Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen
Unfertige Bemerkungen zu Wesen und Wesenslogik
Die „Wesenslogik” gehört zum Kern der
Philosophie Hegels. Weil dort das zentrale Thema der Dialektik, die Einheit der
Gegensätze behandelt sei, ist sie für F. Engels[1]
der „weitaus bedeutendste Teil seiner ‚Logik‘”. Viele Hegelinterpreten der
Gegenwart teilen diese Einschätzung. Und sie trifft ja auch zu. Gleichwohl
fällt bei einer Sichtung der gewaltigen Masse an Publikationen, die seiner
Philosophie gewidmet sind, ins Auge, dass die Arbeiten zur Wesenslogik nur
einen geringen Teil dieser Masse ausmachen, ja, dass die Wesenslogik geradezu
stiefmütterlich behandelt wird. Und nicht selten erweckt deren Lektüre beim
Leser eine ungute Lust, dem jeweiligen Autor oder sich selbst nachzusagen, er
habe sich an diesem Gegenstand überhoben.
Dass die „Wesenslogik” der schwerste Teil
seiner Logik ist, räumt auch Hegel[2]
ein. Das mag jene Autoren und deren Leser ein wenig trösten. Und da kein Weg an
ihr vorbei führt, ist es bei gegebener Sachlage noch immer das Beste, man
wendet sich an Hegel selbst.
Die Wesenslogik. Kniet man sich in die Materie
hinein und gelingt es, den Zugang zu ihr zu gewinnen, kommen uns folgende Gegenstände,
Fragen und Begriffe in den Blick:
-
Sie
steht „zwischen der Lehre vom Sein und der vom Begriff”.[3]
-
Sie
behandelt die „Bewegung des Übergehens in Entgegengesetzte, des sich Aufhebens
und des Zurückgehens in die Einheit”[4].
-
Sie hat
ein Sein zum Gegenstand, das „gestaltlos”, das aus einem „unmittelbaren” zu
einem „mittelbaren” Sein geworden ist.
-
Sie
bezieht sich auf den Komplex, der das Verhältnis des Ganzen und der Teilen
behandelt.
-
Ihre
zentralen Begriffe sind: „relative Totalität”, „Vermittlung”, „Kraft”,
„Aufhebung”.
Entsprechend charakterisiert er eingangs der
„Wesenslogik”[5] das Wesen; dieses ist:
a) „gestaltloses” Sein;
b) die
Mitte zwischen Sein und Begriff;
c) seine Bewegung ist die des Übergehens „in den
Begriff”[6].
Die Schlussfolgerung aus dem Bisherigen:
Das Wesen steht für eine dritte, für eine
„mittelbare”, unkörperliche, wenn man so will: unvollständige Art von Sein.
„Unmittelbarkeit” bzw. „Vollständigkeit” gewinnt dieses Sein nur über das
Denken, über das Bewusstsein. Darüber wird dieses „gestaltlose” Sein zu einer
Sonderform des Seins, zur Institution
komplettiert. Als Institution ist dieses Sein „begriffenes” Wesen und als
solches „Vernunftgestalt”.
Die Entdeckung des Wesens als einer Form des
Seins ist also das Neue an der Philosophie Hegels. An die Adresse der
bisherigen Philosophien gerichtet, schreibt er: Ihnen gelingt es nicht, „in den
Dingen ein Bleibendes” zu sehen – „und dies ist zunächst das Wesen.”[7]
Das auf sein „Wesentliches” reduzierte
Gemeinwesen wird zum Hauptgegenstand seiner praktischen Philosophie. In der
Wesenslogik führt er an ihn heran.
Gehen wir zunächst auf den von Hegel immer
wieder betonten Aspekt ein, dass die Wesenslogik in der Mitte, dass sie
zwischen Seins- und Begriffslogik steht.
Diese Mittelstellung ergibt sich, weil ja auch
das „Wesen” in der Mitte, zwischen Sein und Bewusstsein, steht. An sich wäre es
zwar möglich, es sowohl mittels der Seins-Logik, als auch mittels der
Begriffslogik zu erschließen. Aber versucht man, sich ihm auf diese Weise zu
nähern, läuft man – wie Hegel anhand bisheriger Philosophien zeigt - rasch
Gefahr, es als eigenständige Größe, und damit: in seiner Bedeutung, zu
verkennen.[8]
Denn aus der Sicht des Seins haben wir es mit einem aufgehobenen Sein zu tun, mit einem Sein also, das sich einer am
Gegenständlichen orientierenden Seins-Logik entzieht. Aber ebenso entzieht sich
dieses aufgehobene Sein der Begriffs-Logik. Beide „Logiken” sind blind für
dieses spezifische Sein. Noch dazu, weil – wie wir noch sehen werden – aus der
„Aufhebung” ein (neues) Sein hervorgeht, das, seins- und begriffslogisch
gesehen, nichts gemein mit der Ausgangsgröße zu haben scheint. Seins- und
Begriffslogik stehen gewissermaßen am Anfang und am Ende eines Prozesses,
erfassen Ausgangs- und Endprodukt, erfassen hingegen nicht den Prozess der
Umwandlung des Einen in das Andere. Um es auf den Punkt zu bringen: Nur die
Wesenslogik stellt sicher, dass im Resultat der Aufhebung auch das erkannt
wird, „woraus es resultiert”[9]
Das Alte und das Neue bleibt unverbunden; es wird übersehen, dass das Neue nur
das „reichere” Alte ist. Und zwar ist das Neue „reicher” geworden, weil ein
„Entgegengesetztes” hinzugekommen ist.[10]
Wo für Hegel das „Wesen” steht, steht für jene
Philosophien, die an Aristoteles anknüpfen, das „Nichts”. Über Jahrhunderte war
es so, dass von dort her das „Ganze” über die „primäre” Natur definiert wurde.
Das war möglich und hinreichend richtig genug, weil diese Natur damals
federführend war und die noch junge und in den Anfängen steckende „produzierte”
Natur noch ganz in ihrem Schatten steht. Es bestand eine „Personalunion”
zwischen dem „Ganzen und der „primären” Natur, die einmal von der
„ganzheitlichen” Philosophie Platos und zum anderen von der Philosophie des
Aristoteles reflektiert wird. Jetzt, mit dem Bruch des „naturwüchsigen
Gemeinwesens”, scheint das „Ganze” ein für alle mal aus der Welt zu sein. Es
scheint so, als löse es sich in zwei Naturen auf, von denen die eine, die
„produzierte”, jetzt das Sagen hat. Mathematisch gesehen, scheint eine bloße
Umkehrung vorzuliegen, die sich (weiterhin) mit der aristotelischen Logik
erfassen lässt.
Das sieht Hegel anders. Etwas Grundlegendes ist
geschehen. Die „Personalunion” der „primären” Natur mit dem Ganzen ist beendet.
Das nach biologischen Gesetzen zu beurteilende, auf „Blut-und-Boden” gestützte,
„Naturganze” tritt aus dem Leben und macht einem „Ganzen” Platz, das nach den
Gesetzen der Logik zu beurteilen ist. Etwas Neues, Einmaliges entsteht. Wir
erleben die Geburt des „wesentlichen Verhältnisses”[11].
Das klingt zunächst einmal nicht sonderlich spannend, ist aber von höchster
Bedeutung für die Philosophie und noch mehr für die Praxis.
Das in die Welt getretene „wesentliche
Verhältnis” wird von der aristotelisch geprägten Philosophie nur als eine
Umkehrung des Verhältnisses der beiden Naturen zueinander reflektiert. Statt
Vorherrschaft der einen, jetzt Vorherrschaft der anderen Natur. Oder so gesagt:
das frühere „Naturganze” wird jetzt nur anders definiert, nämlich von der
„produzierten” Natur aus. Eine bloße Umkehrung. Dagegen wendet sich Hegel. Was
die Philosophen der Aufklärung feiern: diese Befreiung, diese Ablösung der
„produzierten” Natur vom Gängelband der „primären” Natur und ihre
Gestaltwerdung zur bürgerlichen Gesellschaft, ist für ihn ein hoch
problematischer Vorgang. Käme doch mit der „produzierten” eine Natur zur
Herrschaft, deren Ziel es ist, sich die andere Natur untertan zu machen, sie
als bloßes Baumaterial zu nutzen. Eine Natur, die keine Grenze kennt und
anerkennt, die unersättlich, die maßlos ist. Eine Natur, die ihr Gegenüber
negiert – und damit auch das Ganze -, weil sie sich selbst für das Ganze hält.
Freilich kann jetzt die „produzierte” Natur richtig durchstarten. Freilich kann
sie ihren Mitgliedern, vor allen einigen Wenigen, materielles „Glück” in bisher
unbekanntem Ausmaß bieten. Aber doch nur auf Kosten jener Natur, von der
letzten Endes alles Weitere abhängt – auch die eigene Existenz. Deshalb: keine
bloße Umkehrung! Käme es dazu und bliebe es bei ihr auf Dauer, wäre sie der
direkte Weg in die Katastrophe.
Seine Erkenntnis:
Jede Form der „Personalunion” eines Teils mit dem
Ganzen endet jetzt. Vom Tatsächlichen her bedeutet das: „Es sind zwei
Totalitäten … entstanden”, die „zunächst … als gleichgültige Selbständige
gegeneinander bestimmt” sind.[12]
Sie sind die zwei „entgegengesetzten Weisen der sittlichen Substanz”[13]
Der Gegensatz aber, in dem sie zueinander stehen erfordert, dass sie sich
zueinander „verhalten”. Das führt uns zum „wesentlichen Verhältnis”. Hegel bezeichnet
es als die „Wahrheit” der beiden Totalitäten. Das wesentliche Verhältnis „ist
zwar noch nicht das wahrhafte dritte zum Wesen und zur Existenz, aber enthält
bereits die bestimmte Vereinigung beider.”[14]
Am Ziel sind wir also noch immer nicht. Das
wesentliche Verhältnis stellt sich von selbst her und zeigt auch Wirkung. Aber
es ist ein untergründiges Wirken, das Wirken einer „unsichtbaren Hand”. Die
Folgen zeigen sich erst im Nachhinein, als Folge bereits in die Tat umgesetzter
Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen, als irreversibler Schaden. Insoweit
ist das wesentliche Verhältnis also selbst bereits eine Totalität jenseits der
Teile, es ist „die Einheit seiner selbst und seines Anderen, also Ganzes”, es
ist „daher unmittelbar das Verhältnis des Ganzen und der Teile.”[15]
Noch ist das Wesen nicht begriffen. Dahin aber
muss es kommen: Zum Begreifen. Zum Bewusstwerden. Denn die „Bewegung des Wesens
ist … das Werden zum Begriff.”[16]
Hier greift das Wesen als Sein also auf die andere Seite, auf das Bewusstsein,
über. Wir selbst sind gefordert. Wir müssen dazu beitragen, dass dieses „halbe”
Sein zu einem spezifischen Sein, zur menschgeschaffenen Institution, zur
„Vernunftgestalt” komplettiert wird.
Unsere Pflicht ist es also, das Wesen als diese
„Gestalt” zu erkennen und es als „Institution” in die Praxis zu überführen. Als
zur „Vernunftgestalt” gebrachtes Wesen nimmt die Institution, die Institution
„Staat”, aktiv Einfluss auf das Verhältnis der beiden Naturen zueinander. Der
Begriff, den Hegel dafür bereit hält, ist der der „Vermittlung”. Das
Gegeneinander der beiden Naturen wird „vermittelt”. Da es vor allem die
Maßlosigkeit der „produzierten” Natur ist, die den Bestand der „primären” Natur
und damit aller Natur untergräbt, richtet sich das „Vermitteln” besonders gegen
sie. Es kostet „Kraft”, ihren Tatendrang in eine naturverträgliche Richtung zu
lenken, ihrer Maßlosigkeit Grenzen zu setzen. Diese „Kraft” muss die
„Vernunftgestalt entfalten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Hegel bezeichnet daher
die „Vermittlung” als das „Verhältnis der Kraft”[17].
Bei dieser Aufgabenstellung erklärt sich, dass
wir die „Vernunftgestalt” bisher nicht haben. Sie passt nicht in unser
anthropozentrisches, gegen die „primäre” Natur gerichtetes Weltbild. Gerade
wir, in den entwickelten Teilen der weltbürgerlichen Gesellschaft, sperren uns
gegen sie. Denn sie würde dem Raubbau an der Natur ein Ende setzen, aus dem
jeder von uns, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, Nutzen zieht. „Macht
sie euch untertan” – wir haben uns, gestützt auf die Bibel wie auf die
Philosophie der Aufklärung, für die bloße „Umkehrung” entschieden. Und wir sind
nicht bereit davon abzulassen, weil wir wissen, dass unsere jetzige Lebensweise
daran hängt.
***
Hegels Wirken fällt in eine „Zeit der Geburt
und des Übergangs zu einer neuen Periode”[18].
Überall, auch in Deutschland, vollzieht sich ein einzigartiges Geschehnis: der
„Bruch” des „naturwüchsigen” Gemeinwesens. Er führt zum endgültigen Aus des
„Heiligen römischen Reichs deutscher Nation”. Spät genug, denn anderswo ist das
alte, auf „Blut und Boden” gestützte, Gemeinwesen längst durch die bürgerliche
Gesellschaft ersetzt. In England vollzog sich das auf eine pragmatische,
langgestreckte, wenig „philosophische” Art und Weise, in Frankreich auf der
Grundlage einer ungenügenden Philosophie und per Revolution. Deutschland
verspätet sich. Der einzige Vorteil daraus erwächst der Philosophie. Sie ist
hier, aus der Ferne wie aus dem Rückstand heraus, in die Lage versetzt, dieses
welthistorische Ereignis anhand der ersten praktischen Resultate wahrhafter zu
reflektieren als dies in den Pionierländern geschah und geschieht. Kant,
Fichte, Schelling gehen voran. Aber wie Hegel erkennt: ihre Beiträge reichen
nicht aus, um das Wesen des sich bahnbrechenden Neuen zu erfassen. Am Beispiel
seines Jugendfreundes Schelling: Dieser sieht wohl, dass die Bestandteile des
ehemaligen Ganzen, die beiden Naturen, jetzt Teile, „Totalitäten”, und damit
„Entgegengesetzte” geworden sind. Bei Übergewicht der „produzierten” Natur über
die „primäre” Natur. Dieses
Übergewicht ist problematisch, weswegen der Freund hier Korrekturbedarf
zugunsten der „primären” Natur sieht. Aber weil ihm das (neue) Ganze nicht in
den Blick kommt, bleibt er in der bloßen Umkehrung des Verhältnisses stecken.
Das Neue der neuen Zeit: Sie beendet die
Vorherrschaft der „primären” Natur. Die „produzierte” Natur, die bislang in
ihrem Schatten stand, wird frei. „Freiheit! So weit so gut. Hoch problematisch
aber der weitere Schluss, den die Philosophen der Aufklärung ziehen (und der
sich mit der Selbstbewegung dieser Natur deckt): dass jetzt sie die Herrschaft
übernimmt. Eine längst fällige Verschiebung der Gewichte. Eine Umkehrung im
Rahmen einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die, logisch gesehen, durchaus den
Regeln der aristotelischen Logik folgt. Hegel sieht es anders. Ein biologisches
„Ganzes”, ein „Organismus”, ist zerfallen. Was zunächst vorhanden ist und über
tausende von Jahren vorhält ist eine Totalität mit unselbständigen
Bestandteilen. Jetzt konstituieren sich diese Bestandteile zu zwei qualitativ
verschiedenen und selbständigen Naturen. Die Bestandteile sind Teile geworden.
Vor Hegels Augen hat sich die eine
Welt, ein biologisch zu beurteilender „Organismus”, in einen Zusammenhang des
„Ganzen” und der „Teile” umgewandelt, der nicht „biologisch”, sondern „logisch”
zu erfassen ist. Ein Sprung, der sich einer zweidimensionalen Logik, der sich
dem bloß kausalen Denken entzieht. Und die Biologie, wie die anderen
Naturwissenschaften auch, ist eine „Kausal-Wissenschaft”, die im Auftrag der
„produzierten” Natur der anderen Natur ihre Geheimnisse „abzulisten” hat. Der
jetzige Zusammenhang des Ganzen und der Teile entzieht sich diesem Denken. Was
jetzt not tut ist eine dreidimensionale, eine dialektische Logik. Sie steht nicht im Dienste der einen oder
anderen Natur. Sie ist insoweit unparteiisch; ihr kommen alle drei Glieder in
den Blick: die Teile und das Ganze.
Anmerkung:
Dieser
Übergang vom biologisch zum logisch zu erfassenden Zusammenhang zeigt sich auf
den verschiedenen Ebenen des Begriffs nicht in gleicher Weise und Deutlichkeit.
Auf der Ebene des Allgemeinen, also der von „Staat” und „Gesellschaft”, wird
der Übergang vom „Organismus” zum „wesentlichen Verhältnis” am deutlichsten.
Nicht so auf den Ebenen der „Besonderheit” (der Familie) und der „Einzelheit”
(des Individuums). Hier stößt der Zerfall des „Organismus” auf handfeste
biologische Gegebenheiten: So beruht die Familie auf Frau und Mann; nur beide
zusammen erzeugen die Kinder. Und wie sollte das Individuum „Mensch” zerfallen
können, ohne dass dessen physischer Tod einträte? Für das zweidimensionale
Denken liegt hierin der Beweis, dass nur eine Umkehrung der früheren
Verhältnisse in Frage kommen kann. Statt feudale „Wirtschaftsfamilie” jetzt die
bürgerliche Kleinfamilie. Statt des Daseins als Sklave jetzt ein Dasein als
„Person”. Statt des feudalen Gemeinwesens jetzt die bürgerliche Gesellschaft.
Wir werden noch Gelegenheit haben zu zeigen[19], dass für Hegel der
„Bruch”, der Zerfall des früher Einheitlichen in zwei Entgegengesetzte, sich
unabhängig von diesen biologischen Gegebenheiten (die er nicht ignoriert!) auf
allen drei Ebenen vollzieht, also allgemeingültig ist.
Die Schlussfolgerung, die Hegel über Kant,
Fichte und Schelling hinausführt:
Jede Vorherrschaft, sowohl der einen wie der
anderen Natur, findet jetzt ein Ende. Die jetzige Freiheit der „produzierten”
Natur darf nicht zur Unfreiheit der „primären” Natur führen. Keine weitere „Personalunion”! Hegel
rückt ins Licht, was die drei Genannten trotz ihrer Kritik an der Aufklärung
nicht oder doch nur im Ansatz erkannt haben: Dieses neue, den Gesetzen der
Logik unterworfene Verhältnis des Ganzen und der Teile. Es besitzt ebenso
Materialität wie die untergegangene „Personalunion”. Damit geht er über sie
hinaus. Aber auch er wird noch bis zum Jahre 1813 brauchen, ehe er es auf den
Punkt zu bringen vermag und formuliert: „Das Ganze ist das Selbständige, die
Teile sind nur Momente dieser Einheit; aber ebensosehr sind sie auch das
Selbständige, und ihre reflektierte Einheit ist nur ein Moment, und jeder in
seiner Selbständigkeit schlechthin das Relative eines Anderen.”[20]
Eine neue Konstellation, eine
neue, nie da gewesene, Gestalt leitet sich daraus ab: die „Vernunftgestalt”.
Sie verbindet sich mit einem weiteren Zentralbegriff der Hegelschen
Philosophie, mit dem Begriff der „relativen Totalität”.
In einer Zeit als die „produzierte” Natur als
das Nonplusultra, als die eigentlich menschliche Natur angesehen wird, erntet
Hegel keinen Dank für seine Erkenntnisse. Bald wird die Mehrheit seiner
Kollegen ihn zum Apologeten des Alten erklären, obwohl es genau umgekehrt ist
und sie es sind, die zu Apologeten der „produzierten” Natur werden. Sie halten
ihm vor, dass er sich in einer Zeit, in der Parteinahme für die „produzierte”
Natur, in einer Zeit, in der es angezeigt wäre, Philosophie als
Naturwissenschaft zu betreiben, er sich im Metaphysischen herumtreibt. Und
gerade hier, bei „Wesen” und „Wesenslogik”, „ertappen” sie ihn, hier sieht es
für sie so aus, als bewege sich Hegel vollends im luftleeren Raum, als verliere
er hier jegliche „Bodenhaftung” zur Realität.[21]
Aber Hegel bleibt dabei:
Ein Teil kann nicht das Ganze sein. Und ein
Teil allein kann nicht für sich existieren. Es ist Teil, weil ihm ein anderes
Teil gegenüber steht. Und die Logik sagt uns: keine Teile ohne ein Ganzes!
Ob vom
Teil oder vom Ganzen ausgegangen wird: Die Perspektive ist je eine völlig
andere. Einmal kommt uns die neu ins Leben getretene bürgerliche Gesellschaft
als „Alleinerbe” des „Gemeinwesens” in den Blick. Die parteiische Sichtweise
der Aufklärung. Dieser Natur und ihren Segnungen, darunter Freiheit,
Fortschritt und (materielles) Glück, gilt ihre Sympathie. Und so wird alle
Natur jetzt stillschweigend von dorther begriffen. Damit ist die „produzierte”
Natur unter sich; sie ist mit sich und ihrem Innenleben allein. Die andere, die
„primäre” Natur, ist ausgeblendet, sie wird insgesamt und in allen einzelnen
Bereichen zum Gegenüber. Sie ist jetzt entsubjektiviert, sie ist als
„Herrenloses” zum Objekt gemacht. Dieser verengten Sichtweise tritt Hegel
entgegen.
Richtig ist: die neue Zeit ist die Stunde der „produzierten”
Natur. Sie wird frei. Aber sie wird nur relativ
frei, nämlich im Rahmen des Ganzen. Und
schon gar nicht ist sie selbst das Ganze, auch wenn sie sich als solches
geriert und empirische Befunde dafür sprechen. Das ist ein Schein! Ein sehr
bald liebgewordener Schein, zu dem nicht passt, dass jetzt zwei
gleichberechtigte Naturen in der Welt sind. Hegel kämpft gegen ihn an. Die
Freiheit dieser Natur ist nicht grenzenlos. Sie findet vielmehr in der Freiheit
der anderen Natur ihre Grenze.
Zwei „Entgegengesetzte”
stehen sich gegenüber, die nach den Grundsätzen
der Logik der „Vermittlung” bedürfen. „Vermittlung” bedeutet Begrenzung,
bedeutet Einschränkung der Freiheit auf ein Maß, das das Ganze nicht in Gefahr
bringt. Klarer Fall: das richtet sich gegen die Interessen der „produzierten”
Natur. Und so sorgt sie dafür, dass statt „Vermittlung” sich eine Beziehung
durchsetzt, die der einer Über- und Unterordnung nahesteht.[22]
Die Folge: unter dem Dach „bürgerliche Gesellschaft” wird die „primäre” Natur
als bloßes Objekt behandelt.
Es geht um die Verbindung des Ganzen mit den
Teilen. Es geht um die Beziehung zwischen Größen, die bisher beziehungslos zu
sein schienen. Anhand von Personen gesehen: Wesen und Wesenslogik führen den vom Ganzen bestimmten Ansatz Platons
mit den von den Teilen bestimmten Ansatz Aristoteles‘ zusammen. Sie widerlegen
die Ansicht, dass zwischen dem Ganzen und den Teilen eine chinesische Mauer
steht. Auch jetzt, wo die bislang im „Ganzen” eingeschlossenen Bestandteile
„Totalität” gewinnen und als eigenständige Naturen hervortreten, besonders
sichtbar: die „produzierte”, bleibt das „Ganze” erhalten, wird nicht zu Nichts
oder, wie Kant meint, zum himmlischen „Ding an sich”. Die neuen Totalitäten
bleiben dem Ganzen verhaftet. Ihre Totalität ist deshalb nur „relativ” – wie
auch die jetzige Totalität des „Ganzen”. Damit ist das „Ding an sich” irdisch
gemacht und zugleich mit den anderen irdischen Größen, mit den Teilen,
verknüpft.
Während Kant nur den sinnlich
wahrnehmbaren Teil beider Naturen als „Sein” akzeptiert und den untergründigen
„Rest” zum „Ding an sich” erklärt, macht es sich Hegel zur Aufgabe, diesen
„Rest” als eine Form des Seins sichtbar zu machen.[23]
Gewissermaßen ein „Lückenschluss”.[24] Seine
dreidimensionale Sicht bringt zwei sich gegenüberstehende Naturen ans
Licht, die in einer dritten, in einer „Einheits-Natur”, eingebettet und
vermittelt sind. Diese ist als Vernunftgestalt
„enthüllte Wahrheit”[25]. W. Dilthey kritisiert daran: „So entsteht der
Panlogismus Hegels, welcher dem Gedanken der Begreiflichkeit der Welt die wahre
Natur des Wirklichen und der Wissenschaften rücksichtslos opfert.”[26] Aber Hegel bleibt dabei: Beim „Ding an sich”
kann man nicht stehenbleiben. Es bezeichnet ein Unsichtbar-Materielles, das
sichtbar zu machen ist. Und das gelingt ihm auch. Über die Wesenslogik zeigt er
eine Wirklichkeit auf, die bis dahin nicht gesehen wurde.[27]
Auch wir Heutigen könnten sie selbstverständlich sehen. Am Intellekt fehlt es
uns nicht. Jedoch am Willen - und nicht zuletzt deshalb, weil uns die von der
„produzierten” Natur ausgehenden „Sachzwänge” für sie „betriebsblind” gemacht
haben.
Das Wesen ist „gestaltlos” gewordenes Sein. Die
alte Gestalt ist von der Entwicklung überholt, sie ist von ihr „negiert”
worden. Misst man an der Gestalt, ist das Sein damit zu „Nichts” geworden.
Tatsächlich aber lebt es fort; es ist nicht zu „Nichts”, sondern nur unsichtbar
geworden. Es ist nur in einen anderen „Aggregatszustand” übergegangen: Aus dem
der Unmittelbarkeit und des Sichtbaren in den der Mittelbarkeit und des
Unsichtbaren. Und auch dabei bleibt es nicht. So wie es aus dem Sein fortgegangen und Mittelbares geworden
ist, strebt es nun danach, wieder Unmittelbarkeit zu erlangen[28],
strebt einer neuen Gestalt zu. Das Gegenwärtige ist also nur ein Zwischenzustand,
ein Zustand des „Übergehens” von einer zur anderen Gestalt. Eine Aufhebung ist
im Gange, die nicht das Alte wiederherstellt, sondern zu etwas Neuem führt.
Die frühere, jetzt
„negierte”, Gestalt war eine „Naturgestalt”, die sich, als „naturwüchsiges
Gemeinwesen”, von selbst, ohne unser Zutun, herstellte und wirkte. Damit ist
nun Schluss. Die Natur hat den Stab an uns, an unser Denken und Handeln,
weitergegeben. Wir sind aufgefordert, dieses gestaltlos gewordene Sein in eine
neue, zeitgemäße, in die „begriffene”, in die „Vernunftgestalt” zu überführen.
Eine Aufgabe, die bereits in jenem Deutschland ansteht, in das Hegel
hineingeboren wird. Sein wissenschaftliches
Anliegen daher: dieses zunächst
nur „gestaltlos” Existierende als Gestalt, diesmal als die „weltliche” Gestalt[29]
der Vernunft zu zeigen – was heißt: als Staat. Denn „gestaltlos” kann es nicht
bleiben; es muss „erscheinen”[30].
Dennoch, Praxis geworden ist seine Erkenntnis bis heute nicht. Wir stehen vor
einer zeitlichen Lücke zwischen dem Untergang der „Naturgestalt” und dem Finden
und Installieren der „Vernunftgestalt”. Ein Interregnum, das Hegel mit der
„Idee”, hier: mit der „Idee des Ganzen”, überbrückt. Sie fungiert als
Platzhalter der „Vernunftgestalt”. Sie „erinnert”[31]
an die Aufgabe, sie zu finden und zu installieren. Gemäß dem Spruch, dass die
Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, ist uns hierfür eine
Überlegungsfrist eingeräumt.
Aber doch nicht 250 Jahre! Denn solange schon
verweigern wir uns hartnäckig dieser Aufgabe. Wir haben Verstand genug, sie zu
meistern. Aber wir tun es trotzdem nicht. Wir haben uns in dem Zwischenzustand
eingerichtet. Wir suchen unser „Glück” in der Ausbeutung der „primären” Natur.
Wir haben auf das „Ganze” verzichtet, indem wir die Gestalt der „produzierten”
Natur, die bürgerliche Gesellschaft, zum „Ganzen” erklären. Wir lassen zu, dass
ein Teil die Herrschaft ergreift und den anderen Teil unter sich begräbt.
Der Verlust des „Ganzen” ist
es, der Hegel umtreibt. Dessen „naturwüchsige”, auf „Blut und Boden” ruhende
Gestalt, dieser „Organismus”, hat den beiden Naturen Platz gemacht. Und wie der
„Organismus” unter Führung der „primären” Natur stand, so scheint jetzt das als
„bürgerliche Gesellschaft” in die Welt tretende Gebilde von der „produzierten”
Natur geführt zu werden. Der Unterschied scheint lediglich in der Umkehrung der
Führungsrolle zu bestehen. So jedenfalls sieht es die Philosophie der
Aufklärung – und die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft bestätigt sie darin.
Beide, Theorie und Praxis, gehen davon aus, dass damit der Mensch und sein
Glück in die Mitte alles Tuns gerückt sind. Hegel sieht es anders. Diese bloße
Umkehrung des bisherigen Verhältnisses der beiden Naturen zueinander führt
dazu, dass jetzt die „primäre” Natur, zum reinen Objekt der Ausbeutung
degradiert wird. Aber ist es nicht so, dass der Mensch beiden Naturen angehört
und folglich selbst von dieser Ausbeutung betroffen ist, dass diese Ausbeutung
Glück und Unglück zugleich für ihn ist?
Was folgt daraus? Die
bürgerliche Gesellschaft, die jetzt das Sagen hat und sich als das neue „Ganze”
aufspielt, ist bloß ein Pseudo-Ganzes, hinter dem sich die Tatsache versteckt,
dass jetzt die „primäre” Natur aus der gesamten Konstruktion ausgeschlossen
ist. Sie ist als Totalität, als Natur mit eigenen Rechten, ignoriert und zum
bloßen Objekt gemacht.
***
Eine „Aufhebung” ist im
Gange; eine das Ganze „erhaltende
Aufhebung”[32], wie er präzisiert. Der
Zerfall ist nur ein Zwischenergebnis, das uns sagt: Das „Ganze” ist nicht zu
„Nichts” geworden. Es besteht neben den beiden Teilen als „gestaltloses Sein”
fort. Der Prozess ist damit nicht abgeschlossen. Der ersten Negation, die die
Teile ans Licht bringt und die Gestalt des bisherigen Ganzen vernichtet, folgt eine weitere. Diese führt zum
Ausgangspunkt zurück – zur „Einheitsnatur”. Aber nicht zu jener, die biologisch
geprägter „Organismus” war, sondern zu jener auf Basis der Vernunft.[33] Darin sind die Teile – die beiden Naturen – unter
Wahrung ihrer „relativen Totalität” zusammengeführt und wird ihr Antagonismus
vermittelt. Nur der Untergang des
„naturwüchsigen Gemeinwesens” ist irreversibel; es ist für alle Zeiten aus der
Geschichte geworfen. Aber das Gemeinwesen selbst bleibt erhalten - jetzt als
„Vernunftgestalt”.
In immer neuen Wendungen sagt er es uns:
Das Wesen ist „als das
vergangene Sein [zu] betrachten” dieses „vergangene Sein” wird „nicht abstrakt
negiert, sondern nur aufgehoben und somit zugleich konserviert”[34].
Es ist das „Bleibende”[35],
das am Ende der „Aufhebung” in neuer Gestalt vor uns steht.
Das „Wesen [ist] … die Aufhebung alles
Unmittelbaren”[36] oder wie man auch sagen kann: es ist das
Mittelbare; es ist mittelbares Sein. Das führt zum Begriff der „Vermittlung”.
§ 114 E: Die Sphäre des Wesens ist die „einer
noch unvollkommenen Verknüpfung der Unmittelbarkeit
und der Vermittlung.” Was folgt ist
eine Umschreibung des Verhältnisses Teile – Ganzes als eines Verhältnisses
zweier Entgegengesetzter, die durch ein Drittes „vermittelt” und „relativiert”
werden. Die Wahrheit dieses „Verhältnisses besteht also in der Vermittlung;
sein Wesen ist die negative Einheit, in welcher ebensowohl die reflektierte als
die seiende Unmittelbarkeit aufgehoben sind.”[37]
Die jetzige Gestaltlosigkeit macht das
bisherige Sein nicht zu „Nichts”. Es gilt der Satz von der Erhaltung der
Energie. Das Negierte nimmt nur einen anderen Aggregatzustand an. Und da das
„Wesen … erscheinen” muss[38],
ist seine jetzige Gestaltlosigkeit ein bloßer Durchgangspunkt zu einer neuen
Gestalt, in der es „aufgehoben” wird. Denn es gilt: Ein Mittelbares muss zu
einem Unmittelbaren, ein „Gestaltloses” muss zur „Gestalt” werden.
„Aufhebung” ist nicht bloß einfache Negation,
sondern Negation der Negation. Das aufgehobene, um seine Gestalt gebrachte,
Sein ist also lediglich auf sein Wesen verschrumpft. Dieses wartet darauf, nun
wieder zur zeitgemäßen Gestalt gebracht zu werden. Im Verantwortungsbereich des
Menschen geschieht das nicht von selbst.
Denken und Handeln als notwendige Teile des Prozesses sind gefordert. Der
Mensch muss die „Idee” der Gestalt vor Augen haben. So gerüstet geht er daran,
das Wesen auf den „Begriff” zu bringen. Ist das getan, geht es weiter darum,
den Begriff in die Praxis umzusetzen, ihn zur arbeitenden „Institution” zu
machen.
Und immer wieder geht er auf
Kant ein, vergleicht, hebt dessen Verdienste und dessen Mängel hervor. Kant
habe die Philosophie der Aufklärung insoweit korrigiert und weitergeführt, als
er deren einseitige Fixierung auf das neue Sein „bürgerliche Gesellschaft”
durch Hinweis auf ein „Ding an sich” in Frage stellt. Sein Verdienst ist es,
überhaupt wieder ein „höheres Drittes” in die Diskussion zurückgebracht zu
haben. Aber er bleibt „auf halben Wege stehen”, weil er das „gestaltlose Sein”
für ein „unserem Erkennen unzugängliches Ding an sich fixiert hat.”[39]
Hegel setzt dagegen: Das „Wesen” ist dem Erkennen zugänglich. Ja, es will und
muss erkannt werden, weil das eine Voraussetzung dafür ist, dass es wieder zu
„Gestalt” gelangt; diesmal zu der vom Menschen gefundenen und installierten
„Vernunftgestalt”.
Vermittlungsinstanz ist weiterhin das
Gemeinwesen. Solange dieses aber gestaltlos bleibt, kann es seine Aufgabe
bestenfalls in der Weise erfüllen, die gewöhnlich als das Wirken der „invisible
hand” bezeichnet wird. Dieses Wirken reicht nicht aus. Es ist lediglich ein
Indikator, der uns das Fehlen der „Vernunftgestalt” anzeigt. Zu ihr also müssen
wir gelangen, wenn wir der „primären” Natur wirksamen Schutz angedeihen lassen
wollen.
Die Logik muss jetzt leisten, was früher die
Natur selbst geleistet hat. Von dem vergangenen, jetzt auf sein „Wesen”
reduziertes, Sein muss auf das jetzt geforderte Sein geschlossen werden. Ein
Schluss von der (früheren) „Naturgestalt” auf die jetzt notwendige „Vernunftgestalt”.
Ausgangspunkt ist die „Idee”, die vom Gemeinwesen zurückbleibt, der Merkposten.
Die „Idee” hält die Erinnerung wach. Sie mahnt uns an die vor uns liegende
Aufgabe, jetzt über logisches Denken den Begriff
des Ganzen zu finden.
Von der „Logik der Idee”[40],
man auch sagen: von der Warte der antizipierten „Vernunftgestalt”, beurteilt
Hegel die ans Licht getretenen Dualismen: „Subjekt” und „Person”, Moral und
Recht, Staat und Gesellschaft, auch: Natur und Geist. Von dorther kommt die
fortbestehende „Einheit” des jetzt
scheinbar Getrennten in den Blick. Am Beispiel der §§ 1 und 2 R: Dort
bezeichnet es Hegel als die Aufgabe einer „philosophischen Rechtswissenschaft”,
die „Idee des Rechts” in den Blick zu nehmen. Nur so, nur dann kann das Recht,
das ja als Derivat der „produzierten” Natur in ihr seinen „Anfangspunkt” hat,
in Bezug zum Ganzen gebracht werden. Wird es hingegen nur als bloßer Reflex
dieser Natur gesehen, ist das Ergebnis ein „abstraktes” Recht, das
a)
die
atomistische Grundstruktur der „produzierten” Natur widerspiegelt;
zugleich auch
b)
die
bloße Objektstellung der „primären” Natur zementiert und damit deren
unbeschränkte Ausbeutung legitimiert.
Die dritte, „gestaltlose”, Wirklichkeit
in einer „Vernunftgestalt” sichtbar zu machen und zu institutionalisieren, ist
Aufgabe der Wissenschaft und der Politik. Was aber haben beide im Blick? Die
„produzierte” Natur. Was gepflegt wird, ist eine Betrachtung des Rechts, die
allein geprägt ist von ihrer Interessenlage. Die Wahrheit eines Teils wird zur
Wahrheit des Ganzen verklärt. Die Rechtswissenschaft verliert so den Anschluss
an die Philosophie. Das führt sie zum Positivismus. Wissenschaft im echten Sinne ist sie also nur dann, wenn sie es
versteht, beide Ebenen im Begriff sichtbar zu machen.
Wie schwer es fällt hierbei
Hegel zu folgen, zeigt sich bei einem so profunden Denker wie E. Bloch, für den
die „Idee” ein „willkürliches Bild” ist und sein muss, eine „Art Hofsprache”,
an deren Ende steht, dass per Ukas die Natur aus der Idee entlassen wird.[41] Also bloße Spukgestalten, die sich um sie
ranken? Aber die Auseinandersetzung mit Kant und Fichte macht es deutlich: Die
„Idee” verweist auf die „höhere Einheit”[42] beider Naturen. Soweit geht Kant mit. Dann
trennen sich die Wege. Während dieser die „sehr wohl anerkannte” Idee „von der
Realität” trennt „und für Gedankendinge erklärte”[43], sieht Hegel ihren materiellen Gehalt. Kant
scheitere also daran, so Hegel, dass er die „Vernunft” dort nicht in
Übereinstimmung mit der Realität zu bringen vermag, wo sie die „konkrete
Unmittelbarkeit überschreitet”[44]. Idee und Realität kommen bei Kant nicht
zusammen. „[D]er sinnliche Stoff, das Mannigfaltige der Anschauung war ihm zu
mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien an und
für sich und zu einem spekulativen Philosophieren kommen zu können.”[45] Für Hegel indes ist der Standpunkt der „Idee”
zugleich der Standpunkt der „Realität”.
Sagen
wir es abschließend so:
Hegel
hebt ins Bewusstsein, was weiterhin, über die „Entzweiung” hinaus, existent
bleibt. Dank erfährt er dafür nicht. „Das Großartige, Neue und nach wie vor
Aktuelle” seiner Philosophie hat bis heute „im öffentlichen Bewusstsein keinen
Niederschlag gefunden.”[46]
Im Gegenteil, sein „Vernunftstaat” hat ihm eher den Ruf eingebracht, Vordenker
totalitärer Staatlichkeit zu sein.
Niemand folgt ihm. Die
Liberalen nicht, da sie mit der Dialektik im Ganzen nichts anzufangen wissen.
Marx in Bezug auf diesen Teil, der für ihn „Mystik”[47]
ist, ebenfalls nicht. Zwei große Lager nach Hegel verteidigen im Rahmen eines
anthropozentrischen Weltbildes die Vorherrschaft der „produzierten” Natur. Die
einen im Interesse des Kapitals, die anderen im Interesse der Lohnarbeit. Gemeinsam
aber: gegen die „primäre” Natur. Die Folgen beider Weltbilder für die Umwelt
begegnen uns inzwischen auf Schritt und Tritt. Sie prägen zunehmend unseren
Alltag. Sie werden über unser Schicksal entscheiden.
[1] Dialektik der
Natur = MEW Bd. 20, S. 348.
[2] § 114/A E.
[3] L(S), S. 47.
Eine gleich lautende Aussage findet sich in der „Wesenslogik”. (L [W], S. 5).
[4] L (W), S. 132.
[5] Ebd., S.
4f.
[6] An anderer Stelle (S. 157): „Die Bewegung des Wesens ist überhaupt das Werden zum Begriff.”
[7] §112/Z E.
[8] Das ist selbst Marx/Engels,
die sich ja rühmen, die dialektische Methode über Hegel hinaus geführt zu
haben, unterlaufen, wenn man nur an ihre, für den Bereich „Staat” und „Recht”
getroffene, Unterscheidung in „Basis” (Sein) und „Überbau” (Bewusstsein) denkt.
Sie
hat dazu beigetragen, die Staats- und Rechtswissenschaft und –praxis der
realsozialistischen Länder in eine Sackgasse zu führen. Ende der 60-er Jahre,
als im Rahmen der ökonomischen Reformpolitik ein wenig Freiraum für die
Wissenschaft bestand, kam als Reaktion darauf die These vom „Basischarakter”
von Staat und Recht auf. Sie wäre geeignet gewesen, den längst praxisschädlich gewordenen Dogmatismus in
puncto Staat und Recht aufzubrechen. Denn dieser „Basischarakter” zielt auf das
vom „Wesen” verkörperte „gestaltlose” Sein.
[9] L (S), S. 38.
[10] Ebd., S. 39.
[11] L (W), S. 140.
[12] Ebd.
[13] Phän, S. 330.
[14] L (W), S. 141.
[15] Ebd., S. 142.
[16] Ebd., S. 157.
[17] Ebd., S. 158.
[18] Phän, S.18.
[19] In den
Ausführungen, die der „Wirtschaftsfamilie” und der „Person” gewidmet sind.
[20] L (W), S. 145.
[21] Bereits 15 Jahre
nach seinem Tod ist es für die Vertreter der Zunft mehrheitlich ausgemachte
Sache, dass Hegels Philosophie eine „allem gesunden Menschenverstand
hohnsprechende Welt- und Lebensansicht”(K.H. Scheidler), dass sie ein
„monströses Gebilde” (C. v. Prantl) ist. Auch Marx/Engels haben sich zu diesem
Zeitpunkt längst auf einen Standpunkt festgelegt, dem die Vorherrschaft der
„produzierten” Natur zugrunde liegt.
[22] G. Lukacs (Zur
Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie,
Neuwied u. Berlin 1971, S. 103 u. 106) setzt sich mit der Frage auseinander, wie Hegel „vermittelt”. „Vermittlung
muss sein”, gesteht er zu, da sie ein unverzichtbares Instrument „ontologischer
Selbstkorrektur” sei. Wenn aber die Ebene des „Ganzen” gestrichen ist, muss die
„Vermittlung” in der seit Aristoteles praktizierten und nun auch von
Marx/Engels übernommenen Art und Weise eines „Übergreifens” einer Seite
erfolgen, also als Wechselbeziehung zweier Größen, bei der eine von ihnen –
hier: die „produzierte” Natur - den Ton angibt. Hegels „Vermittlung” jedenfalls
führe zum falschen Ergebnis. Ihr hafte der Makel an, dass das „übergreifende
Moment” nicht zur Geltung komme. Richtig an dieser Kritik ist, dass
„Vermittlung” nicht zur Bewegungslosigkeit, zu einem Zustand führen darf, der
jede Entwicklung ausschließt. Aber so meint es Hegel auch nicht. Kein
„ruhiges”, sondern ein „lebendiges” Ganzes, das durchaus Ungleichheit kennt,
aber eine Ungleichheit, die durch die „Gerechtigkeit zur Gleichheit
zurückgebracht wird.” (Phän, S. 340).
[23] G. Lukacs (Die
Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S.435) zum Unterschied und dessen Bedeutung:
Der Leugnung der Erkennbarkeit des „Dinges
an sich” stelle Hegel dessen Erkennbarkeit gegenüber. Das sei der „springende
Punkt” der dialektischen Methode.
[24] Siehe dazu die
Ausführungen in der L (B), S. 24. Diese „Lücke” zeigt an, dass das Ineinandergreifen
von Wesen und Begriff nicht verstanden
wird. Dieses Unverständnis wiederum wird genutzt, um Hegel der
„Begriffshuberei” zu bezichtigen. Verkannt wird damit, dass gerade die Lehre
vom Wesen die Philosophie Hegels über jene Kants, aber auch über Philosophien
erhebt, die Hegel nachfolgen, einschließlich des Marxismus.
[25] L (B), S. 30.
[26] W. Dilthey,
a.a.O., S. 223.
[27] wie W. Jaeschke
(Einleitung zu G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen,
Hamburg 1992, S. XXXIII) zutreffend formuliert.
[28] Vgl. dazu die
Ausführungen L (W), S. 104 f.
[29] Vgl. Litt, a.a.O., S. 101.
[30] § 131 E – es hat also seinen tiefen Grund,
warum Hegel in § 181 R auf die § 112ff. und 131ff. E verweist.
[31] Die „Idee” fungiert gewissermaßen als „Merkposten”, der, nach Wegfall des bisherigen „Ganzen” an dessen Stelle tritt und an unsere jetzige Aufgabe erinnern soll.
[32] § 381/Z E (S.
23).
[33] In der Vorrede R
(S. 15) spricht er vom Staat als einer dritten, einer „sittlichen Welt” – und
meint damit jenen „Vernunftstaat”, der jetzt die Zerfallsprodukte zur „Einheit”
zusammenführt.
[34] Ebd.
[35] § 112/Z
E.
[36] Ebd.
[37] L (W), S. 146.
[38] § 131 E.
[39] § 131/Z E.
[40] M. Pawlik, Hegel
und die Vernünftigkeit des Wirklichen, Der Staat 2002, S. 186. Verdienst dieser
Arbeit, ist es, die bislang ignorierte dritte Dimension, das als Gestalt
zerschlagene, damit aber nicht zu Nichts gewordene Ganze, ins Licht zu rücken
und als Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Theorie und vor allem:
der juristischen und politischen Praxis, bewusst zu machen.
[41] Vgl. E. Bloch,
Subjekt – Objekt, Berlin 1951, S. 190f.
[42] L (B), S. 23.
[43] Ebd.
[44] Ebd., S. 23f.
[45] Ebd., S. 25.
[46] G. Lübbe-Wolff, Die
Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Birgit Sandkaulen/Volker
Gerhardt/Walter Jaeschke (Hrsg.), Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches
Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, S. 329.
[47] Siehe dazu: K.
Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 6. März 1868 (MEW Bd. 32, S. 538), wo er
seine Methode von der Hegels abgrenzt
und von der Hegelschen Dialektik nur gelten lässt, was nach „Abstreifung ihrer
mystischen Form” übrig bleibt.