Das „abstrakte Recht” – ein Recht gegen die „vorgefundene” Natur

(Warum handelt Hegels „Rechtsphilosophie” vom „abstrakten Recht”?)

Besonders Juristen tun sich schwer mit den §§ 34-104 R. Vorbehalte, Missverständnisse, Fehlinterpretationen hierzu sind bereits deshalb vorprogrammiert, weil die negative, bereits in dem „abstrakt” zum Ausdruck kommende, Grundhaltung Hegels zu jenem „römisch” geprägten Recht, wie es bis heute tonangebend ist, mit unserer positiven Sicht darauf kollidiert.

Die Frage, die sich ihm stellt, ist – jedoch nur am Rande - bereits die Frage seines Vorgängers Kant.[1] Dieser umreißt sie unter Bezug auf das AT (1. Buch Moses, Kap. 2-6) wie folgt:

Der frisch in die Welt gesetzte Mensch begegnet einem Schaf und sagt zu diesem:

„Der Pelz, den Du trägst, gehört nicht Dir, sondern mir.”

Ermuntert durch den Spruch: „mach sie dir untertan” und geschützt durch ein entsprechendes Recht, fallen wir denn auch über alles her, was „Schaf” heißt, schlimmer und (um bereits hier auf den Begriff zu kommen, um den sich alles dreht) unvernünftiger als die Wölfe.

Und was empfiehlt uns Kant und nach ihm Hegel, um diesen Grundkonflikt erträglich zu gestalten? Den vernünftigen Umgang mit den Schafen.[2] Das aber tun wir nicht; die Vernunft scheint geradezu das Letzte zu sein, dem wir gehorchen wollen. Und ein abstraktes Recht bestärkt uns in unserem Tun, denn wir wissen, dass kein Schaf der Welt, wenn es seines Pelzes beraubt wird, irgendein Gericht anrufen kann.

Eine ziemliche Lücke im sonst lückenlosen System „Rechtsstaat”.

Die Ausführungen in den §§ 34-104 R beziehen sich auf das „jüngere” Naturrecht. Und sie werden nur verständlich, wenn man weiß, dass es vor diesem ein „älteres” Naturrecht gab, von dem bereits hier zu sagen ist, dass es nicht nur weniger „abstrakt”, sondern dem „jüngeren”, dem jetzigen Naturrecht von der Grundanlage her gesehen, sogar entgegengesetzt war.

In § 33/Z R kündigt Hegel an, wie das Recht zu sehen ist. Er sagt dort, dass zum Recht nicht nur das „abstrakte” Recht gehört, sondern auch: Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte. Über die „Sittlichkeit” wiederum wird ein Staat eingeführt, der nicht nur der uns bekannte „Not- und Verstandesstaat” der bürgerlichen Gesellschaft ist, sondern der Staat beider Naturen. Und dieser Staat wiederum ist der Ausgangspunkt eines weiteren Rechts, über das die Pflicht gegenüber der anderen Natur zurückgewonnen und exekutiert wird. Weil dieser Natur nur durch Handeln auf globaler Ebene zu helfen ist, führt dieser Staat weit über den Nationalstaat hinaus, er ist insoweit Weltstaat. Darauf verweist die „Weltgeschichte”.

Auf der Basis seiner dialektischen Logik, auf die er im § 31 R ausdrücklich verweist, vergleicht er die beiden Naturrechte, setzt sie zueinander in Beziehung. Das nimmt in den §§ 34-104 seinen Anfang, setzt sich in den §§ 105-141 fort und mündet in den §§ 142-360 R in eine Synthese der beiden „Entgegengesetzten” ein.

Das neuere Naturrecht ist das Recht jener Natur, die sich gerade emanzipiert hat, die ich die „produzierte” nenne; es ist das Recht einer menschgeschaffenen Gegennatur zur „vorgefundenen Natur” (§ 39 R), also das Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Wie diese Natur, wie die bürgerliche Gesellschaft ist auch dieses Recht frei von allen Pflichten gegenüber der „vorhandenen” Natur.

War das ältere Naturrecht, da verwoben mit beiden Naturen, ein Recht, das die Pflicht enthielt, so kommt jetzt ein pflichtloses Recht auf. Wie jetzt die „primäre” Natur zum Objekt herabgestuft wird, so auch der Bestandteil „Pflicht” des bisherigen Rechts; dieser wird in das Reich der Moral, damit vom Reich des „Sein” in das Reich des bloßen „Sollens” verbannt. Man darf sich der „primären” Natur auch weiterhin „pflichtig” verhalten, aber man muss es nicht mehr. Ja, wer erfolgreich in der bürgerlichen Gesellschaft sein will, wer ihrem Zweck entsprechen will, der pfeift auf die Moralität und sieht jetzt in der anderen Natur nur noch das Objekt der Aneignung.

Abstraktes Recht:

Es heißt so, weil eine „Austauschung”[3] stattfindet, weil ein gesamtheitliches („naturpflichtiges”) Recht durch das Recht nur eines Teils ersetzt wird.

„Es heißt so, weil seine Bestimmungen den Menschen nur als das vollkommen ‚abstrakte Subjekt‘ – Hegel sagt: als Person - erfassen.”[4]

Es heißt so, weil es „Naturbeherrschungsrecht” ist.[5]

Das „abstrakte Recht” markiert einen geschichtlichen Wendepunkt: Etwas, das sich auf zwei Naturen bezog, etwas, das deren Einheit exekutierte, ist nun nur einer Natur zugeordnet, der „produzierten”. Weil abgekoppelt von der Pflicht gegenüber der „primären” Natur, bezeichnet Hegel es, im Unterschied zum früheren (unbeschränkten = sittlichen” Recht), als das „beschränkte juristische Recht”[6]. Aber dieses „beschränkte” Recht macht das Rennen. Es findet in Deutschland tüchtige philosophische Helfer, voran I. Kant. Deswegen wendet sich Hegel explizit gegen dessen Rechtslehre, weil diese im Wesentlichen „eine negative Bestimmung”[7] des Rechts enthält, eine solche also die Partei nur für die eine, auch in Deutschland vor der Tür stehende, Natur, für die „produzierte”, Partei ergreift. Damit steht Kant im Lager derer, die die Rechtswissenschaft zur Naturwissenschaft erklärt haben – wobei mit „Natur” die „produzierte” Natur gemeint ist. Aber sie ist jetzt, gerade jetzt, „ein Teil der Philosophie”, wie er im § 2 R. hervorhebt.

Was ändert sich, wenn die Pflicht aus dem Weg geräumt ist?

N. Luhmann sieht es so: Ursprünglich verstand sich das Recht als die Einheit von subjektivem Recht und („subjektiver”) Pflicht. Oder wie stattdessen gesagt werden kann: als „Einheitsrecht” im Sinne von „Nomos”, entstanden aus der Vermittlung der Gesetze beider Naturen. Dem Recht, die „primäre” Natur anzueignen, stand die Pflicht gegenüber, dies naturverträglich zu tun. Daran knüpft er folgende Überlegung: eine Einheit, hier: die Einheit „Recht”, ist ein Paradoxon, wenn sie sich nicht auf ein „Entgegengesetztes” bezieht. Denn wie Hegel sagt: „Wären auf einer Seite alle Rechte, auf der anderen alle Pflichten, so würde das Ganze sich auflösen.”[8] Wie aber ist die Einheit herzustellen, wie ist sie überhaupt zu begründen, wenn – wie jetzt – die „primäre” Natur als Rechtsubjekt weggefallen und zum bloßen Objekt geworden ist? Luhmanns Antwort[9]: Um weiterhin der Logik zu genügen, setzt ein Vorgang der „Entparadoxierung” ein. Für das ehemals auf die „primäre” Natur entfallende Recht wird innerhalb der „produzierten” Natur eine Ersatzgröße gesucht und im „Unrecht” gefunden. Recht versteht sich nun als die Einheit von subjektivem Recht und subjektivem Unrecht; es ist damit, reduziert um die (frühere) Pflicht, vollständig in die „produzierte” Natur verlagert. Luhmann spricht von der Schaffung einer Schein-Differenz, die, zum „Code” gemacht, Ausgangspunkt für Programme wird, die mit Positionen und Gegenpositionen hantieren, „ohne die Frage nach der Einheit des Codes zu stellen.”[10] Was außerhalb liegt wird ausgeblendet. Der Code schafft damit eine Totalität, aber eine unechte.

Die Relation Recht – Unrecht war auch dem älteren Naturrecht bekannt. Ihr Schwerpunkt lag damals jedoch auf dem Stoffwechselprozess von Natur zu Natur. Jetzt aber bezieht sie sich auf den Warenaustausch innerhalb der „produzierten” Natur. Dieser jetzt andere Bezugspunkt erfordert eine Neuinterpretation der „Einheit”.

 

Wird das 16. Jahrhundert noch von der „alten” Einheit dominiert, so haben wir 100 Jahre später eine völlig andere Sach- wie „Theorielage”. Der – aus der Sicht derer, die die „primäre” Natur ausbeuten - „unfreie” Zustand ist beseitigt. Die „Belastung” des Vorgangs mit der „Pflicht” ist „vom Tisch”. In England bereits in der Praxis, auf dem Kontinent vorerst nur theoretisch.

Die Aneignung, der Stoffwechselprozess, ist von der Pflicht befreit. Freiheit!

Der Schwenk von der bisherigen „Einheitsnatur” zur „produzierten” Natur ist vollzogen. Damit: der Schwenk von der Einheit zweier „Entgegengesetzter” zu einem dieser „Entgegengesetzten”. Er bringt das Aus für das „Einheitsrecht”. Dieses ist nun nicht mehr zeitgemäß; es genügt der „Freiheit” der jetzt tonangebenden Natur nicht, die darin besteht, gegenüber der anderen Natur ein unbeschränktes, mithin: pflichtloses, Aneignungsrecht zu haben. In zwei Schritten, im „Zweischrittverfahren” wie Luhmann[11] sagt, wird das Recht daher jetzt der „völlig anderen Theorielage” angepasst. Im ersten Schritt wird es von der Pflicht getrennt, besser wohl: von ihr befreit. Damit ist das Recht als „Einheit” (von Recht und Pflicht) zerstört. Aus der Sicht des „Zeitzeugen” Jeremy Taylor (auf den Luhmann sich bezieht) führt das dazu, dass das bisherige „law” in „rights” zerfällt. Da die „rights” pflichtlose Rechte sind, ist damit im Englischen bereits begrifflich der Unterschied zwischen dem früheren und dem jetzigen Recht deutlich gemacht. Im Deutschen ist diese Unterscheidung unbekannt, ein Grund für Hegel, den Unterschied im Begriffspaar Sittlichkeit – Recht auszudrücken. Mit diesen „rights”, mit diesen „abstrakten” Rechten ist ein neues „Anfangsdatum” (Luhmann), ein neuer „Anfangspunkt” (Hegel) gesetzt. Aber eben nur ein „Anfangspunkt”! Wird dieser zugleich zum Endpunkt gemacht, ist nur jene „moderne Halbheit” gewonnen, die wir nun allzu gern als „letztes Resultat” der Wahrheit ansehen.[12]

Das „pflichtlose” Recht ist uns als das „subjektive” Recht bekannt. Das ursprüngliche „Einheitsrecht”, - das „law” – ist nun ersetzt durch die „rights”, durch die subjektiven, „pflichtlosen”, unvermittelten Rechte, also durch Rechte, „denen alle wesentlichen Momente des Rechtes fehlen.”[13] Sie sind das Paradoxon, von dem bereits die Rede war und die über die Ersatzgröße „Unrecht” entparodoxiert werden. Recht versteht sich durch diese „Umkontextierung”[14] nun wieder als Einheit. Diesmal als Einheit von subjektivem Recht und subjektivem Unrecht. Die Schein-Differenz ist zum „Code” gemacht. Bereits im 18. Jahrhundert ist dieser Vorgang abgeschlossen. Die Spuren sind bereits verwischt. Der Weg vom Recht (law) zu den Rechten (rights) ist unkenntlich gemacht, scheint von einem „Schwarzen Loch”[15] geschluckt zu sein.

Das Paradoxon „abstraktes” Recht ist „verschlüsselt und so entparadoxiert.”[16] Es scheint so, als sei nun der „Not- und Verstandesstaat” der bürgerlichen Gesellschaft Schöpfer echten (objektiven) Rechts, obwohl er nichts anders tut, als für die Gesellschaftsmitglieder und an deren Stelle subjektives, also „abstraktes” Recht in die Welt zu setzen. Er wird tätig also nur für diese Natur und deren Mitglieder und damit – ihrem Zweck gehorchend - gegen die „primäre” Natur.

Das „abstrakte Recht” bezeichnet einen – wie Luhmann formuliert - „Rechtsbegriff gegen den Begriff der Gerechtigkeit”, bezeichnet ein einseitiges, ein unvollständiges, ein „halbes” Recht, ein Recht, das von der „Einheit” zur Einseitigkeit übergewechselt ist. War das frühere Recht als Recht beider Naturen aus der „Einheit” gewonnen, so ist das Recht jetzt „auf die negative Weise, wie sie häufig auch bei Platon erscheint”[17] als das Recht bloß der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mitglieder aus einer der von der „Einheit” überlagerten „Entgegengesetzten” abgeleitet. Das Recht der anderen Natur ist damit aus dem jetzt gültigen Rechtsbegriff ausgelagert[18] und findet sich jetzt, herabgestuft zum bloßen Sollen, in der Morallehre wider. Dieser Auflösung des „Einheitsrechts” zum Nachteil der „primären” Natur, dieser „modernen Halbheit”[19], setzt Hegel ein neues „sittliches”, auf die „Vernunft” gegründetes, „Einheitsrecht” entgegen.



[1] Siehe sein Aufsatz „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte” von 1786!

[2] Die Wölfe sind von ihrer Natur über den Instinkt zu einem „vernünftigen” Umgang mit ihren Beutetieren angehalten. Der Mensch hat sich von solchen Instinkten frei gemacht. Ohne aber sehen zu wollen, dass zur jetzigen Freiheit ein vernünftigen Handeln gehört.

[3] Wie es Marianne Weber (Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin, Tübingen 1900, S. 6) beschrieben hat: Die Individuen entäußern sich all ihrer ursprünglichen natürlichen Rechte, um sie gegen „die bürgerlichen Rechte … einzutauschen.”

[4] T. Litt, Hegel, Heidelberg 1953, S. 110.

[5] Wie A. Hollerbach (Der Rechtsgedanke bei Schelling, Frankfurt a.M. 1957, S. 114) unter Bezug auf Schellings Naturrechtsschrift von 1797 formuliert.

[6] § 486 E.

[7] § 29/A R.

[8] § 155/Z R.

[9] mit der er die „Begriffsentlarvung” Schellings (vgl. A. Hollerbach, a.a.O.) wiederholt!

[10] N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1985, S. 77 – Hervorhebung bei N.L.

[11] Ebd., S. 136.

[12] § 31/A R.

[13] N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, a.a.O., S. 139.

[14] Ders., Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewusstseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 64.

[15] Ders., Die Theorie der Ordnung, RJ 3 (1984), S. 149.

[16] Ebd., S. 139.

[17] § 31/A R.

[18] V. Hösle (Philosophie der ökologischen Krise, München 1994, 2.Aufl., S. 33): „Die Natur gilt in der neuzeitlichen Rechtsphilosophie allgemein als rechtlos.”

[19] § 31/A R.

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