Schein und Sein. Hegel zur bürgerlichen Gesellschaft

C. Schmitt bemerkt zur bürgerlichen Gesellschaft, sie sei das, was nach Abzug von „Staat“ und „Industrie“ übrig bleibt.[1] Ein Satz, der typisch für ihn ist. Und er birgt eine Wahrheit. Allerdings eine solche, die anfällig ist für das Extrem; eine Wahrheit also, die mit Vorsicht zu genießen ist. Und trotzdem: der Satz geht tiefer und sagt mehr aus als ganze Bücherberge zum Thema „bürgerliche Gesellschaft“; es lohnt daher, ihm näher zu treten.

Schmitt war kein Hegelianer. Und doch verstand er Hegel besser als so mancher, der sich als solcher ausgibt. Das hat er mit Lenin gemeinsam, der ebenfalls kein Hegelianer war, Hegel aber zu schätzen wusste. Was diese beiden von Hegel trennt, ist der ihnen eigene Dezisionismus[2], ihr Denken in den Kategorien „Entweder“ – „Oder“. Ein häufig anzutreffendes Denken – besonders in Zeiten des Umbruchs. Und in solchen Zeiten lebte Hegel und lebten diese Beiden.

Abzüglich „Staat“ und „Industrie“:

Das klingt nach einer Operation, die alles  Unangenehme, alles Heikle entfernt hat. Das klingt nach Schokoladenseite, nach Beletage.

Plus Staat. Was käme hinzu, um welche Art „Staat“ müsste die bürgerliche Gesellschaft ergänzt werden?

Dass die bürgerliche Gesellschaft staatlos ist, behauptet auch C. Schmitt nicht. „Abzüglich Staat“ führt daher zu der Frage: Welcher Staat? Der Minimalstaat des Liberalismus, der von Schmitt kritisierte „Gesellschaftsstaat“ ist damit nicht gemeint. Das sei kein „echter“ Staat. Schmitt analysiert den bolschewistischen Staat Lenins und den faschistischen Staat Mussolinis. Das sind für ihn „echte“ Staaten, weil sie die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen kontrollieren und gestalten, weil sie Herr des Politischen und des Ökonomischen sind. Dort ist das Defizit ausgeräumt. Sie sind ihm deswegen mehr „echter“ Staat als der deutsche Staat a la Weimar.

Plus Industrie. All das käme hinzu, was das Innere der Unternehmen prägt. Dort herrschen bekanntlich nicht „Freiheits“-, sondern „Direktionsverhältnisse“. Schmitts Frage, ob es   möglich und richtig ist, aus der bürgerlichen Gesellschaft einen so zentralen Bereich herauszunehmen, bewegte bereits F. Engels. Er dämpfte die Erwartungen vieler Mitstreiter an die angestrebte kommunistische Gesellschaft. Er ist genug Unternehmer, um zu wissen: Die Expropriation der Bourgeoisie führt nicht dazu, dass es keine Fabriken mehr gibt. Und Fakt ist: „Der mechanische Automat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigten.“[3] Endet daher mit dem Sieg über die kapitalistische Ordnung die „Überordnung eines fremden Willens über den unseren“[4]? Natürlich nicht!

Wie sieht es Hegel? Was versteht er unter „bürgerliche Gesellschaft“?

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Für Hegel vollzieht sich das menschliche Dasein auf drei, miteinander verzahnten und interagierenden, Ebenen:

a)      jene der Allgemeinheit. Die Ebene der beiden Naturen, denen der Mensch angehört: der „vorgefundenen“[5] oder „primären“ und der menschgeschaffenen oder „produzierten“ Natur. Und die Ebene eines Staates, dessen Aufgabe es ist, zwecks Erhalts der Schöpfung deren Einheit dadurch herzustellen und dauerhaft zu sichern, dass er ihren Gegensatz vermittelt. Hier wird Hegel Zeuge einer dramatischen Veränderung. Beide Naturen verhielten sich bislang zueinander als „Verschiedene“, als die Organe eines  Organismus. Jetzt aber ist der Organismus zerfallen. Beide  Naturen stehen frei im Raum; sie scheinen jetzt „Totalitäten“ zu sein; „Totalitäten“ und „Entgegengesetzte“[6]. Was ändert sich dadurch? Welche Folgen zeigen sich? Und wie ist mit ihnen umzugehen?

Eine neue Welt mit einer neuen, schwierigeren Art des Zusammenlebens ist im Entstehen. Ein Tod und eine Geburt. Jetzt, nach Zerfall des Organismus, müssen die beiden Naturen auf neue Weise ins Verhältnis gesetzt werden. Aber wie? Der Vernunft folgend nach den logischen Grundsätzen des Verhältnisses des Ganzen und der Teile oder in der Weise einer bloßen Umkehrung? Hegel erkennt: Wie dies geschieht – so oder so - wird über das Schicksal der Menschheit entscheiden. Denn mit der jetzt frei gewordenen „produzierten“ Natur erwächst der anderen Natur ein Gegner, der – bleibt er sich selbst überlassen – das Potential in sich trägt, sie unter sich zu begraben.

Beide Naturen sind nun ihrer bisherigen Verklammerung los und ledig. Beide sind nun frei. Aber besonders frei sieht sich die „produzierte“ Natur geworden. Sie verbindet ihre Freiheit mit dem Anspruch, die menschliche Natur zu sein. Und war es so, dass im „naturwüchsigen“ Gemeinwesen die „primäre“ Natur vorherrschte, so ergreift jetzt sie die Vorherrschaft. Ein Wechsel, eine Umkehrung, der/die auf der Ebene des Rechts von der Herrschaft des „älteren“ zu jener des „neueren“ Naturrechts führt. Und auf der Ebene des Staates: vom „Naturstaat“ zum „Vertragsstaat“. Ein Wechsel, eine Umkehrung, die von der tonangebenden Philosophie wie auch von der Rechtswissenschaft begrüßt werden. Rücken sie doch zugleich den Einzelnen in den Vordergrund; setzen sie doch zugleich der erzwungenen Kollektivität des Mittelalters ein Ende.

Und ja, die „produzierte“ Natur hat ihren Mitgliedern einiges zu bieten. „Glück“ für alle, wenn auch in höchst ungleicher Dosierung. Das Glück der „Dinge“. Damit wirbt sie, damit ködert sie uns. Aber dürfen wir darüber vergessen, dass dieses Glück auf Kosten der anderen Natur geht, die dafür zu Baumaterial gemacht wird? Muss der Anspruch dieser „Hälfte“, das jetzige „Ganze“ zu sein, nicht vielmehr hinterfragt und korrigiert werden? Für Hegel steht fest: Es bedarf auch weiterhin einer „Vermittlung“. Denn er weiß, dass beide Naturen „Fleisch von seinem Fleische“[7] sind. Dialektik ist „Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit“[8] Und diese „Einheit“ wiederum verweist auf eine spezifische Form des Seins, auf die über die „Wesenslogik“ zu erschließende „Einheitsnatur“ sowie deren institutionelle Fassung im „Vernunftstaat“.

b)     jene der Besonderheit. Das ist die Ebene der „produzierten“ Natur und ihrer  Binnenorganisation; hier agieren und interagieren deren Glieder. Es ist die Ebene der Aneignung der „primären“ Natur, die Ebene des Produzierens. Über tausende von Jahren geschieht dies in der „Wirtschaftsfamilie“. War auf Ebene a das „naturwüchsige“ Gemeinwesen die Einheit 2-er entgegengesetzter Naturen, so vereinte hier die „Wirtschaftfamilie“ unter ihrem Dach zwei Produktionsstätten. In der einen wird der Nachwuchs gezeugt, geboren und zur Arbeitskraft formiert, in der anderen wird all das produziert, was der Befriedigung der Bedürfnisse dient. Jene ist und bleibt biologisch fundierter Organismus, diese entsteht als technisch-ökonomisches Kunstwerk. Jetzt bricht sie auseinander. Erstere wird zur bürgerlichen Kleinfamilie, letztere entsteht als kapitalistische Unternehmung.

War die „Wirtschaftsfamilie“ der Ort einer naturverträglichen Arbeits- und Lebensweise, gewinnt mit der Fabrik eine der „Natürlichkeit widerstrebende“[9] Produktionsweise die Oberhand. Nicht mehr der Gebrauchswert, sondern der Tauschwert steht im Vordergrund. Produziert wird nicht mehr unmittelbar für das Bedürfnis, sondern für den Markt. Die fehlende Unmittelbarkeit wird ersetzt durch Austausch und Vertrag.

c)                  jene der Einzelheit. Hier steht der „Mensch“ im Mittelpunkt; der Mensch beider Naturen. Die Emanzipation der „produzierten“ Natur gibt auch ihm eine neue, richtiger: eine weitere, „Naturbasis“. Er „zerfällt“ in den der „produzierten“ Natur und den der „primären“ Natur zugeordneten Teil-Menschen. Weil sich jetzt aber das Verhältnis der Naturen zueinander umkehrt, tritt auch hier, auf dieser Ebene, jener Teil-Mensch die Herrschaft an, der der „produzierten“ Natur angehört. Und wie die „produzierte“ Natur dort als die einzige Natur, so gilt er hier als der eigentliche Mensch. Was tatsächlich eine „Reduktion des Menschen … auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft“[10] darstellt, erscheint dadurch als die Vollendung des Menschen. Übersehen wird dabei, dass nunmehr die Naturgestalt des „Einheits-Menschen“ der Geschichte angehört und die Aufgabe jetzt darin besteht, die Einheit beider Teil-Menschen auf Basis der Vernunft wiederherzustellen.

 

Auf allen drei Ebenen des menschlichen Daseins zerfällt das ursprüngliche Ganze. Überall „sind zwei Totalitäten … entstanden …[, die] zunächst … als gleichgültige Selbständige gegeneinander bestimmt“ sind: „primäre“ und „produzierte“ Natur, Kleinfamilie und Unternehmung, Subjekt und Person. Aber nur die jeweils letzteren stehen jetzt im Licht bzw. in der Mitte einer neuen Weltsicht. Die „primäre“ Natur hingegen und das, was ihr nahesteht, verlieren ihren früheren Rang. Sie wird entsubjektiviert und zum bloßen Objekt der Aneignung herabgestuft. Aber was da entsteht sind nur „relative Totalitäten“[11]! Totalitäten die ihren Teile-Charakter nicht vollständig abgelegt haben, weil der in Gang gesetzte Prozess bei der bloßen Entgegensetzung nicht enden kann. Überall drängt er danach, die bisherigen „Naturgestalten“ durch neue „Ganze“ zu ersetzen. Auf der Ebene a) durch die Vernunftgestalt „Staat“ und auf der Ebene b) durch eine Vernunftgestalt der früheren „Wirtschaftsfamilie“.

Auch als „relative Totalitäten“ sind diese Teile zueinander „wesentliches Verhältnis“, das als solches bereits die „bestimmte Vereinigung beider“ in einem „wahrhaft Dritten“ enthält. Die Worte „zunächst“ und „noch nicht“[12] sagen uns, dass das „wahrhaft Dritte“ noch nicht erreicht ist. Der Weg dorthin ist eingeschlagen, aber nicht zu Ende gegangen. Vielmehr ist der Prozess sich selbst überlassen. Das aber reicht nicht aus. Denn das „wahrhaft Dritte“, die „vernünftige Institution“, stellt sich nicht von selbst her. Hierzu ist unser Zutun erforderlich. Daran aber fehlt es – bis heute.

Nach wie vor müssen die Entgegengesetzten aller drei Ebenen vermittelt werden – jetzt, nach dem Verlust ihrer ursprünglichen Einheit, sogar dringender denn je. Auf Ebene a ist das die Aufgabe des an die Stelle des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ tretenden „Vernunftstaates“, auf Ebene b ist das die Aufgabe des „Not- und Verstandesstaates“. Letzterer wird von der bürgerlichen Gesellschaft ausgebildet; er ist ihr Instrument, mit dessen Hilfe jetzt der Gegensatz der aus dem Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ hervorgegangenen Teile vermittelt wird.

Hegel und seine „Entzweiung“! Kaum einer folgt ihm darin. Beispiel „Mensch“. Wo bitte schön, wie bitte schön „zerfällt“ dieser? Wie sollte ein solcher „Zerfall“ möglich sein, ohne dass damit seiner irdischen Existenz ein Ende gesetzt ist? Alles mag „zerfallen“, aber der Mensch nicht. So liest es sich bei Max Stirner. Überall mag der biologisch fundierte Organismus „abbrennen“, auf allen Ebenen des Daseins. Aber der Mensch? Er übersteht das alles. Er bleibt unbeschadet zurück: „Der Einzige und sein Eigentum“. Aber Stirner (und nicht nur er!) verkennt die logische Dimension des „Zerfalls“. Biologisch gesehen bleibt alles beim Alten. Logisch gesehen ist es anders. Hier zerfällt auch der Mensch – in „Person“ und „Subjekt“, in „Wille“ und „Leiblichkeit“. Was sie unterscheidet, würde C. Schmitt wohl so ausdrücken: „Subjekt“ ist jener Teil des Menschen, der nicht „Person“, der nicht „Wille“ ist.  „Subjekt“ meint, biologisch gesehen, die „Leiblichkeit“, ökonomisch gesehen das Arbeitsvermögen des Menschen.  

 

Die „Entzweiung“ ist Teil einer „Aufhebung“. Was auf allen drei Ebenen zerbricht, sind die biologisch geprägten Gestalten; die „Organismen“. Erhalten bleibt aber das „logische“ Ganze; das Ganze, das ein „Verhältnis des Ganzen und der Teile“[13] ist. Zunächst aber ohne Gestalt. Diese verlorene Gestalt jetzt als „Vernunftgestalt“ herzustellen ist die Forderung der Zeit.

Es gilt: „Das Ganze ist das Selbständige, die Teile sind nur die Momente dieser Einheit; aber ebensosehr sind sie das Selbständige, und ihre reflektierte Einheit ist nur ein Moment, und jedes in seiner Selbständigkeit schlechthin das Relative eines Anderen.“[14]

So müsste es gesehen werden. Doch die fehlende Gestalt verunklart das Bild; auch das Bild der Philosophen. Die „kritische Philosophie, welche sich transzendentalen Idealismus nennt“, verschiebt indes jenes, in der „Wesenslogik“ beschriebene, Sein „als etwas nicht Objektives, sondern dem Mitteldinge zwischen Nichts und Realität, der Vermischung von Sein und Nichtsein“[15] Angehörendes vorsichtshalber vom Diesseits ins Jenseits. Mag dieses „Dazwischen“ existieren oder nicht. Zum „Ding an sich“ gemacht, ist es damit herausgenommen aus den Gegenständen der empirischen Wissenschaften – und als solche betrachten sich beide, die praktische Philosophie und die Rechtswissenschaft. Anders Hegel; er zeigt, dass dieses „Ding an sich“ irdischer Natur ist. Er erkennt darin das „gestaltlose“ Sein.

 

Zusammengefasst:

Ein Ruck geht durch die Geschichte. Er bringt das Ende eines organischen „Ganzen“, das „ein Vielfaches nicht von Teilen, sondern von Gliedern“ war[16], die sich arbeitsteilig zur Seite standen. Jetzt, nach Auflösung des Organismus, scheinen die Glieder  zu „Totalitäten“ und damit zu „Entgegengesetzten“ geworden zu sein. Ein bedeutsamer Unterschied. Für Hegel ein Zwischenstand, den die tonangebende Philosophie aber als Endstand ausgibt und festschreibt. Und er gewinnt noch mehr Gewicht dadurch, dass die Vorherrschaft im „naturwüchsigen“ Gemeinwesen bei der „primären“ Natur lag, sie aber jetzt auf die „produzierte“ überwechselt. Wir stehen also vor einer Entgegensetzung, die zugleich eine Umkehrung der Machtverhältnisse ist. Dabei kann es nicht bleiben. Der Zwischenstand muss weitergeführt werden zu einem historisch neuen Ganzen – zur „Vernunftgestalt“.

 

Etwas Unerhörtes und Folgenreiches geschieht, wird aber falsch interpretiert und droht aus dem Ruder zu laufen. Schon bahnt sie sich an: die „Tragödie im Sittlichen“[17]. Ein neuer „Begriff wissenschaftlicher Behandlung“[18] tut not. Eine Methode muss zur Anwendung kommen, die uns die Wirklichkeit im 3D-Format, „räumlich und zeitlich“ zugleich[19], zu zeigen imstande ist.

Eine Aufgabe und eine Methode, für die die Philosophie der Aufklärung „blind“ war. Und trotz aller positiven Ansätze: auch die jetzige Philosophie“ verfehlt dieses Ziel. Und zwar deswegen,   weil sie die „Bestimmung der Einheit“[20] verfehlt. Sie fragt nicht, wohin die jetzige Entgegensetzung führt, welche praktischen Folgen sie nach sich zieht. Und sie fragt selbstverständlich auch nicht, wie ihnen entgegen zu wirken ist.

Die bisherige Philosophie hat den skizzierten Prozess grob einseitig interpretiert, nämlich aus der Sicht des Neuen, also der „produzierten“ Natur und ihrer Nutznießer. Und nicht nur das! Über ihre Vorherrschaft hinaus wird diese Natur jetzt als das „Ganze“ angesehen. Aber „Krankheit und der Anfang des Todes [ist] vorhanden, wenn ein Teil sich selbst organisiert und sich der Herrschaft des Ganzen entzieht“[21]. Denn was wird mit der anderen, der „primären“ Natur, wenn sie jetzt als unselbständiger und „mundtot“ gemachter Bestandteil in eine politische Organisation „eingebaut“ wird, deren Prinzip und System „auf Besitz und Eigentum geht“[22]?

Deutschland ist spät dran. In England und Frankreich ist der Übergang längst erfolgt. Was ist von dort zu lernen, was nicht? Jene Fragen stehen an, die den Untergang der feudalen Gemeinwesen überall begleiten. Wie geht es weiter? Was folgt nach? Es drängt sich hier, in Deutschland, geradezu auf, die vor der Tür stehende bürgerliche Gesellschaft anhand der dort gemachten Erfahrungen zu messen. Und es gilt, die Vorschuss-Lorbeeren, mit denen die Philosophie der Aufklärung sie bedacht hat, zu überprüfen. Hat die bisherige Praxis diese bestätigt? Und wenn nicht: Welche Korrekturen sind vorzunehmen, welche Schlüsse sind aus den erhobenen Befunden zu ziehen?

Das Deutschland dieser Zeit: der ideale Nährboden für Denker vom Schlage Hegels.                                             

 

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Hegel lebt in einer „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode“[23]. Er wird Zeuge eines epochalen Wandels, der auch den Staat, die Familie und den Menschen erfasst. Ihm widmet sich die deutsche Philosophie; ihm widmet sich Hegel. Erstere wendet sich jedoch vorwiegend den Veränderungen zu, die sich auf der Ebene der „Besonderheit“ zeigen. Sie steht dem täglichen Leben der Menschen am nächsten. Was hier geschieht, greift ganz unmittelbar in dieses ein. Die Ebene des Allgemeinen hingegen, die dortigen zwei Naturen und ihre Einheit, rückt aus dem Blick, wird als Ebene menschlichen Daseins nicht mehr wahrgenommen. Die Folge zeigt sich im jetzigen Naturverständnis. Als die menschliche Natur gilt jetzt die „produzierte“ Natur. Anders Hegel. Die Ebene des Allgemeinen ist und bleibt ein Bereich menschlichen Daseins. Sie muss daher Gegenstand der philosophischen, der ökonomischen und der politischen Wissenschaften bleiben. Alles andere zöge eine verzerrte, eine „vereinseitigte“ Wahrnehmung der Wirklichkeit nach sich.

Und die bürgerliche Gesellschaft? Hegel erkennt sie als Gestalt der „Besonderheit“, die für die Binnenorganisation der „produzierten“ Natur steht. Er drückt es so aus: in der bürgerlichen Gesellschaft hat sich „die Idee in der Besonderheit verloren und [ist] in die Trennung des Inneren und Äußeren auseinandergegangen“[24]. Eindringlich warnt er davor, den „Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft“ zu verwechseln. Und er meint damit, dass beide einer anderen Ebene angehören. Der Staat ist älter als die bürgerliche Gesellschaft; letztere ist eine „Schöpfung … der modernen Welt“[25] Und dieser „ältere“ Staat bleibt; er verschwindet nicht mit ihrem Auftreten; er macht nicht einem „jüngeren“ Staat Platz. Im Gegenteil: Seine Rolle und Bedeutung ist jetzt und in der Zukunft größer denn je, weil der rasante Aufstieg der „produzierten“ Natur und ihre jetzige Verselbständigung den Bestand der Schöpfung infrage stellt und deshalb mehr denn je die Korrektur- und Vermittlungsinstanz „Staat“ erfordert.

 

Hegel bleibt dabei:

Der Staat dieser Ebene, der Staat der beiden Naturen, ist und bleibt „das Erste“[26].  Er wird nicht ersetzt durch den internen Staat der „produzierten“ Natur. Wenn heute vom Staat geschrieben wird, stößt man nur auf „Seichtigkeit“ empört er sich mit Blick auf Fries. Und: „[Ü]ber die Natur des Staates noch philosophisch zu sprechen“, sei „fast gar zur Unehre geworden“. Angesichts der Versuche, den modernen Staat vom Vertrag abzuleiten, merkt er an:  Als ob noch nie ein Staat existiert hätte! „[A]ls ob man jetzt …ganz von vorne anzufangen, und die sittliche Welt nur auf ein solches jetziges Ausdenken und Ergründen und Begründen gewartet habe.“[27] Das vormalige „Ganze“ ist nicht durch die Teile oder gar nur durch ein Teil ersetzt worden; das „Ganze“ und die „Teile“ bestehen fort! Wenn auch nicht in der alten Gestalt. Daher ist es notwendig, den „Begriff ihres allumfassenden Zusammenhangs“[28] zu bewahren. Auf der Tagesordnung der Philosophie steht also die Frage, was jetzt das „Ganze“ ist, in welcher Gestalt es jetzt auf den verschiedenen Ebenen existiert, wie es jetzt wirkt. 

Richtig: ein weiterer Staat kommt jetzt hinzu; der „Not- und Verstandesstaat“ [29]. Aber das er nicht den „ersten“ Staat ersetzt, verkennt eine Philosophie, die sich von der „Macht der Entzweiung“ leiten lässt bzw. sich ihr unterwirft. Für sie zählt nur, was sich um die jetzt hervortretenden „Bestimmtheiten“ zentriert. Für sie ist die Staatsfrage  gelöst. „Staat“ ist für sie dieser mit dem Schutz des Eigentums betraute „Gesellschaftsstaat“. Jener Staat, der nun endlich auch in Deutschland zur Herrschaft gebracht werden muss. Für Hegel indes gehört dieser hinzukommende Staat zur Binnenorganisation der „produzierten“ Natur, er ist eines der „drei Momente“[30] der bürgerlichen Gesellschaft.

Aber Hegel redet und schreibt gegen eine Wand. Der Gedanke, dass der biologisch bzw. „organismisch“ fundierten Naturgestalt eine logisch fundierte „Vernunftgestalt“ zu folgen hat, wird nicht aufgegriffen. Stattdessen kommen „Konstruktionen“ auf, in denen die frei gesetzten Teile willkürlich und nach Parteigesichtspunkten zusammengefügt werden. Das führt dazu, dass dieser Staat durch jenen ersetzt wird. Die Folge: Die „primäre“ Natur ist damit „herrenlos“ gemacht; ihre Aneignung steht nicht mehr unter Aufsicht. Da zugleich der „produzierten“ Natur zugebilligt wird, die menschliche Natur zu sein, erfährt die Naturfrage eine ungeheure Verschärfung. Denn in der Praxis führt diese Umbewertung dazu, dass ihre Mitglieder  sich berechtigt sehen, jetzt ungezügelt und unlimitiert Raubbau an der „primären“ Natur zu treiben.

Hegels Staatsbegriff stört dabei. Nahezu zwangsläufig wird er in der Hochzeit des Liberalismus der Hauptgrund, dass Hegel und seine Philosophie schon bald nach seinem Tode mehr als 50 Jahre lang nahezu geächtet waren. Und auch danach – bis heute – wird sein Staat als der problematische Teil seiner praktischen Philosophie angesehen. Er gilt als weitgehend misslungen, weil er nicht mit dem, der bürgerlichen Gesellschaft immanenten, „Rechtsstaat“ zur Deckung gebracht werden kann. Ein opportunistisches Zugeständnis an den preußischen Dienstherrn, das, vermeintlich zugunsten Hegels und zugunsten der anderen Teile seiner Philosophie, am besten unbeachtet bleibt.

Zwei Staaten. Der eine ist der in den §§ 257 ff. R abgehandelte Staat der „Allgemeinheit“, dessen Aufgabe es ist, die beiden entgegengesetzten Naturen zu vermitteln. Er wird jetzt zur Seite geschoben. Der andere ist der Staat der „Besonderheit“, der zusammen mit der bürgerlichen Gesellschaft als „Not- und Verstandesstaat“ aufkommt. Seine Aufgabe es ist, die jetzt getrennten „Produktionen“ zu vermitteln; ihre Einheit herzustellen. In der Ära des Nationalstaates treten sie beide als ein Staat in Erscheinung – was teilweise erklärt, warum es zu dem kommt, wovor Hegel warnt: Dass jetzt der „Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt“[31] wird.

***

In § 180 R zeigt Hegel, dass der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ auf zwei Weisen erfolgt. Einmal, indem die Familie eine „Vielheit von Familien“ gleicher Art gebiert – eine Änderung lediglich der Quantität. Mit dem Wort „oder“ verweist Hegel auf die andere, qualitätsverändernde Weise: Die „in der Einheit der Familie … gebundenen Momente“ werden aus ihrem (bisherigen) Begriff „zur selbständigen Realität entlassen“[32]. „Gebunden“ sind in ihr die beiden „Produktionen“; ihre Wege trennen sich jetzt. Produktivkräfte kommen auf, die unter dem gemeinsamen Dach nicht zur Anwendung und Entfaltung kommen können, weil sie gesonderte Baulichkeiten, weil sie einen hohen  Kapitaleinsatz, schließlich weil sie eine Vielzahl an Arbeitskräften erfordern. Massenproduktion ist notwendig, damit sich der Einsatz der  neuen Produktivkräfte lohnt.

Die „Wirtschaftsfamilie“ war die Einheit zweier „Produktionen“. Einmal wird dort der Nachwuchs gezeugt und zu dem „formiert“, was aus ihm zu werden hat: Arbeitskraft. Zum anderen wird dort gemeinsam angeeignet, d.h. der Stoffwechsel mit der „primären“ Natur vollzogen. Zwei Produktionen unter einem Dach. Die Symbiose daraus ist das „gemütliche Knechtschaftsverhältnis“[33] des mittelaltrigen Handwerkers zur Arbeit. Was das Verhältnis zur Arbeit anbelangt, tritt jetzt eine schwerwiegende Änderung ein. Was dem Handwerker noch nahe stand, ein Bedürfnis war, wird jetzt zur Plage. Das „gemütliche Verhältnis“ zur Arbeit wird mit Aufkommen der Fabrikarbeit, ein sehr „ungemütliches“. Nicht für alle Menschen, aber doch für den Großteil von ihnen.

Fabrikarbeit und Massenfabrikation: Sie beenden das familiäre Produzieren unter einem Dach. Der Rahmen der bisher tonangebenden „Wirtschaftsfamilie“ ist gesprengt. Die bisher vereinten „Produktionen“ treten in die „Differenz“. Die Folge: Weil die in der Familie produzierte und formierte Arbeitskraft jetzt dort keine Verwendung mehr findet, muss sie die Familie verlassen und sich nach dorthin begeben, wo fabrikmäßig produziert wird. Der Markt avanciert zum Umschlagsplatz auch der  Ware „Arbeitskraft“. Ein blut- und tränenreicher Prozess, wie uns die Geschichte der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation lehrt. Es dauert seine Zeit, ehe sich der frisch gebackene Proletarier in sein Schicksal fügt. Aber dann ist es geschafft: Die bereits um die  „einfache“ Warenproduktion zentrierten (städtischen) „Gesellschaften“, erfahren ihre quantitative und qualitative Ausweitung zur bürgerlichen Gesellschaft.

Mit der Fabrik schafft sich die moderne Produktion ein eigenes Zuhause.  Und „Familie“ versteht sich jetzt als die bürgerliche Kleinfamilie. Zwei getrennte Kreise. Und eine Philosophie, die der Aufklärung, und – ihr folgend – die moderne Nationalökonomie, denen diese Trennung als unverrückbare Tatsache gilt. Das hält bis heute vor. Und sprechen nicht gute, ja beste Gründe dafür?

Hegel stellt diese Gewissheiten in Frage.

Für ihn geht die „Wirtschaftsfamilie“ nicht unter. Ihr Zerfall ist, dialektisch gesehen, ein „Übergehen in ein anderes Prinzip“[34]. Die zwei „Produktionen“ trennen sich. Zugleich schieben sich die sachlichen Komponenten des Produzierens in den Vordergrund. Beides führt dazu, dass jetzt das äußere Bild gegen die fortbestehende Einheit des Produzierens spricht. Und doch ist beides sekundär gegenüber dem, was primär war, ist und bleiben wird: die Kollektivität des Produzierens. Weiterhin wird die „primäre“ Natur kollektiv angeeignet und in eine „zweite Natur“[35] umgeformt. Zur Zeit der „Wirtschaftsfamilie“ resultierte daraus kollektives, nicht einem Einzelnen (Familienvater!), sondern der Familie zugeordnetes, Eigentum. Jetzt aber gewinnt eine Betrachtung die Oberhand, die den Prozess der Aneignung bei den Produktionsmitteln beginnen lässt. Das Eigentum daran hebt aus dieser Sicht die Kollektivität der Aneignung auf, begründet danach die Privatheit auch der Aneignung.

Das bestreitet Hegel.

Der Mensch existiert nicht als vereinzelter Einzelner, sondern in, mit und über die Gattung „Mensch“. Dabei bleibt es. Das jetzige Stadium ist ein „Zunächst“[36]. Nur „die Stufe der Differenz“ ist erreicht. Auf ihr zeigen sich die Einzelteile „abstrakt“, als nur noch formell, über das „abstrakte Recht“, in Verbindung stehende Totalitäten. War die „Wirtschaftsfamilie“ sittlich geprägt, so fehlt hier das sittliche Band. Oder so gesagt: auf dieser Stufe geht die Sittlichkeit an den Vertragszustand verloren. „Einheit“ und „Vermittlung“ fehlen hier. Sie scheinen für immer zu einem Nichts geworden zu sein. Und niemand scheint sie zu vermissen. Außer Hegel. Er erkennt, dass dieses „Nichts“ nur für die frühere Gestalt gelten kann. Jetzt muss es, den neuen Gegebenheiten entsprechend, zu einer neuen Gestalt gebracht werden – zur „Vernunftgestalt“.

Dialektisch gesehen: ein zweistufiger Prozess. „Zunächst“ besagt, dass der Prozess hier nicht endet. Er gelangt nur zur Negation der bisherigen Gestalt. Und doch: Was nur ein Zwischenstand ist, wird „fest“ gemacht, wird zum Endzustand erklärt. Damit ist die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft auf einer Stufe gestoppt, wo sie „Einheit [ist], die nur Gemeinsamkeit“[37] ist. Die Teile beherrschen das Terrain: die Unternehmung und die „Person“. Nur letztere, der „vereinzelte Einzelne“, das an das Privateigentum und an das Privatrecht gebundene „Teilwesen“[38], findet hier diese Form von „Einheit“.

Eine Reduktion des Menschen findet statt, nicht seine Emanzipation.

Was aufkommt ist eine Einheit, die nicht „vermittelt“, sondern nur „Ordnung“ schafft. Die Ordnung durch das Recht. Sie schwingt sich aus den bisherigen Ansätzen zur  „Rechtsordnung“ hinauf. Nur sie setzt den frei gewordenen Atomen Grenzen. Wir sind beim „Freiheitsgesetz“ Kants:

„Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“[39]

Hegel merkt dazu u.a. an, dass Kant damit nur eine „negative Bestimmung“[40] des Rechts wie der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt gegeben habe.

Da das Freiheitsgesetz „mit der Befugnis zu zwingen verbunden“[41] ist, muss eine Institution geschaffen werden, die mit dessen Durchsetzung betraut wird. Hegel nennt diesen Staat den „Not-und Verstandesstaat“; gebräuchlicher, aber auch einengender wird es, ihn „Rechtsstaat“ zu nennen. Wie schon erwähnt: es wird herrschende Meinung, dass dieser Staat den alten Staat ablöst. Hegel hält dagegen: Der „echte“ Staat, der Staat der beiden Naturen, besteht schon und bleibt weiterhin bestehen. Er ist jetzt nötiger denn je. Zu ihm kommt der „Not-und Verstandesstaat“ hinzu.

***

In der englischen und französischen Nationalökonomie wird der beschriebene Vorgang so dargestellt, als komme eine neue Art von Produktion auf, die ihren Ausgang jenseits der Familie, nämlich in der Zirkulationssphäre, im Handelskapital nimmt, während gleichzeitig die „Wirtschaftsfamilie“ zur modernen Kleinfamilie verschrumpft. Davon geht später auch K. Marx aus.[42] Familie und Unternehmung: für sie sind das parallel existierende Institutionen mit je unterschiedlicher Wurzel und je eigener Geschichte.

Anders Hegel. Was vormals „Wirtschaftsfamilie“ war, ist jetzt „bürgerliche Gesellschaft“. Jene war bisher das „substantielle Ganze“, das ihren Mitgliedern vorsorgend und helfend bei der Aufzucht und Ausbildung der Kinder, im Krankheits- und Invaliditätsfall und im Alter zur Seite stand. Ihr Zerfall aber „reißt … das Individuum aus diesem Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbständige Personen“[43]. Dabei geht dieser Beitrag der „Wirtschaftsfamilie“ verloren, ohne dass die Kleinfamilie ihn vollständig kompensieren kann. Wer übernimmt, was jetzt in Wegfall gerät? Am Vermögen der „Wirtschaftsfamilie“ war das Mitglied beteiligt – wenn auch sehr unterschiedlich. Reicht der Arbeitslohn, der jetzt an die Stelle der Beteiligung tritt, aus, um die Lücke zu schließen? Nein! Hegel verweist auf England: „Es kommt … zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“

Bleibt es bei englischen Verhältnissen, wird die bürgerliche Gesellschaft beides zugleich hervorbringen: Ein „Übermaß an Reichtum“ und ein „Übermaß an Armut“.

Weil das Kapital für das fabrikmäßige Produzieren in der Zirkulation generiert wird, seinem Ursprung nach Handelskapital ist, wird diese seine Herkunft zum Anlass genommen, das Eigentum vor die Aneignung zu setzen. Das Ende eines einheitlichen Prozesses wird damit zum Anfang gemacht. Die „Kollektivität“ der Aneignung tritt hinter die Privatheit des Ursprungskapitals zurück. Das Sekundäre, das Geld, die Sache, wird zum Primären. Eine weitere Folge: die Verbindung der beiden „Produktionen“, ihrer beider Wurzel in der „Wirtschaftsfamilie“, ihre dortige „Einheit“, wird gekappt. Obwohl beide Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind, wird es feste Meinung, dass die eine, die Kleinfamilie, mit dem anderen, der kapitalistischen Unternehmung, nichts zu tun hat.

Doch es wird weiterhin kollektiv produziert. Im Gegensatz zu früher wird aber das Ergebnis nicht Eigentum einer, von ihren Mitgliedern abgesonderten, Kollektivperson, sondern wird unmittelbar das Eigentum eines oder auch mehrerer Privatpersonen. Kollektive Aneignung, aber privates Eigentum. Die Verteilung des Angeeigneten durch die Kollektivperson an die Akteure der Aneignung, dieser vermeintliche Umweg, entfällt. Ein einheitlicher, bisher einer Ebene angehörender, Vorgang ist jetzt auf zwei Ebenen verteilt – zum Nachteil jener Teilnehmer am Aneignungsprozess, die lediglich ihre Arbeitskraft einzubringen haben.

Wo liegt der Schwerpunkt? Auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln oder auf der nach wie vor notwendigen Kollektivität des Vorgangs „Produktion“? Für Hegel liegt er auf Letzterem. Trotz der gravierenden Unterschiede zum Früheren: Der Mensch ist auch jetzt Glied zweier kollektiv betriebener „Produktionen“. Dass jetzt die sachlichen Produktionsbedingungen als Privateigentum in das Produzieren eingebracht werden, modifiziert zwar die Sachlage, macht sie aber nicht zu einer grundsätzlich anderen. Das gilt auch für die jetzige örtliche Trennung der beiden „Produktionen“. Bleibt der Schwerpunkt so gesetzt, bleibt es auch dabei, dass das Resultat des Produzierens zum gesamthänderischen Vermögen aller Beteiligten bzw. zum Vermögen einer „Kollektivperson“ wird. Das bringt Hegel in Gegensatz zur bis heute herrschenden Theorie und Praxis. Diese akzeptieren keine „Kollektivpersonen“. Nichts passt weniger in das jetzt tonangebende individualistische Weltbild als sie. Wohl deshalb sieht die Rechtsordnung sie nicht vor, selbst dort nicht[44], wo sie als soziologische Größen unleugbar sind.

Zum Grundgesetz einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Einheit „nur Gemeinsamkeit“ ist, wird, dass nicht nur das Kapital für die Gründung und für den laufenden Betrieb der Unternehmung als Privateigentum eines oder mehrerer Kapitalgeber anerkannt ist, sondern auch alle „Früchte“ des Produzierens. Der Anteil an ihnen, der auf den Einsatz lebendiger Arbeit zurückgeht, wird hingegen  mit Null angesetzt.[45] Damit ändert sich die Rechtsstellung dessen dramatisch, der nur seine Arbeitskraft einzubringen hat. Früher hatte er Rechte und Pflichten, die sich auf den gesamten Aneignungsprozess bezogen. Über sie wurde er Miteigentümer am Vermögen der Kollektivperson. Jetzt verliert er durch den Verkauf seiner Arbeitskraft den Großteil seiner Rechte, weil er Teil fremden Eigentums wird. Jene, die ihm verbleiben, sind beschränkt auf den vereinbarten Lohn.   

Beruhte die bisherige „Rechtsstellung“ auf der Einheit von Rechten und Pflichten, so ermöglicht es jetzt der Verlust dieser Einheit, die im Unternehmen eingesetzte Arbeitskraft als (rechtlose) Sache anzusehen, die als solche in die innerbetrieblichen technisch-technologischen Abläufe eingegliedert wird. So eingefügt in das Zusammenspiel einzelner Apparate, Gegenstände, Hebel etc. innerhalb der „Gesamtmaschine“ Fabrik, ist sie einer „Direktion“ ausgeliefert, die für den Arbeiter nur dann justiziabel wird, wenn sie das vereinbarte bzw. technisch-technologisch notwendige Maß überschreitet. Man kann es so sagen: Bei wenigen konzentriert sich der Großteil der Rechte, bei vielen der Großteil der Pflichten.  

Der ganzheitliche Mensch, der Mensch beider Naturen, muss zu „Person“ und „Subjekt“ werden, weil die beiden „Produktionen“ jetzt örtlich getrennt sind. Die Zwischenstation „Arbeitsmarkt“ bildet sich aus. Er ist das eigentliche Zuhause der „Person“ als der Einheit von „Wille“ und „Leiblichkeit“. Er ist der „Anfangspunkt“ des auf seinen ökonomischen Kern reduzierten Menschen und die Plattform, auf der der jetzt notwendige Austausch von Lohnarbeit und Kapital abgewickelt wird. Hier, wo der Mensch das ist, was Hegel so ausdrückt: „das Eigentum seiner selbst und gegen andere“[46], ist er jetzt „Person“. Mit ihr ist das juristische Institut geschaffen, das den Ausweg aus der Sackgasse „Sklave“ weist, in die „Rom“ geriet. Denn über die „Person“ wird bewerkstelligt, dass der Mensch sich selbst verkaufen kann, ohne Sklave zu werden. Er verkauft nur seine, zu einer konkreten „Geschicklichkeit“[47] ausgebildete, Naturkraft an den Kapitalisten. Der Rest von ihm, der „Wille“, bleibt vor dem Fabriktor zurück. Ohnehin gilt für ihn: „No admittance except on business.“[48] 

Es hat also seinen guten Grund, dass das, was Hegel zur „Person“ sagt, bemerkenswert kühl klingt. Euphorie kommt nur bei jenen auf, die „Person“ mit „Mensch“ gleichsetzen, ja, für die sich die Sache so darstellt, als potenziere die „Person“ das Menschsein.[49] Solchem Pathos setzt Hegel entgegen: Die „Person“ ersetzt den Menschen durch sein ökonomisch-juristisches Substrat. Sein Geldwert ist jetzt der gemeinsame Nenner. „Die Person ist also in einem das Hohe und das ganz Niedrige“. Sie ist der bloß „negativ bestimmte“ Mensch. Auf jeden Fall ist sie kein „ganzer“ Mensch, weil sie „nichts Natürliches in sich hat oder ertragen könnte.“[50]

Als „Person“ ist der Mensch „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“[51], der Teil-Mensch der „produzierten“ Natur. Aber wissen diese neue Mutter, dieser neue Vater von ihrer Elternschaft und von den Pflichten daraus? Die jetzige Kleinfamilie hat zwar „weiterhin für das Brot der Einzelnen zu sorgen“, aber sie ist jetzt „nicht mehr von so umfassender Wirksamkeit.“ Sie kann die soziale Funktion der früheren „Wirtschaftsfamilie“ nicht vollständig kompensieren. An sich geht diese auf die bürgerliche Gesellschaft über. Sie ist jetzt die „ungeheure Macht“, die den Einzelnen zur Arbeit anhält. So von ihr vereinnahmt, „hat er ebenso Rechte und Ansprüche an sie, wie er sie in der Familie hatte.“[52] Aber kommt die bürgerliche Gesellschaft der auf sie übergegangenen sozialen Funktion nach? Das Beispiel England zeigt es: Nein!

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Über das „Zunächst“ hinaus: Die bürgerliche Gesellschaft als Rechts- und Sozialstaat

Tausend Jahre war die „Wirtschaftsfamilie“ das „substantielle Ganze“[53] auf der Ebene der Besonderheit. Jetzt ist ihre Zeit vorbei. Sie wird abgelöst durch die bürgerliche Gesellschaft; sie ist jetzt dieses „Ganze“. Aber wieder stoßen wir auf ein „Zunächst“. Hegel verweist auf England und Frankreich, die beide in Deutschland als Vorbilder gelten. Sieht so eine  „Vernunftgestalt“ aus? Das bestreitet Hegel. Dem, was dort längst Praxis ist und was nun auch in Deutschland langsam Gestalt annimmt, fehlt es daran. Denn „Vernunft“ heißt „Vermittlung“ der jetzt entgegengesetzten Teile. Bestenfalls ist also, dort wie hier, ein Anfang gemacht. Was vorhanden ist, was seine Zeit prägt, ist eine bürgerliche Gesellschaft, in die die Vernunft nur hineinscheint, dort aber nicht zuhause ist. Er nimmt Bezug auf die Lehren von Smith, Say und Ricardo, die diese „hineinscheinende Vernünftigkeit“ als das Wirken der unsichtbaren Hand erkannt haben.[54] Ihr Wirken im Nachhinein zeigt eigentlich nur auf, dass die „Vernunftgestalt“ fehlt und wie dieses Fehlen sich auswirkt. Die Lehren von Smith und Co. seien von daher zwar interessant, seien bisher aber nur „Marktökonomie“, noch nicht „Staatsökonomie“.[55]

Was bislang fehlt ist die „Vermittlung“, sowohl die der beiden Naturen, wie auch die der aus  der „Wirtschaftsfamilie“ hervorgehenden Teile. Dort, auf Ebene a, geht es um die Wiederherstellung der verlorenen Sittlichkeit, hier, auf Ebene b, geht es um die Wiederherstellung der verlorenen „Sozialität“.

Was „zunächst“ und gewissermaßen von selbst entsteht, genügt also nicht, ist weit entfernt davon, ein echtes Ganzes zu sein. Über das „Zunächst“ hinausgehen heißt also, die soziale Funktion der „Wirtschaftsfamilie“ aufzugreifen und sie in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. 

Wie eine bürgerliche Gesellschaft aussieht, die als „Vernunftgestalt“ gelten kann, gibt uns § 188 R erste Auskunft. Der Text:

Die bürgerliche Gesellschaft enthält die drei Elemente:

A.     Die Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen – das System der Bedürfnisse.

B.     Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege.

C.     Die Vorsorge gegen die in jenen Systemen zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses al eines Gemeinsamen, durch die Polizei und Korporation.

Als Einheit der „Entgegengesetzten“ Familie und Unternehmung sowie Person und Subjekt hat sie zwei Funktionen auszuüben:

Die eine ergibt sich aus jenem „Gemeinsamen“, das nach dem Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ von selbst, „naturwüchsig“, herstellt. Es zeigt sich als jener Beziehungstyp, den die jetzt zur „Person“ gewordenen und auf den Markt geworfenen Menschen über den Vertrag begründen. Er erzwingt das, was gemeinhin als die Rechtsstaatsfunktion genannt wird; er führt zu Gesetz und Justiz.

„Freiheit“ ist eingezogen. Das ist in Kontinental-Europa[56] die Stunde „Roms“ und des römischen Rechts, allerdings auch die Stunde des Entweder-oder-Denkens. Der Zerfall der „Wirtschaftsfamilie“ entbindet das „Glied“ der Familie von all den Zwängen, die mit dem dortigen Produzieren verknüpft sind. Das „Glied“ wird zum Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, zur „Person“. Diese Entbindung von den früheren Pflichten steht jetzt als „Freiheit“ ganz im Vordergrund. In den Hintergrund tritt hingegen, dass sich die wenigsten diese Freiheit leisten können. Denn sie setzt voraus, dass ich vermögend genug bin, um mich frei von wirtschaftlichen Zwängen zu halten. Die Mehrheit ist genötigt, sich erneut, jetzt außerhalb der alten Familie, in der Fabrik, den Zwängen der „Produktion“ auszuliefern. 

     Teil C. sticht heraus. Er erklärt sich aus dem, was bereits vorgetragen ist. Hegels bürgerliche Gesellschaft geht über das hinaus, was darunter in Theorie und Praxis längst den Ton angibt: Die bürgerliche Gesellschaft des „Manchester-Kapitalismus“. Sie bedeutet das Maximum an „Freiheit“ – nicht nur gegenüber der „primären“ Natur, sondern auch gegenüber jenem Teil ihrer Mitglieder, der jetzt gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. „Freiheit“, die weit über das sozialverträgliche Maß hinausgeht. Auf Dauer praktiziert führt sie zur „Desorganisation“[57] der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel wird daher nicht müde, vor ihr  und ihren zerstörerischen Folgen zu warnen.

Zwar gehört der Lohnarbeiter auch weiterhin einer Familie an. Jetzt aber ihrer ökonomischen Funktion beraubt, kann sie die soziale Funktion der „Wirtschaftsfamilie“ nicht mehr voll wahrnehmen. Wer gleicht das entstehende Defizit aus? Für den Staat liberalen Verständnisses ist diese Aufgabe nicht vorgesehen. Anders Hegel. Er sieht hier die alte und neue Aufgabe der früheren Korporationen. Sie sind daher – siehe die Aussage unter C - in neuer Gestalt Teil der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Prozess verharrt nicht beim Zerfall. Eine zweite Stufe schließt sich an, die zur „Aufhebung des Außereinander“[58] in der „Vernunftgestalt“ führt. Allerdings geschieht das nicht ohne unser Zutun. Selbst bringt der Prozess nur das „wesentliche Verhältnis“ hervor, das sich, bleibt es „gestaltlos“, nur hinter unserem Rücken Gehör verschafft. Bleibt unser Beitrag aus, kommt der Prozess nicht zum Abschluss. Leisten wir ihn, stehen wir vor der historisch neuen Gestalt - der „vernünftigen Institution“[59].

***

Vom „Entweder“ zum „Oder“? Hegel macht es sich nicht leicht. Seine ganze Philosophie kreist um die Frage, was geschieht, wenn es bei der bloßen „Umkehrung“[60] bleibt. Ja, die Auflösung des Organismus ist unumkehrbar. Und ja, das Existenzrecht der „produzierten“ Natur, ihre jetzige Freiheit, ist unbestritten. Aber was ist mit der „primären“ Natur? Auch sie hat ein solches Recht, noch dazu, da sie ja die Nährmutter auch der „produzierten“ Natur ist und bleibt. Letztere aber hat einen gefährlichen Hang zur Maßlosigkeit, damit zur Zerstörung und Selbstzerstörung. Anfangs unscheinbar wie ein Schneeball, wird sie bald donnernd ein Dorf unter sich begraben. Sie steht für Wachstum. Sie steht für: „Explorieren der ganzen Natur“, für: „Exploration der Erde nach allen Seiten“[61]. Hegel sieht also bereits den Moloch unserer Zeit vor sich. Und schon damals sorgt diese neue Natur dafür, dass nun das Aus kommt für Philosophien, die sie von der Warte des „Ganzen“ beurteilen. Das „Bedürfnis“[62] nach solcher Philosophie deckt sich nicht mit den Bedürfnissen der „produzierten“ Natur. Es ist also nicht von ungefähr, dass dem Höhenflug, den die deutsche Philosophie mit Kant, Fichte, Schelling und Hegel erlebt, bald  eine nahezu philosophielose Zeit folgen wird, ja dass das Zeitalter der Philosophie überhaupt durch das Zeitalter der Ideologien abgelöst wird.

Die Philosophielosigkeit paart sich mit Ungeschichtlichkeit. Vorherrschend werden Auffassungen, die die bisherige Geschichte mit „Rom“ enden und die „neue“ Geschichte mit „Rom“ beginnen lassen. Für sie gilt das Mittelalter, wie F. Engels kritisch kommentiert, „als einfache Unterbrechung der Geschichte durch tausendjährige Barbarei“[63]. Das antike Griechenland, das antike Rom machen das Rennen. Übersehen wird dabei, dass  sich bereits dort, in den Frühformen einer bürgerlichen Gesellschaft, zwei Prinzipien unvermittelt gegenüber stehen: das Prinzip des „Allgemeinheit“ und das Prinzip der „Besonderheit“, und es, weil sich die antiken Griechen und Römer gegen die „Vermittlung“ und für die „Besonderheit“ entscheiden, „die selbständige Entwicklung der Besonderheit“ das „hereinbrechende Sittenverderben“ auslöst und zum „letzten Grund für den Untergang derselben“ wird.[64] Eine Fehleinschätzung der Bedeutung der Antike für die Gegenwart, die fatale Folgen nach sich zieht, weil sich jetzt diese Entgegensetzung wiederholt. Und auch ihre Folgen: „das Ausschweifende und Maßlose“[65] gewinnt (erneut) die Oberhand. Hegel schließt sich ihr nicht an. Für ihn ist auch das Mittelalter eine Zeit, in der sich der „allgemeine Geist“ verwirklicht. Hier vollzieht sich ein „Wendepunkt“[66] im Stufengang der Weltgeschichte, weil in ihr das „Entweder-Oder“, in das „Rom“ sich zuletzt verrannt hatte, durch ein „Sowohl als auch“ ersetzt wird.[67]

Eine „Aufhebung“ führt in die Zukunft, nicht ein Schwenk vom „Entweder“ zum „Oder“.

 

Keine bloße Umkehrung! Sie führt nicht nach vorn, sondern in eine Sackgasse. Egal, ob sie sich gegen das „naturwüchsige“ Gemeinwesen richtet oder dieses – wie bei von Haller[68] – wiederherstellen will: das ist undialektisch und betont jeweils „nur das eine, darum einseitige Moment der Idee des vernünftigen Willens[69].

Nicht bloß der subjektive Wille der einen oder der anderen Natur! Auch der objektive Wille des fortbestehenden „Natur-Ganzen“ muss in Freiheit gesetzt werden. Und das heißt jetzt, wo die „produzierte“ Natur dabei ist, die Herrschaft an sich zu reißen, ihr Schranken zu setzen. Schranken, die diese Natur vor sich selber schützen, aber vor allem solche, die der „primären“ Natur Schutz bieten. Es ist also keineswegs ausgleichende Gerechtigkeit, dass nach einer tausende von Jahren währenden Vorherrschaft der „primären“ Natur, nun die Zeit folgt, in der diese Vorherrschaft zur anderen Natur überwechselt. Schließlich ist und bleibt es dabei, dass die „primäre“ Natur der Urgrund von allem ist, auch der „produzierten“ Natur. Emanzipation kann also nicht Vorherrschaft bedeuten, sondern lediglich ein erwachsenes, gleichberechtigtes, Verhältnis der beiden Naturen. Da sich dieses nicht von selbst herstellt ist es unsere Aufgabe, die Einheit beider Naturen über eine „Vernunftgestalt“ zurückzugewinnen.

 

England und Frankreich. Ist das der richtige Weg? Hegel lernt von dort, aber er jubelt nicht. Er stellt sich hinter die bürgerliche Gesellschaft, denn diese ist so unaufhaltsam wie notwendig. Aber er vergisst darüber nicht die „vorgefundene“ Natur. Und wie die schon vorliegenden Erfahrungen zeigen: sie muss jetzt vor Ausplünderung und Zerstörung durch ihr Gegenüber in Schutz genommen werden. Deshalb keine bloße „Umkehrung“! Sie ist nicht nur theoretisch falsch, sondern gefährdet, wird sie praktiziert, den Bestand des „Ganzen“.

Heute, wo wir vor den Folgen einer 250-jährigen Fehlentwicklung stehen, kann die Weitsicht Hegels nicht hoch genug geschätzt werden.

***

Was die eingangs zitierte Bemerkung C. Schmitts also deutlich macht:

Gemessen an dem, was Hegel darunter versteht, leben wir in und mit einer bürgerlichen Gesellschaft, die im „Zunächst“, aus der Sicht Hegels: auf der ersten Stufe einer „Aufhebung“, stecken geblieben ist.

Wie der junge Marx in Bezug auf Frankreich formuliert: „Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen.“[70]

Das Halbe, die Teile und ihre jetzige Freiheit, beherrschen die Szenerie. Sie stehen im Licht. Sie beherrschen die Praxis.

Diese „Freiheit“! Nicht, dass es sie nicht gäbe. Aber nicht als dieses aufgeblähte „Freiheitsgeschrei“[71]. Die Praxis zeigt ein anderes Bild. Stellt man die Produktion in die Mitte, wird die Kehrseite dieser „Freiheit“ sichtbar, nämlich die dort allgegenwärtige „Direktion“. Und versteht man sie als „frei von Natur“, offenbart sie uns eine brutale Verschiebung des Verhältnisses der beiden Naturen zu Lasten der „primären“ Natur. Eine Freiheit, der es an Rückkopplung zur Vernunft fehlt und die – bleibt es dabei – zur Gefahr für die Schöpfung wird.

Eine „Freiheit“ wird inthronisiert, die ohne das Korrektiv „Notwendigkeit“ auskommen will – und zwar in zweifacher Hinsicht. Einmal die freiheitseinschränkende Notwendigkeit auf der Ebene der beiden Naturen. Die Freiheit, so verstanden, so verabsolutiert, kommt insoweit einer Verschwörung gegen die „primäre“ Natur gleich. Sie ist der Freibrief für ihre unlimitierte Ausbeutung. Eine Freiheit, die zum anderen die Notwendigkeit ignoriert, sich jetzt den „Direktionsverhältnissen“ zu unterwerfen. Diese sind zwar  unleugbar, werden aber durch die Verdoppelung des Menschen in „Person“ und „Subjekt“ wegkonstruiert. Sie scheinen, wie die „Industrie“ überhaupt, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu stehen. Die so verstandene Freiheit legitimiert somit die unlimitierte Profitmacherei der wenigen, die ein Hauptgrund für das Elend der vielen ist. Wir sollten uns nicht davon täuschen lassen, dass es Länder gibt, in denen selbst die „Habenichtse“ halbwegs sorgenfrei leben können. Die „bürgerliche“ ist  längst zu einer weltbürgerlichen Gesellschaft geworden. Blickt man also über den nationalen Tellerrand, ist unschwer zu erkennen, dass der Sozialstaat, weltweit gesehen, nach wie vor eine eher unbekannte Größe ist. Und auch in den Wohlstandszentren zeigt die seit ca. 1980 stetig größer werdende Schere zwischen arm und reich an, dass der Sozialstaat auch dort eher ab- als zunimmt.

Ein doppeltes Manko, wie C. Schmitt insoweit richtig erkennt. Aber bietet er eine Lösung an, die es beseitigt?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den „organisierten“ Kapitalismus, treten Konstruktionen in den Vordergrund, die die „Direktion“ in die Mitte rücken. Im Osten wird Lenin zum Gründer eines marxistisch, in Italien wird Mussolini zum Gründer eines mit dem irrationalen Syndikalismus Sorels begründeten „Betriebsstaates“[72]. Die Grundidee bei beiden: Das innerbetriebliche Regime wird auf den öffentlichen Raum übertragen. Nicht 1:1, aber doch so, dass die Gewichtung zugunsten der innerbetrieblichen Prinzipien ausfällt. Im realen Sozialismus stand hierfür der „demokratische Zentralismus“, im „Dritten Reich“ war es das „Führertum“. Führung durch eine nicht abwählbare Partei oder einen ebenso nicht abwählbaren Führer. Und hier wie dort die Trias von Volk, Partei, Führer bzw. Führung.

Totale Staaten im Sinne C. Schmitts.

Bürgerliche Gesellschaft plus „totaler Staat“ führt jedoch zu keine Beseitigung des Mankos. Weder der „primären“ Natur, noch der „Sozialität“ erwächst  ein Gewinn aus einem solchen „Plus“. Ganz im Gegenteil. Durch die Ausschaltung der Marktmechanismen werden auch jene Korrektive beseitigt, die der „primären“ Natur einen gewissen Schutz vor unlimitierter Ausbeutung boten. Und so wird der „Betriebsstaat“ zur gewissermaßen dritten Potenz eines ohnehin falschen Weges. Daran ändert auch nichts, wenn der rationale Kern des „Betriebsstaates“ hier wie dort hinter dem Zauberwort „Volk“ versteckt wird.   

Volk: Der gerne gewählte Mittelpunkt der weltweit meisten Verfassungen und Politikerreden. Wehe aber, wenn es aufbegehrt. Dann entsteht sofort die Frage: Wer/was ist das Volk? Im Deutschland der Jahre nach dem ersten Weltkrieg war es die Fragen der Fragen. Wer ist das Volk? Das Volk der Menschen oder das Volk der Personen? Das „Gemeinschaftsvolk“ oder das „Gesellschaftsvolk“[73]? Was ist das Volk? Für die Ideologen des Nationalsozialismus ist es eine „Volkheit“, die sich in einem Führer personalisiert[74]. Sie ist komplettes und handlungsfähiges Volk erst, wenn der Führer „gefunden“ ist. Für die Ideologen der realsozialistischen Staaten versteht sich als Volk jener Teil der Bürger, der sich um die kommunistische Partei schart und deren Führung akklamiert. Und heute, bei uns? Was/wer ist das Volk – wer so fragt, wer danach sucht, findet erstaunlich wenig.[75]

Man könnte so sagen: „Volk“ wird hier und da zum irrationalen Deckel; hier auf dem Topf „Betriebsstaat“, dort auf dem Topf „bürgerliche Gesellschaft“. Gegen diesen Deckel legt Hegel Verwahrung ein. Wiederholt sagt er: Das Volk als Organismus, als „Naturgestalt“, ist „aufgelöst“[76]. Es existiert nur noch als „unbestimmte[s] Abstraktum …, das in der bloß allgemeinen Vorstellung Volk heißt.“[77]

Fassen wir zusammen:

Unsere Untersuchung hat ergeben, dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Stand einer „Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist“ eingefroren wurde. Es ist das Verdienst C. Schmitts, das erkannt und thematisiert zu haben. Dies allerdings in der für ihn typischen Weise, die zugleich auch zu seinem Versagen führt. Denn er füllt das richtig erkannte Defizit mit einem Staat auf, der die innerbetriebliche „Direktion“ zum Staatsprinzip erhebt.  

Hegel sieht das generelle Manko der bürgerlichen Gesellschaft hingegen in der fehlenden Verkoppelung mit der „primären“ Natur und mit der „Sozialität“. Beides steht im Zusammenhang. Die Ausbeutung der Arbeitskraft als einer Daseinsweise der „Leiblichkeit“ ist lediglich ein Spezialfall der Ausbeutung, die der „primären“ Natur widerfährt. Im doppelten Sinne fehlt es also der bürgerlichen Gesellschaft an „Staat“. Zum Nachteil der „primären“ Natur bleiben beide Naturen unvermittelt. Und zum Nachteil jener, die bloß ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, bleiben die beiden „Produktionen“ unvermittelt. Hegel würde also einwenden, dass – wenn man schon so formuliert wie C. Schmitt – „abzüglich Staat“ in diesem erweiterten Sinne verstanden werden müsste.

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  Juni 2022

 



[1] Ohne Hinweis auf die Quelle zitiert bei H. Krupa, Genossenschaftslehre und soziologischer Pluralismus, AöR 1941, S. 97 ff. In meinem Carl-Schmitt-Fundus habe ich die Stelle bislang nicht aufspüren können. Doch ich zweifle nicht daran, dass sie existiert.

[2] Dazu näher im Beitrag „Betriebsstaat“ – auf dieser Plattform.

[3] F. Engels, Von der Autorität, MEW 18, S. 305.

[4] Ebd., S. 306.

[5] § 39 R.

[6] Vgl. L (B), S. 39.

[7] Theodor Litt, Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, Heidelberg 1954, S. 180.

[8] Siehe dazu: L (S), 41.

[9] § 203/Z R.

[10] K. Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 370.

[11] Siehe § 141 R.

[12] L(W), S. 140f.

[13] L(W), S. 142.

[14] L(W), S. 143 - Hervorhebung bei H.

[15] NR, S. 437.

[16] L(B), S. 218.

[17] NR, S. 495.

[18] L (S), Vorrede von 1812.

[19] § 381/Z E.

[20] Vorrede zur 2. Auflage der E (MM 8, S. 21). Im Anschluss: „[O]bgleich sie Faktum ist, [wissen von ihr] diejenigen nichts, welche die Philosophie Identitätssystem zu nennen pflegen“.

[21] NR, S. 517.

[22] Ebd.

[23] Phän, MM 3, S.18.

[24] § 229 R.

[25] § 182/Z R.

[26] § 258/A R u. § 256/A R.

[27] Vorrede R. (MM 7, S. 15). Siehe auch § 75/A R.

[28] DS, MM 2, S. 22f.

[29] § 183 R.

[30] § 188 R.

[31] § 258/A R.

[32] § 180 R.

[33] MEW 3, S. 52 (Deutsche Ideologie).

[34] § 180/A R.

[35] § 4 R.

[36] „zunächst“ – ein Wort, das Hegel oft und immer dort gebraucht, wo er die erste Stufe des Prozesses, beschreibt. „Zunächst“ besagt: die Zwischenstation ist erreicht.

[37] § 182/Z R.

[38] K. Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 366.

[39] Metaphysik der Sitten, § B.

[40] § 29/A R – Hervorhebung bei H.

[41] Metaphysik der Sitten, § C.

[42] Ich verweise auf B. Rettig, Hegels sittlicher Staat, S. 299 ff., wo der Marx’sche Standpunkt anhand der Kategorie „konzentrierender Austausch“ ausführlich dargestellt ist.

[43] § 238 R.

[44] Siehe die juristische Beurteilung der Familie im „Palandt“- hier: Viertes Buch. Familienrecht, Einleitung 1,1) der 51. Auflage.

[45] Insoweit widerfährt der Naturkraft „Arbeit“ das gleiche Schicksal, das im Großen auch der „primären“ Natur widerfährt, der sie zugehört: sie wird Opfer eines „Austausches“ ohne Gegenleistung. (Siehe dazu: B. Rettig, Staat, Recht, Ökologie, S. 126 ff.).

[46] § 57 R.

[47] Siehe § 67 R.

[48] MEW 23, S. 189.

[49] Ein Beispiel solcher Euphorie scheint mir der Aufsatz von J. Ritter, „Person und Eigentum“ zu sein, besonders dort, wo er (auf S. 59) § 209/A R interpretiert. (J. R., Person und Eigentum, in: L. Siep (Hrsg.): Klassiker auslegen. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S. 55-72).

[50] § 35/Z R.

[51] Siehe dazu § 238 R.

[52] § 238/Z R.

[53] § 238 R.

[54] Siehe § 189 R.

[55] Siehe ebd.

[56] England beschreitet über die Fortführung seines common law einen Sonderweg, der zwar zum prinzipiell gleichen Ergebnis führt, aber dies mit einem insgesamt flexibleren Rechtssystem!

[57] § 255 R.

[58] § 381/Z E (MM 10, S. 24).

[59] Ein Begriff, den G. Lübbe-Wolff (Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 328-349) geprägt hat.

[60] Oder wie er (siehe § 408/Z E  = MM 10, S. 170f.) auch sagt: der bloßen „Verrückung“ des Standpunktes von der einen zur anderen „Bestimmtheit“.

[61] Marx, GR, S. 312f.

[62] Siehe DS (MM 2), S. 20ff.

[63] MEW 21, S. 279.

[64] § 185/A R.

[65] § 185/Z R.

[66] §§ 342 u. 358 R.

[67] Engels: MEW 21, S. 149: Nicht das zivilisierte „Rom“ führt uns in die Moderne, sondern die germanischen Völker gebieten mit ihrer scheinbaren Barbarei über das „geheimnisvolle Zaubermittel“[67], das uns an sie heranführt.

[68] In einer, v. Hallers „Restauration der Staatswissenschaften“ gewidmeten, Fußnote (MM/7, S. 402 ff.), macht er es am Beispiel deutlich: Von Haller polemisiere gegen Rousseau, aber so, indem er sich „in ein Gegenteil“ wirft und den „Vertragsstaat“ (und dessen Variante „Volksstaat“) als Macht durch die Macht der „zufällige[n] Naturgewalt“ ersetzt. Beider Standpunkt sei nicht der Standpunkt der Vernunft und des „Vernunftstaates“. Aber Rousseau steht beiden näher, weil er sieht, dass sich das „naturwüchsige“ Gemeinwesen für alle Zeiten erledigt hat, wenngleich er bei der dessen bloßer Negation stehen bleibt.

[69] § 258/A R – Hervorhebung bei H.

[70] MEW 1, S. 369 ( Zur Judenfrage).

[71] MM 1, S. 572 (Die Verfassung Deutschlands).

[72] Dazu der Beitrag „Betriebsstaat“ – auf dieser Plattform.

[73] Eine Unterscheidung, die H. Liermann trifft (H.L., Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichsstaatsrecht der Gegenwart, Berlin, Bonn 1927).

[74] Plastisch formuliert  1939 W. Schönfeld: „Volkheit“ – „worunter wir … nicht nur das Volk als Idee, sondern darüber hinaus das Volk als Person verstehen, weil wir nicht vergessen haben, dass das Wörtchen ‚heit‘ Person bedeutet.“ (W. S., Freiheit und Persönlichkeit in der Lebensordnung des Deutschen Volkes, in ZDK 5 [1939], S. 60).

[75] Z.B. F. Müller, Wer ist das Volk? Berlin 1997; W. Leisner, Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän? Berlin 2005.

[76] Dazu näher (und mit Nachweisen): B. Rettig, Hegels sittlicher Staat, S. 187 ff. In der Nachschrift Griesheim (VRph 4, S. 675) ist zu lesen: „Es ist etwas Boshaftes, so viel vom Volke zu sprechen, und die Bestimmungen des Volkes als Staat dem Volk als Menge, der Regierung gegenüber zuzuschreiben.“

[77] § 279 R.

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