht erkannt bzw. ignoriert worden.
Wonnitz, im Oktober
2022
[1] Zur Kritik der
Hegelschen Philosophie, in: Ludwig Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen
Philosophie, hrsg. von Wolfgang Harich, Berlin 1955, S. 28. Der Band enthält
folgende drei Arbeiten Feuerbachs:
Zur Kritik der Hegelschen Philosophie
(S. 19-66), nachfolgend zitiert: Zur Kritik;
Vorläufige Thesen zur Reform der
Philosophie (S. 67-90); nachfolgend zitiert: Vorläufige Thesen;
Grundsätze der Philosophie der Zukunft
(ab S. 91), nachfolgend zitiert: Grundsätze.
[2] § 263 Enz. (MM
8, S. 369).
[3] Vorläufige
Thesen, S. 77 – Hervorhebung bei F.
[4] Grundsätze, S.
96 = § 5 – Hervorhebung bei F.
[5] § 119/Z E.
[6] L(B), S. 23.
[7] L(W), S. 142.
[8] Zur Kritik, S. 21.
[9] § 39 R.
[10] L(B), S. 6.
[11] Grundsätze, S.
164 = § 56 Hervorhebung bei F.
[12] Zur Kritik, S.
41.
[13] Zur Kritik, S.
47.
[14] Grundsätze, S.
155 (§ 44) – Hervorhebung bei F. Hier hält sich der Atheist F. also an das, was
in der Bibel steht.
[15] MEW 3, S. 62.
[16] Grundsätze, S.
162 = § 53 – Hervorhebung bei F.
[17] Zur Kritik, S.
23.
[18] Das Wesen des
Christentums, S. 29.
[19] Ebd., S. 46.
[20] Vorläufige
Thesen, S. 88 – Hervorhebung bei F.
[21] Grundsätze, S.
128 = § 23.
[22] Hegel würde zum
„letzten Mohikaner“ Coopers sagen, dieser sei als der letzte Mensch unter den Personen
anzusehen, die die bürgerliche Gesellschaft Nordamerikas bilden.
[23] Vorläufige
Thesen, S. 73.
[24] Grundsätze, S.
164 = § 56.
[25] Das ist näher
dargestellt bei: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 221 ff.
[26] Wesen des
Christentums, S. 208.
[27] Vorläufige
Thesen, S. 74 – Hervorhebung bei F. K. Marx wird später einen dritten Weg
einschlagen, mit dem er sowohl Feuerbach
als auch Hegel zu überwinden glaubt, indem er die Entfremdung von der
Naturfrage löst und sie mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln begründet.
[28] Vgl. dazu Hegel,
§ 190 R.
[29] Zur Kritik, S.
54.
[30] Zur Kritik, S.
56.
[31] Zur Kritik, S.
55.
[32] Siehe dazu:
L(W), S. 148 ff.
[33] Die Rolle der
„Idee“! Sie lenkt den Blick vom alten auf das neue Ganze. Und die „Vernunftgestalt“
legt Zeugnis davon ab, ob und wie wir ihr gerecht werden. Und so zeigt sich,
dass die Idee „überhaupt etwas
Vernünftiges“ ist, nämlich das „objektiv Wahre“ (L (B), S. 205).
[34] Siehe dazu die
Schilderung im Zusatz zu § 381E!
[35] L(S), S. 101.
[36] Grundsätze, S.
125 = §21.
[37] Zur Kritik, S.
62.
[38] Ebd.
[39] Vgl. L(B), S.
22.
[40] L(B), S. 23.
[41] Zur Kritik, S. 59.
[42] Zur Kritik, S.
58.
[43] Zur Kritik, S.
62.
[44] Zur Kritik, S.
64.
[45] Zur Kritik, S.
64.
[46] Grundsätze, S.
156 (§ 45) – Hervorhebung bei F..
[47] Vgl. L(W), S. 3.
[48] L(B), S. 28.
[49] Ebd.
[50] Vorläufige
Thesen, S. 79 – Hervorhebung bei F.
[51] Vorläufige
Thesen, S. 75.
[52] Phän, MM 3,
S.18.
[53] Die Verfassung
Deutschlands, MM 1, S. 452 u. 461.
[54] L(B), S. 218.
[55] Praxis ist
längst geworden, was F. Tönnies Jahre später in die Worte fassen wird: Die
Entwicklung führt von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“. Für Hegel führt die
Entwicklung hingegen von einer „Naturgestalt“ des Gemeinwesens zu dessen
„Vernunftgestalt“.
[56] Marx, GR, S. 312
f.
[57] Zur Kritik, S.
23.
[58] § 141 R.
„Relative Totalität“ – was heißt: Die Teile „haben Selbständigkeit nur im
Ganzen, das aber zugleich die den Teilen andere Selbständigkeit ist.“ (L[W], S.
144.
[59] Grundsätze, S.
141 = § 30.
[60] Zur Kritik, S.
23.
[61] Zur Kritik, S. 26.
[62] Zur Kritik, S. 27.
[63] § 156/Z E.
[64] Ebd.
[65] § 157 E.
[66] § 157 E.
[67] Zur Kritik, S.
57.
[68] Zur Kritik, S 38 f.
[69] Phän, MM 3, S.
25.
[70] K. Marx, MEW 1,
S. 294: „Das eine [Extrem] greift über das andere über. Die Stellung ist keine
gleiche.“
[71] G. Lukacs, Zur
Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels
falsche und echte Ontologie, Neuwied u. Berlin 1971, S. 103.
[72] Grundsätze, S.
148 (§ 38) – Hervorhebung bei F.
[73] Hegel, L(W), S.
146: „Die Wahrheit des Verhältnisses
besteht in der Vermittlung.“
[74] L(W), S. 140 u.
142.
[75] L (W), S. 209
und § 155 E.
[76] Grundsätze, S.
147 (§ 35) – Hervorhebung bei F.
[77] Grundsätze, S.
147 (§ 34).
[78] Vorläufige
Thesen, S. 81f.
[79] Siehe Vorrede R
(MM 7, S. 19).
[80] Zur Kritik, S.
22.
[81] AT, 1. Buch
Mose.
[82] Vereinzelte
Hinweise auf die Endlichkeit der Ressourcen galten F. Engels als „konservativer
Vorbehalt“. Natur? Davon gibt es auf lange Zeit genug. „Wir befinden uns jedenfalls noch ziemlich
weit von dem Wendepunkt entfernt, von wo an es mit der Geschichte der
Gesellschaft abwärtsgeht“. (MEW 21, S. 268).
[83] Marx, Kritik des
Gothaer Programms, MEW 19, S. 21. Alle
Menschen – damals 1,5 Milliarden, heute nahezu 8 Milliarden!
[84] Grundsätze, S.
164 = § 57.
[85] Marx, MEW 3, S.
5 – (1. Feuerbachthese).
[86] Zur Kritik, S.
38 – Hervorhebung bei F.
[87] Ebd.
[88] L(W), S. 136.
[89] Siehe dazu: G.
Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: B.
Sandkaulen/V. Gerhardt/W. Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins.
Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009 (HS, Beiheft 52), S.
328-349.
[90] L(B), S. 205.
[91] L(B), S. 206.
[92] L(B), S. 206.
[93] § 213/Z E. (MM
8, S. 369).
[94] L(B), S. 208.
[95] § 258/Z R.
[96] L(B), S. 205.
[97] Grundsätze, S.
123 = § 20 – Hervorhebung bei F.
[98] Grundsätze, S.
161 = § 52.
[99] Hegel nennt ihn
– siehe § 183 R - den „Not- und Verstandesstaat“.
[100] Siehe § 213/Z E. (MM 8, S. 369).