Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen

Unfertige Bemerkungen zu Wesen und Wesenslogik

Die „Wesenslogik” gehört zum Kern der Philosophie Hegels. Weil dort das zentrale Thema der Dialektik, die Einheit der Gegensätze behandelt sei, ist sie für F. Engels[1] der „weitaus bedeutendste Teil seiner ‚Logik‘”. Viele Hegelinterpreten der Gegenwart teilen diese Einschätzung. Und sie trifft ja auch zu. Gleichwohl fällt bei einer Sichtung der gewaltigen Masse an Publikationen, die seiner Philosophie gewidmet sind, ins Auge, dass die Arbeiten zur Wesenslogik nur einen geringen Teil dieser Masse ausmachen, ja, dass die Wesenslogik geradezu stiefmütterlich behandelt wird. Und nicht selten erweckt deren Lektüre beim Leser eine ungute Lust, dem jeweiligen Autor oder sich selbst nachzusagen, er habe sich an diesem Gegenstand überhoben.

Dass die „Wesenslogik” der schwerste Teil seiner Logik ist, räumt auch Hegel[2] ein. Das mag jene Autoren und deren Leser ein wenig trösten. Und da kein Weg an ihr vorbei führt, ist es bei gegebener Sachlage noch immer das Beste, man wendet sich an Hegel selbst.

Die Wesenslogik. Kniet man sich in die Materie hinein und gelingt es, den Zugang zu ihr zu gewinnen, kommen uns folgende Gegenstände, Fragen und Begriffe in den Blick:

-          Sie steht „zwischen der Lehre vom Sein und der vom Begriff”.[3]

-          Sie behandelt die „Bewegung des Übergehens in Entgegengesetzte, des sich Aufhebens und des Zurückgehens in die Einheit”[4].

-          Sie hat ein Sein zum Gegenstand, das „gestaltlos”, das aus einem „unmittelbaren” zu einem „mittelbaren” Sein geworden ist.

-          Sie bezieht sich auf den Komplex, der das Verhältnis des Ganzen und der Teilen behandelt.

-          Ihre zentralen Begriffe sind: „relative Totalität”, „Vermittlung”, „Kraft”, „Aufhebung”.

Entsprechend charakterisiert er eingangs der „Wesenslogik”[5] das Wesen; dieses ist:

a)      „gestaltloses” Sein;

b)       die Mitte zwischen Sein und Begriff;

c)      seine Bewegung ist die des Übergehens „in den Begriff”[6].

Die Schlussfolgerung aus dem Bisherigen:

Das Wesen steht für eine dritte, für eine „mittelbare”, unkörperliche, wenn man so will: unvollständige Art von Sein. „Unmittelbarkeit” bzw. „Vollständigkeit” gewinnt dieses Sein nur über das Denken, über das Bewusstsein. Darüber wird dieses „gestaltlose” Sein zu einer Sonderform des Seins, zur Institution komplettiert. Als Institution ist dieses Sein „begriffenes” Wesen und als solches „Vernunftgestalt”.

Die Entdeckung des Wesens als einer Form des Seins ist also das Neue an der Philosophie Hegels. An die Adresse der bisherigen Philosophien gerichtet, schreibt er: Ihnen gelingt es nicht, „in den Dingen ein Bleibendes” zu sehen – „und dies ist zunächst das Wesen.”[7]

Das auf sein „Wesentliches” reduzierte Gemeinwesen wird zum Hauptgegenstand seiner praktischen Philosophie. In der Wesenslogik führt er an ihn heran.

Gehen wir zunächst auf den von Hegel immer wieder betonten Aspekt ein, dass die Wesenslogik in der Mitte, dass sie zwischen Seins- und Begriffslogik steht.

Diese Mittelstellung ergibt sich, weil ja auch das „Wesen” in der Mitte, zwischen Sein und Bewusstsein, steht. An sich wäre es zwar möglich, es sowohl mittels der Seins-Logik, als auch mittels der Begriffslogik zu erschließen. Aber versucht man, sich ihm auf diese Weise zu nähern, läuft man – wie Hegel anhand bisheriger Philosophien zeigt - rasch Gefahr, es als eigenständige Größe, und damit: in seiner Bedeutung, zu verkennen.[8] Denn aus der Sicht des Seins haben wir es mit einem aufgehobenen Sein zu tun, mit einem Sein also, das sich einer am Gegenständlichen orientierenden Seins-Logik entzieht. Aber ebenso entzieht sich dieses aufgehobene Sein der Begriffs-Logik. Beide „Logiken” sind blind für dieses spezifische Sein. Noch dazu, weil – wie wir noch sehen werden – aus der „Aufhebung” ein (neues) Sein hervorgeht, das, seins- und begriffslogisch gesehen, nichts gemein mit der Ausgangsgröße zu haben scheint. Seins- und Begriffslogik stehen gewissermaßen am Anfang und am Ende eines Prozesses, erfassen Ausgangs- und Endprodukt, erfassen hingegen nicht den Prozess der Umwandlung des Einen in das Andere. Um es auf den Punkt zu bringen: Nur die Wesenslogik stellt sicher, dass im Resultat der Aufhebung auch das erkannt wird, „woraus es resultiert”[9] Das Alte und das Neue bleibt unverbunden; es wird übersehen, dass das Neue nur das „reichere” Alte ist. Und zwar ist das Neue „reicher” geworden, weil ein „Entgegengesetztes” hinzugekommen ist.[10]

Wo für Hegel das „Wesen” steht, steht für jene Philosophien, die an Aristoteles anknüpfen, das „Nichts”. Über Jahrhunderte war es so, dass von dort her das „Ganze” über die „primäre” Natur definiert wurde. Das war möglich und hinreichend richtig genug, weil diese Natur damals federführend war und die noch junge und in den Anfängen steckende „produzierte” Natur noch ganz in ihrem Schatten steht. Es bestand eine „Personalunion” zwischen dem „Ganzen und der „primären” Natur, die einmal von der „ganzheitlichen” Philosophie Platos und zum anderen von der Philosophie des Aristoteles reflektiert wird. Jetzt, mit dem Bruch des „naturwüchsigen Gemeinwesens”, scheint das „Ganze” ein für alle mal aus der Welt zu sein. Es scheint so, als löse es sich in zwei Naturen auf, von denen die eine, die „produzierte”, jetzt das Sagen hat. Mathematisch gesehen, scheint eine bloße Umkehrung vorzuliegen, die sich (weiterhin) mit der aristotelischen Logik erfassen lässt.

Das sieht Hegel anders. Etwas Grundlegendes ist geschehen. Die „Personalunion” der „primären” Natur mit dem Ganzen ist beendet. Das nach biologischen Gesetzen zu beurteilende, auf „Blut-und-Boden” gestützte, „Naturganze” tritt aus dem Leben und macht einem „Ganzen” Platz, das nach den Gesetzen der Logik zu beurteilen ist. Etwas Neues, Einmaliges entsteht. Wir erleben die Geburt des „wesentlichen Verhältnisses”[11]. Das klingt zunächst einmal nicht sonderlich spannend, ist aber von höchster Bedeutung für die Philosophie und noch mehr für die Praxis.

Das in die Welt getretene „wesentliche Verhältnis” wird von der aristotelisch geprägten Philosophie nur als eine Umkehrung des Verhältnisses der beiden Naturen zueinander reflektiert. Statt Vorherrschaft der einen, jetzt Vorherrschaft der anderen Natur. Oder so gesagt: das frühere „Naturganze” wird jetzt nur anders definiert, nämlich von der „produzierten” Natur aus. Eine bloße Umkehrung. Dagegen wendet sich Hegel. Was die Philosophen der Aufklärung feiern: diese Befreiung, diese Ablösung der „produzierten” Natur vom Gängelband der „primären” Natur und ihre Gestaltwerdung zur bürgerlichen Gesellschaft, ist für ihn ein hoch problematischer Vorgang. Käme doch mit der „produzierten” eine Natur zur Herrschaft, deren Ziel es ist, sich die andere Natur untertan zu machen, sie als bloßes Baumaterial zu nutzen. Eine Natur, die keine Grenze kennt und anerkennt, die unersättlich, die maßlos ist. Eine Natur, die ihr Gegenüber negiert – und damit auch das Ganze -, weil sie sich selbst für das Ganze hält. Freilich kann jetzt die „produzierte” Natur richtig durchstarten. Freilich kann sie ihren Mitgliedern, vor allen einigen Wenigen, materielles „Glück” in bisher unbekanntem Ausmaß bieten. Aber doch nur auf Kosten jener Natur, von der letzten Endes alles Weitere abhängt – auch die eigene Existenz. Deshalb: keine bloße Umkehrung! Käme es dazu und bliebe es bei ihr auf Dauer, wäre sie der direkte Weg in die Katastrophe.

Seine Erkenntnis:

Jede Form der „Personalunion” eines Teils mit dem Ganzen endet jetzt. Vom Tatsächlichen her bedeutet das: „Es sind zwei Totalitäten … entstanden”, die „zunächst … als gleichgültige Selbständige gegeneinander bestimmt” sind.[12] Sie sind die zwei „entgegengesetzten Weisen der sittlichen Substanz”[13] Der Gegensatz aber, in dem sie zueinander stehen erfordert, dass sie sich zueinander „verhalten”. Das führt uns zum „wesentlichen Verhältnis”. Hegel bezeichnet es als die „Wahrheit” der beiden Totalitäten. Das wesentliche Verhältnis „ist zwar noch nicht das wahrhafte dritte zum Wesen und zur Existenz, aber enthält bereits die bestimmte Vereinigung beider.”[14]

Am Ziel sind wir also noch immer nicht. Das wesentliche Verhältnis stellt sich von selbst her und zeigt auch Wirkung. Aber es ist ein untergründiges Wirken, das Wirken einer „unsichtbaren Hand”. Die Folgen zeigen sich erst im Nachhinein, als Folge bereits in die Tat umgesetzter Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen, als irreversibler Schaden. Insoweit ist das wesentliche Verhältnis also selbst bereits eine Totalität jenseits der Teile, es ist „die Einheit seiner selbst und seines Anderen, also Ganzes”, es ist „daher unmittelbar das Verhältnis des Ganzen und der Teile.”[15]

Noch ist das Wesen nicht begriffen. Dahin aber muss es kommen: Zum Begreifen. Zum Bewusstwerden. Denn die „Bewegung des Wesens ist … das Werden zum Begriff.”[16] Hier greift das Wesen als Sein also auf die andere Seite, auf das Bewusstsein, über. Wir selbst sind gefordert. Wir müssen dazu beitragen, dass dieses „halbe” Sein zu einem spezifischen Sein, zur menschgeschaffenen Institution, zur „Vernunftgestalt” komplettiert wird.

Unsere Pflicht ist es also, das Wesen als diese „Gestalt” zu erkennen und es als „Institution” in die Praxis zu überführen. Als zur „Vernunftgestalt” gebrachtes Wesen nimmt die Institution, die Institution „Staat”, aktiv Einfluss auf das Verhältnis der beiden Naturen zueinander. Der Begriff, den Hegel dafür bereit hält, ist der der „Vermittlung”. Das Gegeneinander der beiden Naturen wird „vermittelt”. Da es vor allem die Maßlosigkeit der „produzierten” Natur ist, die den Bestand der „primären” Natur und damit aller Natur untergräbt, richtet sich das „Vermitteln” besonders gegen sie. Es kostet „Kraft”, ihren Tatendrang in eine naturverträgliche Richtung zu lenken, ihrer Maßlosigkeit Grenzen zu setzen. Diese „Kraft” muss die „Vernunftgestalt entfalten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Hegel bezeichnet daher die „Vermittlung” als das „Verhältnis der Kraft”[17].

Bei dieser Aufgabenstellung erklärt sich, dass wir die „Vernunftgestalt” bisher nicht haben. Sie passt nicht in unser anthropozentrisches, gegen die „primäre” Natur gerichtetes Weltbild. Gerade wir, in den entwickelten Teilen der weltbürgerlichen Gesellschaft, sperren uns gegen sie. Denn sie würde dem Raubbau an der Natur ein Ende setzen, aus dem jeder von uns, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, Nutzen zieht. „Macht sie euch untertan” – wir haben uns, gestützt auf die Bibel wie auf die Philosophie der Aufklärung, für die bloße „Umkehrung” entschieden. Und wir sind nicht bereit davon abzulassen, weil wir wissen, dass unsere jetzige Lebensweise daran hängt.

***

Hegels Wirken fällt in eine „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode”[18]. Überall, auch in Deutschland, vollzieht sich ein einzigartiges Geschehnis: der „Bruch” des „naturwüchsigen” Gemeinwesens. Er führt zum endgültigen Aus des „Heiligen römischen Reichs deutscher Nation”. Spät genug, denn anderswo ist das alte, auf „Blut und Boden” gestützte, Gemeinwesen längst durch die bürgerliche Gesellschaft ersetzt. In England vollzog sich das auf eine pragmatische, langgestreckte, wenig „philosophische” Art und Weise, in Frankreich auf der Grundlage einer ungenügenden Philosophie und per Revolution. Deutschland verspätet sich. Der einzige Vorteil daraus erwächst der Philosophie. Sie ist hier, aus der Ferne wie aus dem Rückstand heraus, in die Lage versetzt, dieses welthistorische Ereignis anhand der ersten praktischen Resultate wahrhafter zu reflektieren als dies in den Pionierländern geschah und geschieht. Kant, Fichte, Schelling gehen voran. Aber wie Hegel erkennt: ihre Beiträge reichen nicht aus, um das Wesen des sich bahnbrechenden Neuen zu erfassen. Am Beispiel seines Jugendfreundes Schelling: Dieser sieht wohl, dass die Bestandteile des ehemaligen Ganzen, die beiden Naturen, jetzt Teile, „Totalitäten”, und damit „Entgegengesetzte” geworden sind. Bei Übergewicht der „produzierten” Natur über die „primäre” Natur. Dieses Übergewicht ist problematisch, weswegen der Freund hier Korrekturbedarf zugunsten der „primären” Natur sieht. Aber weil ihm das (neue) Ganze nicht in den Blick kommt, bleibt er in der bloßen Umkehrung des Verhältnisses stecken.

Das Neue der neuen Zeit: Sie beendet die Vorherrschaft der „primären” Natur. Die „produzierte” Natur, die bislang in ihrem Schatten stand, wird frei. „Freiheit! So weit so gut. Hoch problematisch aber der weitere Schluss, den die Philosophen der Aufklärung ziehen (und der sich mit der Selbstbewegung dieser Natur deckt): dass jetzt sie die Herrschaft übernimmt. Eine längst fällige Verschiebung der Gewichte. Eine Umkehrung im Rahmen einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die, logisch gesehen, durchaus den Regeln der aristotelischen Logik folgt. Hegel sieht es anders. Ein biologisches „Ganzes”, ein „Organismus”, ist zerfallen. Was zunächst vorhanden ist und über tausende von Jahren vorhält ist eine Totalität mit unselbständigen Bestandteilen. Jetzt konstituieren sich diese Bestandteile zu zwei qualitativ verschiedenen und selbständigen Naturen. Die Bestandteile sind Teile geworden. Vor Hegels Augen hat sich die eine Welt, ein biologisch zu beurteilender „Organismus”, in einen Zusammenhang des „Ganzen” und der „Teile” umgewandelt, der nicht „biologisch”, sondern „logisch” zu erfassen ist. Ein Sprung, der sich einer zweidimensionalen Logik, der sich dem bloß kausalen Denken entzieht. Und die Biologie, wie die anderen Naturwissenschaften auch, ist eine „Kausal-Wissenschaft”, die im Auftrag der „produzierten” Natur der anderen Natur ihre Geheimnisse „abzulisten” hat. Der jetzige Zusammenhang des Ganzen und der Teile entzieht sich diesem Denken. Was jetzt not tut ist eine dreidimensionale, eine dialektische Logik. Sie steht nicht im Dienste der einen oder anderen Natur. Sie ist insoweit unparteiisch; ihr kommen alle drei Glieder in den Blick: die Teile und das Ganze.

Anmerkung:

Dieser Übergang vom biologisch zum logisch zu erfassenden Zusammenhang zeigt sich auf den verschiedenen Ebenen des Begriffs nicht in gleicher Weise und Deutlichkeit. Auf der Ebene des Allgemeinen, also der von „Staat” und „Gesellschaft”, wird der Übergang vom „Organismus” zum „wesentlichen Verhältnis” am deutlichsten. Nicht so auf den Ebenen der „Besonderheit” (der Familie) und der „Einzelheit” (des Individuums). Hier stößt der Zerfall des „Organismus” auf handfeste biologische Gegebenheiten: So beruht die Familie auf Frau und Mann; nur beide zusammen erzeugen die Kinder. Und wie sollte das Individuum „Mensch” zerfallen können, ohne dass dessen physischer Tod einträte? Für das zweidimensionale Denken liegt hierin der Beweis, dass nur eine Umkehrung der früheren Verhältnisse in Frage kommen kann. Statt feudale „Wirtschaftsfamilie” jetzt die bürgerliche Kleinfamilie. Statt des Daseins als Sklave jetzt ein Dasein als „Person”. Statt des feudalen Gemeinwesens jetzt die bürgerliche Gesellschaft. Wir werden noch Gelegenheit haben zu zeigen[19], dass für Hegel der „Bruch”, der Zerfall des früher Einheitlichen in zwei Entgegengesetzte, sich unabhängig von diesen biologischen Gegebenheiten (die er nicht ignoriert!) auf allen drei Ebenen vollzieht, also allgemeingültig ist.

 

Die Schlussfolgerung, die Hegel über Kant, Fichte und Schelling hinausführt:

Jede Vorherrschaft, sowohl der einen wie der anderen Natur, findet jetzt ein Ende. Die jetzige Freiheit der „produzierten” Natur darf nicht zur Unfreiheit der „primären” Natur führen. Keine weitere „Personalunion”! Hegel rückt ins Licht, was die drei Genannten trotz ihrer Kritik an der Aufklärung nicht oder doch nur im Ansatz erkannt haben: Dieses neue, den Gesetzen der Logik unterworfene Verhältnis des Ganzen und der Teile. Es besitzt ebenso Materialität wie die untergegangene „Personalunion”. Damit geht er über sie hinaus. Aber auch er wird noch bis zum Jahre 1813 brauchen, ehe er es auf den Punkt zu bringen vermag und formuliert: „Das Ganze ist das Selbständige, die Teile sind nur Momente dieser Einheit; aber ebensosehr sind sie auch das Selbständige, und ihre reflektierte Einheit ist nur ein Moment, und jeder in seiner Selbständigkeit schlechthin das Relative eines Anderen.”[20]

Eine neue Konstellation, eine neue, nie da gewesene, Gestalt leitet sich daraus ab: die „Vernunftgestalt”. Sie verbindet sich mit einem weiteren Zentralbegriff der Hegelschen Philosophie, mit dem Begriff der „relativen Totalität”.

In einer Zeit als die „produzierte” Natur als das Nonplusultra, als die eigentlich menschliche Natur angesehen wird, erntet Hegel keinen Dank für seine Erkenntnisse. Bald wird die Mehrheit seiner Kollegen ihn zum Apologeten des Alten erklären, obwohl es genau umgekehrt ist und sie es sind, die zu Apologeten der „produzierten” Natur werden. Sie halten ihm vor, dass er sich in einer Zeit, in der Parteinahme für die „produzierte” Natur, in einer Zeit, in der es angezeigt wäre, Philosophie als Naturwissenschaft zu betreiben, er sich im Metaphysischen herumtreibt. Und gerade hier, bei „Wesen” und „Wesenslogik”, „ertappen” sie ihn, hier sieht es für sie so aus, als bewege sich Hegel vollends im luftleeren Raum, als verliere er hier jegliche „Bodenhaftung” zur Realität.[21]

Aber Hegel bleibt dabei:

Ein Teil kann nicht das Ganze sein. Und ein Teil allein kann nicht für sich existieren. Es ist Teil, weil ihm ein anderes Teil gegenüber steht. Und die Logik sagt uns: keine Teile ohne ein Ganzes!

Ob vom Teil oder vom Ganzen ausgegangen wird: Die Perspektive ist je eine völlig andere. Einmal kommt uns die neu ins Leben getretene bürgerliche Gesellschaft als „Alleinerbe” des „Gemeinwesens” in den Blick. Die parteiische Sichtweise der Aufklärung. Dieser Natur und ihren Segnungen, darunter Freiheit, Fortschritt und (materielles) Glück, gilt ihre Sympathie. Und so wird alle Natur jetzt stillschweigend von dorther begriffen. Damit ist die „produzierte” Natur unter sich; sie ist mit sich und ihrem Innenleben allein. Die andere, die „primäre” Natur, ist ausgeblendet, sie wird insgesamt und in allen einzelnen Bereichen zum Gegenüber. Sie ist jetzt entsubjektiviert, sie ist als „Herrenloses” zum Objekt gemacht. Dieser verengten Sichtweise tritt Hegel entgegen.

Richtig ist: die neue Zeit ist die Stunde der „produzierten” Natur. Sie wird frei. Aber sie wird nur relativ frei, nämlich im Rahmen des Ganzen. Und schon gar nicht ist sie selbst das Ganze, auch wenn sie sich als solches geriert und empirische Befunde dafür sprechen. Das ist ein Schein! Ein sehr bald liebgewordener Schein, zu dem nicht passt, dass jetzt zwei gleichberechtigte Naturen in der Welt sind. Hegel kämpft gegen ihn an. Die Freiheit dieser Natur ist nicht grenzenlos. Sie findet vielmehr in der Freiheit der anderen Natur ihre Grenze.

Zwei „Entgegengesetzte” stehen sich gegenüber, die nach den Grundsätzen der Logik der „Vermittlung” bedürfen. „Vermittlung” bedeutet Begrenzung, bedeutet Einschränkung der Freiheit auf ein Maß, das das Ganze nicht in Gefahr bringt. Klarer Fall: das richtet sich gegen die Interessen der „produzierten” Natur. Und so sorgt sie dafür, dass statt „Vermittlung” sich eine Beziehung durchsetzt, die der einer Über- und Unterordnung nahesteht.[22] Die Folge: unter dem Dach „bürgerliche Gesellschaft” wird die „primäre” Natur als bloßes Objekt behandelt.

Es geht um die Verbindung des Ganzen mit den Teilen. Es geht um die Beziehung zwischen Größen, die bisher beziehungslos zu sein schienen. Anhand von Personen gesehen: Wesen und Wesenslogik  führen den vom Ganzen bestimmten Ansatz Platons mit den von den Teilen bestimmten Ansatz Aristoteles‘ zusammen. Sie widerlegen die Ansicht, dass zwischen dem Ganzen und den Teilen eine chinesische Mauer steht. Auch jetzt, wo die bislang im „Ganzen” eingeschlossenen Bestandteile „Totalität” gewinnen und als eigenständige Naturen hervortreten, besonders sichtbar: die „produzierte”, bleibt das „Ganze” erhalten, wird nicht zu Nichts oder, wie Kant meint, zum himmlischen „Ding an sich”. Die neuen Totalitäten bleiben dem Ganzen verhaftet. Ihre Totalität ist deshalb nur „relativ” – wie auch die jetzige Totalität des „Ganzen”. Damit ist das „Ding an sich” irdisch gemacht und zugleich mit den anderen irdischen Größen, mit den Teilen, verknüpft.

Während Kant nur den sinnlich wahrnehmbaren Teil beider Naturen als „Sein” akzeptiert und den untergründigen „Rest” zum „Ding an sich” erklärt, macht es sich Hegel zur Aufgabe, diesen „Rest” als eine Form des Seins sichtbar zu machen.[23] Gewissermaßen ein „Lückenschluss”.[24] Seine  dreidimensionale Sicht bringt zwei sich gegenüberstehende Naturen ans Licht, die in einer dritten, in einer „Einheits-Natur”, eingebettet und vermittelt sind. Diese ist als Vernunftgestalt „enthüllte Wahrheit”[25]. W. Dilthey kritisiert daran: „So entsteht der Panlogismus Hegels, welcher dem Gedanken der Begreiflichkeit der Welt die wahre Natur des Wirklichen und der Wissenschaften rücksichtslos opfert.”[26] Aber Hegel bleibt dabei: Beim „Ding an sich” kann man nicht stehenbleiben. Es bezeichnet ein Unsichtbar-Materielles, das sichtbar zu machen ist. Und das gelingt ihm auch. Über die Wesenslogik zeigt er eine Wirklichkeit auf, die bis dahin nicht gesehen wurde.[27] Auch wir Heutigen könnten sie selbstverständlich sehen. Am Intellekt fehlt es uns nicht. Jedoch am Willen - und nicht zuletzt deshalb, weil uns die von der „produzierten” Natur ausgehenden „Sachzwänge” für sie „betriebsblind” gemacht haben.

Das Wesen ist „gestaltlos” gewordenes Sein. Die alte Gestalt ist von der Entwicklung überholt, sie ist von ihr „negiert” worden. Misst man an der Gestalt, ist das Sein damit zu „Nichts” geworden. Tatsächlich aber lebt es fort; es ist nicht zu „Nichts”, sondern nur unsichtbar geworden. Es ist nur in einen anderen „Aggregatszustand” übergegangen: Aus dem der Unmittelbarkeit und des Sichtbaren in den der Mittelbarkeit und des Unsichtbaren. Und auch dabei bleibt es nicht. So wie es aus dem Sein fortgegangen und Mittelbares geworden ist, strebt es nun danach, wieder Unmittelbarkeit zu erlangen[28], strebt einer neuen Gestalt zu. Das Gegenwärtige ist also nur ein Zwischenzustand, ein Zustand des „Übergehens” von einer zur anderen Gestalt. Eine Aufhebung ist im Gange, die nicht das Alte wiederherstellt, sondern zu etwas Neuem führt.

Die frühere, jetzt „negierte”, Gestalt war eine „Naturgestalt”, die sich, als „naturwüchsiges Gemeinwesen”, von selbst, ohne unser Zutun, herstellte und wirkte. Damit ist nun Schluss. Die Natur hat den Stab an uns, an unser Denken und Handeln, weitergegeben. Wir sind aufgefordert, dieses gestaltlos gewordene Sein in eine neue, zeitgemäße, in die „begriffene”, in die „Vernunftgestalt” zu überführen. Eine Aufgabe, die bereits in jenem Deutschland ansteht, in das Hegel hineingeboren wird. Sein wissenschaftliches Anliegen daher: dieses zunächst nur „gestaltlos” Existierende als Gestalt, diesmal als die „weltliche” Gestalt[29] der Vernunft zu zeigen – was heißt: als Staat. Denn „gestaltlos” kann es nicht bleiben; es muss „erscheinen”[30]. Dennoch, Praxis geworden ist seine Erkenntnis bis heute nicht. Wir stehen vor einer zeitlichen Lücke zwischen dem Untergang der „Naturgestalt” und dem Finden und Installieren der „Vernunftgestalt”. Ein Interregnum, das Hegel mit der „Idee”, hier: mit der „Idee des Ganzen”, überbrückt. Sie fungiert als Platzhalter der „Vernunftgestalt”. Sie „erinnert”[31] an die Aufgabe, sie zu finden und zu installieren. Gemäß dem Spruch, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, ist uns hierfür eine Überlegungsfrist eingeräumt.

Aber doch nicht 250 Jahre! Denn solange schon verweigern wir uns hartnäckig dieser Aufgabe. Wir haben Verstand genug, sie zu meistern. Aber wir tun es trotzdem nicht. Wir haben uns in dem Zwischenzustand eingerichtet. Wir suchen unser „Glück” in der Ausbeutung der „primären” Natur. Wir haben auf das „Ganze” verzichtet, indem wir die Gestalt der „produzierten” Natur, die bürgerliche Gesellschaft, zum „Ganzen” erklären. Wir lassen zu, dass ein Teil die Herrschaft ergreift und den anderen Teil unter sich begräbt.

Der Verlust des „Ganzen” ist es, der Hegel umtreibt. Dessen „naturwüchsige”, auf „Blut und Boden” ruhende Gestalt, dieser „Organismus”, hat den beiden Naturen Platz gemacht. Und wie der „Organismus” unter Führung der „primären” Natur stand, so scheint jetzt das als „bürgerliche Gesellschaft” in die Welt tretende Gebilde von der „produzierten” Natur geführt zu werden. Der Unterschied scheint lediglich in der Umkehrung der Führungsrolle zu bestehen. So jedenfalls sieht es die Philosophie der Aufklärung – und die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft bestätigt sie darin. Beide, Theorie und Praxis, gehen davon aus, dass damit der Mensch und sein Glück in die Mitte alles Tuns gerückt sind. Hegel sieht es anders. Diese bloße Umkehrung des bisherigen Verhältnisses der beiden Naturen zueinander führt dazu, dass jetzt die „primäre” Natur, zum reinen Objekt der Ausbeutung degradiert wird. Aber ist es nicht so, dass der Mensch beiden Naturen angehört und folglich selbst von dieser Ausbeutung betroffen ist, dass diese Ausbeutung Glück und Unglück zugleich für ihn ist?

Was folgt daraus? Die bürgerliche Gesellschaft, die jetzt das Sagen hat und sich als das neue „Ganze” aufspielt, ist bloß ein Pseudo-Ganzes, hinter dem sich die Tatsache versteckt, dass jetzt die „primäre” Natur aus der gesamten Konstruktion ausgeschlossen ist. Sie ist als Totalität, als Natur mit eigenen Rechten, ignoriert und zum bloßen Objekt gemacht.

***

Eine „Aufhebung” ist im Gange; eine das Ganze „erhaltende Aufhebung”[32], wie er präzisiert. Der Zerfall ist nur ein Zwischenergebnis, das uns sagt: Das „Ganze” ist nicht zu „Nichts” geworden. Es besteht neben den beiden Teilen als „gestaltloses Sein” fort. Der Prozess ist damit nicht abgeschlossen. Der ersten Negation, die die Teile ans Licht bringt und die Gestalt des bisherigen Ganzen vernichtet, folgt eine weitere. Diese führt zum Ausgangspunkt zurück – zur „Einheitsnatur”. Aber nicht zu jener, die biologisch geprägter „Organismus” war, sondern zu jener auf Basis der Vernunft.[33]  Darin sind die Teile – die beiden Naturen – unter Wahrung ihrer „relativen Totalität” zusammengeführt und wird ihr Antagonismus vermittelt. Nur der Untergang des „naturwüchsigen Gemeinwesens” ist irreversibel; es ist für alle Zeiten aus der Geschichte geworfen. Aber das Gemeinwesen selbst bleibt erhalten - jetzt als „Vernunftgestalt”.

In immer neuen Wendungen sagt er es uns:

Das Wesen ist „als das vergangene Sein [zu] betrachten” dieses „vergangene Sein” wird „nicht abstrakt negiert, sondern nur aufgehoben und somit zugleich konserviert”[34]. Es ist das „Bleibende”[35], das am Ende der „Aufhebung” in neuer Gestalt vor uns steht.

Das „Wesen [ist] … die Aufhebung alles Unmittelbaren”[36]  oder wie man auch sagen kann: es ist das Mittelbare; es ist mittelbares Sein. Das führt zum Begriff der „Vermittlung”.

§ 114 E: Die Sphäre des Wesens ist die „einer noch unvollkommenen Verknüpfung der Unmittelbarkeit und der Vermittlung.” Was folgt ist eine Umschreibung des Verhältnisses Teile – Ganzes als eines Verhältnisses zweier Entgegengesetzter, die durch ein Drittes „vermittelt” und „relativiert” werden. Die Wahrheit dieses „Verhältnisses besteht also in der Vermittlung; sein Wesen ist die negative Einheit, in welcher ebensowohl die reflektierte als die seiende Unmittelbarkeit aufgehoben sind.”[37]

Die jetzige Gestaltlosigkeit macht das bisherige Sein nicht zu „Nichts”. Es gilt der Satz von der Erhaltung der Energie. Das Negierte nimmt nur einen anderen Aggregatzustand an. Und da das „Wesen … erscheinen” muss[38], ist seine jetzige Gestaltlosigkeit ein bloßer Durchgangspunkt zu einer neuen Gestalt, in der es „aufgehoben” wird. Denn es gilt: Ein Mittelbares muss zu einem Unmittelbaren, ein „Gestaltloses” muss zur „Gestalt” werden.

„Aufhebung” ist nicht bloß einfache Negation, sondern Negation der Negation. Das aufgehobene, um seine Gestalt gebrachte, Sein ist also lediglich auf sein Wesen verschrumpft. Dieses wartet darauf, nun wieder zur zeitgemäßen Gestalt gebracht zu werden. Im Verantwortungsbereich des Menschen  geschieht das nicht von selbst. Denken und Handeln als notwendige Teile des Prozesses sind gefordert. Der Mensch muss die „Idee” der Gestalt vor Augen haben. So gerüstet geht er daran, das Wesen auf den „Begriff” zu bringen. Ist das getan, geht es weiter darum, den Begriff in die Praxis umzusetzen, ihn zur arbeitenden „Institution” zu machen.

Und immer wieder geht er auf Kant ein, vergleicht, hebt dessen Verdienste und dessen Mängel hervor. Kant habe die Philosophie der Aufklärung insoweit korrigiert und weitergeführt, als er deren einseitige Fixierung auf das neue Sein „bürgerliche Gesellschaft” durch Hinweis auf ein „Ding an sich” in Frage stellt. Sein Verdienst ist es, überhaupt wieder ein „höheres Drittes” in die Diskussion zurückgebracht zu haben. Aber er bleibt „auf halben Wege stehen”, weil er das „gestaltlose Sein” für ein „unserem Erkennen unzugängliches Ding an sich fixiert hat.”[39] Hegel setzt dagegen: Das „Wesen” ist dem Erkennen zugänglich. Ja, es will und muss erkannt werden, weil das eine Voraussetzung dafür ist, dass es wieder zu „Gestalt” gelangt; diesmal zu der vom Menschen gefundenen und installierten „Vernunftgestalt”.

Vermittlungsinstanz ist weiterhin das Gemeinwesen. Solange dieses aber gestaltlos bleibt, kann es seine Aufgabe bestenfalls in der Weise erfüllen, die gewöhnlich als das Wirken der „invisible hand” bezeichnet wird. Dieses Wirken reicht nicht aus. Es ist lediglich ein Indikator, der uns das Fehlen der „Vernunftgestalt” anzeigt. Zu ihr also müssen wir gelangen, wenn wir der „primären” Natur wirksamen Schutz angedeihen lassen wollen.

Die Logik muss jetzt leisten, was früher die Natur selbst geleistet hat. Von dem vergangenen, jetzt auf sein „Wesen” reduziertes, Sein muss auf das jetzt geforderte Sein geschlossen werden. Ein Schluss von der (früheren) „Naturgestalt” auf die jetzt notwendige „Vernunftgestalt”. Ausgangspunkt ist die „Idee”, die vom Gemeinwesen zurückbleibt, der Merkposten. Die „Idee” hält die Erinnerung wach. Sie mahnt uns an die vor uns liegende Aufgabe, jetzt über logisches Denken den Begriff des Ganzen zu finden.

Von der „Logik der Idee”[40], man auch sagen: von der Warte der antizipierten „Vernunftgestalt”, beurteilt Hegel die ans Licht getretenen Dualismen: „Subjekt” und „Person”, Moral und Recht, Staat und Gesellschaft, auch: Natur und Geist. Von dorther kommt die fortbestehende „Einheit” des jetzt scheinbar Getrennten in den Blick. Am Beispiel der §§ 1 und 2 R: Dort bezeichnet es Hegel als die Aufgabe einer „philosophischen Rechtswissenschaft”, die „Idee des Rechts” in den Blick zu nehmen. Nur so, nur dann kann das Recht, das ja als Derivat der „produzierten” Natur in ihr seinen „Anfangspunkt” hat, in Bezug zum Ganzen gebracht werden. Wird es hingegen nur als bloßer Reflex dieser Natur gesehen, ist das Ergebnis ein „abstraktes” Recht, das

a)                  die atomistische Grundstruktur der „produzierten” Natur widerspiegelt;

zugleich auch

b)                 die bloße Objektstellung der „primären” Natur zementiert und damit deren unbeschränkte Ausbeutung legitimiert.

    

Die dritte, „gestaltlose”, Wirklichkeit in einer „Vernunftgestalt” sichtbar zu machen und zu institutionalisieren, ist Aufgabe der Wissenschaft und der Politik. Was aber haben beide im Blick? Die „produzierte” Natur. Was gepflegt wird, ist eine Betrachtung des Rechts, die allein geprägt ist von ihrer Interessenlage. Die Wahrheit eines Teils wird zur Wahrheit des Ganzen verklärt. Die Rechtswissenschaft verliert so den Anschluss an die Philosophie. Das führt sie zum Positivismus. Wissenschaft im echten Sinne ist sie also nur dann, wenn sie es versteht, beide Ebenen im Begriff sichtbar zu machen.

Wie schwer es fällt hierbei Hegel zu folgen, zeigt sich bei einem so profunden Denker wie E. Bloch, für den die „Idee” ein „willkürliches Bild” ist und sein muss, eine „Art Hofsprache”, an deren Ende steht, dass per Ukas die Natur aus der Idee entlassen wird.[41] Also bloße Spukgestalten, die sich um sie ranken? Aber die Auseinandersetzung mit Kant und Fichte macht es deutlich: Die „Idee” verweist auf die „höhere Einheit”[42] beider Naturen. Soweit geht Kant mit. Dann trennen sich die Wege. Während dieser die „sehr wohl anerkannte” Idee „von der Realität” trennt „und für Gedankendinge erklärte”[43], sieht Hegel ihren materiellen Gehalt. Kant scheitere also daran, so Hegel, dass er die „Vernunft” dort nicht in Übereinstimmung mit der Realität zu bringen vermag, wo sie die „konkrete Unmittelbarkeit überschreitet”[44]. Idee und Realität kommen bei Kant nicht zusammen. „[D]er sinnliche Stoff, das Mannigfaltige der Anschauung war ihm zu mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien an und für sich und zu einem spekulativen Philosophieren kommen zu können.”[45] Für Hegel indes ist der Standpunkt der „Idee” zugleich der Standpunkt der „Realität”.

Sagen wir es abschließend so:

Hegel hebt ins Bewusstsein, was weiterhin, über die „Entzweiung” hinaus, existent bleibt. Dank erfährt er dafür nicht. „Das Großartige, Neue und nach wie vor Aktuelle” seiner Philosophie hat bis heute „im öffentlichen Bewusstsein keinen Niederschlag gefunden.”[46] Im Gegenteil, sein „Vernunftstaat” hat ihm eher den Ruf eingebracht, Vordenker totalitärer Staatlichkeit zu sein.

Niemand folgt ihm. Die Liberalen nicht, da sie mit der Dialektik im Ganzen nichts anzufangen wissen. Marx in Bezug auf diesen Teil, der für ihn „Mystik”[47] ist, ebenfalls nicht. Zwei große Lager nach Hegel verteidigen im Rahmen eines anthropozentrischen Weltbildes die Vorherrschaft der „produzierten” Natur. Die einen im Interesse des Kapitals, die anderen im Interesse der Lohnarbeit. Gemeinsam aber: gegen die „primäre” Natur. Die Folgen beider Weltbilder für die Umwelt begegnen uns inzwischen auf Schritt und Tritt. Sie prägen zunehmend unseren Alltag. Sie werden über unser Schicksal entscheiden.



[1] Dialektik der Natur = MEW Bd. 20, S. 348.

[2] § 114/A E.

[3] L(S), S. 47. Eine gleich lautende Aussage findet sich in der „Wesenslogik”. (L [W], S. 5).

[4] L (W), S. 132.

[5] Ebd., S. 4f.                                                                                                           

[6] An anderer Stelle (S. 157): „Die Bewegung des Wesens ist überhaupt das Werden zum Begriff.”

[7] §112/Z E.

[8] Das ist selbst Marx/Engels, die sich ja rühmen, die dialektische Methode über Hegel hinaus geführt zu haben, unterlaufen, wenn man nur an ihre, für den Bereich „Staat” und „Recht” getroffene, Unterscheidung in „Basis” (Sein) und „Überbau” (Bewusstsein) denkt. Sie hat dazu beigetragen, die Staats- und Rechtswissenschaft und –praxis der realsozialistischen Länder in eine Sackgasse zu führen. Ende der 60-er Jahre, als im Rahmen der ökonomischen Reformpolitik ein wenig Freiraum für die Wissenschaft bestand, kam als Reaktion darauf die These vom „Basischarakter” von Staat und Recht auf. Sie wäre geeignet gewesen, den längst  praxisschädlich gewordenen Dogmatismus in puncto Staat und Recht aufzubrechen. Denn dieser „Basischarakter” zielt auf das vom „Wesen” verkörperte „gestaltlose” Sein.

[9] L (S), S. 38.

[10] Ebd., S. 39.

[11] L (W), S. 140.

[12] Ebd.

[13] Phän, S. 330.

[14] L (W), S. 141.

[15] Ebd., S. 142.

[16] Ebd., S. 157.

[17] Ebd., S. 158.

[18] Phän, S.18.

[19] In den Ausführungen, die der „Wirtschaftsfamilie” und der „Person” gewidmet sind.

[20] L (W), S. 145.

[21] Bereits 15 Jahre nach seinem Tod ist es für die Vertreter der Zunft mehrheitlich ausgemachte Sache, dass Hegels Philosophie eine „allem gesunden Menschenverstand hohnsprechende Welt- und Lebensansicht”(K.H. Scheidler), dass sie ein „monströses Gebilde” (C. v. Prantl) ist. Auch Marx/Engels haben sich zu diesem Zeitpunkt längst auf einen Standpunkt festgelegt, dem die Vorherrschaft der „produzierten” Natur zugrunde liegt.

[22] G. Lukacs (Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied u. Berlin 1971, S. 103 u. 106) setzt sich mit der Frage auseinander, wie Hegel „vermittelt”. „Vermittlung muss sein”, gesteht er zu, da sie ein unverzichtbares Instrument „ontologischer Selbstkorrektur” sei. Wenn aber die Ebene des „Ganzen” gestrichen ist, muss die „Vermittlung” in der seit Aristoteles praktizierten und nun auch von Marx/Engels übernommenen Art und Weise eines „Übergreifens” einer Seite erfolgen, also als Wechselbeziehung zweier Größen, bei der eine von ihnen – hier: die „produzierte” Natur - den Ton angibt. Hegels „Vermittlung” jedenfalls führe zum falschen Ergebnis. Ihr hafte der Makel an, dass das „übergreifende Moment” nicht zur Geltung komme. Richtig an dieser Kritik ist, dass „Vermittlung” nicht zur Bewegungslosigkeit, zu einem Zustand führen darf, der jede Entwicklung ausschließt. Aber so meint es Hegel auch nicht. Kein „ruhiges”, sondern ein „lebendiges” Ganzes, das durchaus Ungleichheit kennt, aber eine Ungleichheit, die durch die „Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.” (Phän, S. 340).

[23] G. Lukacs (Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S.435) zum Unterschied und dessen Bedeutung:

    Der Leugnung der Erkennbarkeit des „Dinges an sich” stelle Hegel dessen Erkennbarkeit gegenüber. Das sei der „springende Punkt” der dialektischen Methode.

[24] Siehe dazu die Ausführungen in der L (B), S. 24. Diese „Lücke” zeigt an, dass das Ineinandergreifen von Wesen und Begriff nicht  verstanden wird. Dieses Unverständnis wiederum wird genutzt, um Hegel der „Begriffshuberei” zu bezichtigen. Verkannt wird damit, dass gerade die Lehre vom Wesen die Philosophie Hegels über jene Kants, aber auch über Philosophien erhebt, die Hegel nachfolgen, einschließlich des Marxismus. 

[25] L (B),  S. 30.

[26] W. Dilthey, a.a.O., S. 223.

[27] wie W. Jaeschke (Einleitung zu G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, Hamburg 1992, S. XXXIII) zutreffend formuliert.

[28] Vgl. dazu die Ausführungen L (W), S. 104 f.

[29]  Vgl. Litt, a.a.O., S. 101.

[30]  § 131 E – es hat also seinen tiefen Grund, warum Hegel in § 181 R auf die § 112ff. und 131ff. E verweist.

[31] Die „Idee” fungiert gewissermaßen als „Merkposten”, der, nach Wegfall des bisherigen „Ganzen” an dessen Stelle tritt und an unsere jetzige Aufgabe erinnern soll.

[32] § 381/Z E (S. 23).

[33] In der Vorrede R (S. 15) spricht er vom Staat als einer dritten, einer „sittlichen Welt” – und meint damit jenen „Vernunftstaat”, der jetzt die Zerfallsprodukte zur „Einheit” zusammenführt.

[34] Ebd.

[35] § 112/Z E.

[36] Ebd.

[37] L (W), S. 146.

[38] § 131 E.

[39] § 131/Z E.

[40] M. Pawlik, Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, Der Staat 2002, S. 186. Verdienst dieser Arbeit, ist es, die bislang ignorierte dritte Dimension, das als Gestalt zerschlagene, damit aber nicht zu Nichts gewordene Ganze, ins Licht zu rücken und als Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Theorie und vor allem: der juristischen und politischen Praxis, bewusst zu machen.

[41] Vgl. E. Bloch, Subjekt – Objekt, Berlin 1951, S. 190f.

[42] L (B), S. 23.

[43] Ebd.

[44] Ebd., S. 23f.

[45] Ebd., S. 25.

[46]    G. Lübbe-Wolff, Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 329.

[47] Siehe dazu: K. Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 6. März 1868 (MEW Bd. 32, S. 538), wo er seine Methode von der Hegels  abgrenzt und von der Hegelschen Dialektik nur gelten lässt, was nach „Abstreifung ihrer mystischen Form” übrig bleibt.

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