Forderung der Zeit: der Weltstaat

(Das Vernünftige zur Institution gemacht: der Weltstaat)

 

Vorspruch:

Zwei Naturen. Eine, die „primäre“ bzw. „vorgefundene“[1], ist von Gott geschaffen, die andere, die „produzierte“ oder „sekundäre“ Natur, ist mittels Arbeit materiell gemachter menschlicher Geist. Arbeit bedeutet „Stoffwechsel“; bedeutet die Nutzung der „primären“ Natur und ihre Umformung in all jene „Dinge“, die in ihrer Gesamtheit die „produzierte“ Natur ausmachen. Aus Sicht der Produzenten dient die „primäre“ Natur nur diesem Zweck. Damit ist sie zur Rohstoffquelle, zum Objekt der Ausbeutung degradiert.

Über lange Zeiträume steht die „produzierte“ Natur als werdende Natur im Schatten ihres Gegenübers. Abertausende Jahre zeigt sie sich nur als Faustkeil, Steinaxt, Speer, Pfeil und Bogen, als einfache Töpferware und Lehmhütte. Nur langsam kommt sie in Schwung, schnellt dann aber exponentiell nach vorne und nach oben, wird erst sichtbar, dann unübersehbar. Schließlich das: sie wird als selbständige Natur erkannt und „anerkannt“; sie setzt nun ihr Dasein fort als „bürgerliche Gesellschaft“.[2] Der Zeitpunkt ihrer Emanzipation. Ein „epochaler Bruch“[3]. Souverän geworden, steht sie im Zentrum und bestimmt das Denken. Nach ihrem Bilde wird jetzt alle Natur erklärt. Aller Natur wird jetzt die Eigenschaft der „produzierten“ angedichtet. Damit ist ihr qualitativer Unterschied und mit ihm: ihr Gegensatz beiseite geschoben. Wir stehen vor einem Naturbegriff, dem das „Bauprinzip“ nur der „produzierten“ Natur zugrundeliegt. Eingeschlossen darin: ein Mensch, der durch die „Person“, durch jenen Teil-Menschen also ersetzt ist, der jetzt zum „archimedischen Punkt des politischen Denkens“[4] wird. Und nun, frei geworden, explodiert diese Natur geradezu. Inzwischen ist sie mit ihren Wohnsilos, Autobahnen, Fabriken und Warenlagern zu einer Wucherung geworden, die die „primäre“ Natur unter sich zu ersticken droht. Schon befindet sich letztere in höchster Gefahr – und mit ihr wir selbst. Denn das Schicksal dieser Natur ist auch unser Schicksal. Zerstören wir sie, zerstören wir uns selbst.

Wie also weiter? Warenvielfalt statt Artenvielfalt?

Die „produzierte“ Natur steht im Privateigentum der Art „Mensch“. Die „primäre“ Natur hingegen ist das Gemeineigentum aller Arten. Zu Privateigentum gemacht, kann sie nicht einmal mehr das Gemeineigentum der Menschheit sein; allenfalls ist sie dann das Privateigentum einiger Menschen. Schöne neue Welt. Wollen wir sie vermeiden, muss über den bisherigen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen nachgedacht werden. Vor allem aber: es muss gehandelt werden. Wie bisher kann es jedenfalls nicht weitergehen, ohne dass wir im Eiltempo auf den Kollaps zusteuern.   

 

Beide Naturen sind „Entgegengesetzte“. Sollen sie Bestand haben, muss ihr Gegensatz „vermittelt“ werden. „Vermittlung“: über lange Perioden der Menschheitsgeschichte bestand diese darin, dass die „primäre“ Natur die Vorherrschaft über die „produzierte“ ausübte. Dann dies, das zentrale Ereignis der Moderne: diese Vorherrschaft wechselt über zur „produzierten“ Natur. Ein Wechsel, der zusammenfällt mit Geburt und Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft. Eine Befreiung. Eine „Freiheit“, die uns, wie wir glauben, das Recht gibt, die „primäre“ Natur zum bloßen Objekt zu degradieren.

Eine bloße Umkehrung. Die „Vermittlung“ ist einer bloßen Beherrschung der einen durch die andere Natur gewichen. Das „Glück“ der einen wird zum Unglück der anderen Natur. Schlimm daran ist, dass es jetzt die Ursprungsnatur ist, die zugrunde gerichtet wird. Die Ozeane, das Klima, der Luftraum, das Eis der Pole, die Urwälder: All das war bereits Ende der siebziger Jahre gefährdet. Mit der Anfang der 80-er Jahre einsetzenden Globalisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der Ausprägung einer weltbürgerlichen Gesellschaft wurde eine neue Qualität des Wirtschaftens wie auch der Naturzerstörung erreicht; Zügellosigkeit griff um sich. Die von den Nationalstaaten ohnehin nur halbherzig errichteten und exekutierten Schranken und Kontrollsysteme wurden unterlaufen oder weggefegt. Abgesehen davon, dass sie ohnehin nur wenig ausrichten können, wo es um die „Weltallmende“ geht.

 

Welcher Ausweg?

Zu denken wäre an eine erneute „Umkehrung“. Wiederherstellung des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ in der modernen Gestalt einer Öko-Diktatur. Aber siehe oben: bloß Umkehrung!?

Das ist nicht Dialektik, das ist nicht Entwicklung, das ist nicht Hegel. Was also rät er uns? „Vernunft“ walten lassen! Vernunft über „vernünftige“ Institutionen zu exekutieren, sagt er uns. Die Geschichte wiederholt sich nicht – jedenfalls nicht anders als in Gestalt der „Aufhebung“. Das aufgehobene „naturwüchsige Gemeinwesen“ aber ist das Gemeinwesen als „Vernunftgestalt“.

Zwei Naturen – und jede soll Bestand haben. Das aber heißt, dass die „produzierte“ Natur nicht auf Kosten der Substanz der „primären“ leben darf, dass sie aufhören muss, diese Natur über deren Reproduktionskraft zu nutzen. Vernunft bedeutet Maßhalten und nicht Maßlosigkeit. Vernunft bedeutet nicht, das „Glück“ der einen durch das Unglück der anderen Natur zu befördern. Der Bestand der einen darf nicht den Bestand der anderen kosten. Das „Ganze“ muss erhalten bleiben. Vernunft bedeutet „Vermittlung“. All das führt uns zu jenem Staat, den er als den „sittlichen“, als den „Vernunftstaat“ bezeichnet. Ein Staat, der auf lokaler wie auf globaler Ebene die Einheit der beiden entgegengesetzten Naturen herzustellen und zu exekutieren in der Lage ist. Hegels Staatsphilosophie handelt von ihm.

 

Schon der Jenaer Hegel war sich klar darüber, dass die Entwicklung nach dem Untergang des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ nicht zu jenem Staat führen darf, der schließlich weltweit das Rennen macht: zum „Not- und Verstandesstaat“, d.h. zum Teil-Staat der „produzierten“ Natur. Seine bis heute unverstandene Polemik gegen England[5] zeigt es: Er sieht dort eine bedenkliche Fehlentwicklung, die nicht hinführt zum „Vernunftstaat“, sondern von ihm wegführt.[6]

Zwar ist auch der „Not- und Verstandesstaat“ ein notwendiger Staat. Aber er ist eben nur ein Teilstaat; dazu da, die bürgerliche Gesellschaft vor der Selbstzerstörung zu bewahren. Er ist unzuständig für die Belange der „primären“ Natur.

Was fehlt, heute spürbarer denn je, ist ein für beide Naturen „zuständiger“ und global agierender „Weltstaat“, unter dessen Dach sich die nahezu 200 Teilstaaten, unabhängig von ihrer Größe und Nationalität, zu stellen haben. Dessen wichtigste Aufgabe: ein überlebensfähiges Miteinander der beiden Naturen zu organisieren und mit allen dazu nötigen Machtmitteln zu exekutieren.

Damals, im Zeitalter der Nationalstaaten, eine kühne Vision.

                                              

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Nach Demokratie, Aristokratie und Monarchie, nach diesen „organischen“ Staatsformen der „alten Welt“, die die Entzweiung „historisch“[7] gemacht hat, ist nun die Zeit des „Vernunftstaates“ gekommen. Denn mit der Vernunft ist „ein Gedankenprinzip für den Staat gefunden ..., welches nun nicht mehr irgendein Prinzip ... ist, ... sondern das Prinzip der Gewissheit. ... Dies ist eine ungeheure Entdeckung über das Innerste und die Freiheit.“[8] Mit ihm ist das Schicksal gemeistert. Er überbrückt den Antagonismus der Naturen. Er ist der Staat der „Vermittlung“. Er muss vorhalten für alle Zukunft und ist insoweit der „Endstaat“.[9] Die Geschichte der „unvollkommenen Staaten“ endet und die selbstverantwortete Geschichte, die Geschichte der „vollkommenen“ Staaten beginnt.[10]

 

Der „Vernunftstaat“ ist scharf abgegrenzt von seinen historischen Vorgängern, bei denen die „Idee des Staates“ noch „eingehüllt“ war in den „naturwüchsigen“ Zusammenhang. Dort waren die „besonderen Bestimmungen derselben nicht zu freier Selbständigkeit gekommen“[11]. Dort wurde – wie an anderer Stelle bereits dargelegt – das „Ganze“ im Rahmen einer „Personalunion“ von der „primären“ Natur repräsentiert. Und noch schärfer ist er abgegrenzt gegen die scheinbare Neuauflage der „Personalunion“, wie sie unter Führung der „produzierten“ Natur vor uns steht. Wieder wirft sich ein Teil, diesmal die „produzierte“ Natur, zum Ganzen auf - ein besonders dynamischer, expansiver und aggressiver Teil, dem das „Ausschweifende und Maßlose“[12] innewohnt. Wir lassen zu, dass die Stunde des modernen Staates zur Stunde des „Not- und Verstandesstaates“ wird. Ein Staatsbegriff macht Furore, aus dem die „primäre“ Natur und die Pflicht ihr gegenüber eliminiert sind. Damit ist ein ins Verderben führender Zustand kultiviert und sanktioniert. Und zugleich ist damit die bittere Medizin verschmäht, die uns Hegel mit seinem Staat an die Hand gibt.

Zwei grundverschiedene Staaten. Gegenstand des „Vernunftstaates“ sind die zwei Naturen und deren „Vermittlung“. „Volk“, „Demokratie“, „Gewaltenteilung“, „Grundrechte“ spielen hier keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Aber nicht, weil Hegel ein „Volks-“ bzw. ein „Demokratiefeind“ wäre, sondern weil  sie sich auf die Binnenverhältnisse der „produzierten“ Natur beziehen und Gegenstand ihres „Not- und Verstandesstaates“ sind. Daran also kann der „Vernunftstaat“ nicht gemessen werden.[13] Wer das trotzdem tut, wer Hegel aus liberaler oder auch marxistischer Sicht deuten will[14], dem „bleibt Hegels Staatsgedanke … eine zunächst dunkle, gänzlich unverständliche Vergötterung des Staates.“[15]

 

Hält man „Gemeinwesen“ und „bürgerliche Gesellschaft“ nicht auseinander, ist die Sache klar: der Staat Hegels ist nicht unser Staat. Marx hätte recht mit dem, was er dazu in seiner „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ ausführt. Damals frisch zu Feuerbach konvertiert, begründet er mit seiner Kritik eine anthropozentrisch geprägte Sicht auf den Staat, die bis heute die fast einzige Sichtweise ist. Ihre Botschaft: Der Staat ist für den Menschen da – für den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, für die „Person“. Der Staat Hegels hingegen? Er ist weniger „Staat“ als „Mystik der Idee“.

Zwei Staaten. Der eine Staat, der „Not- und Verstandesstaat“, vertritt nur die Interessen der „produzierten“ Natur und ihrer Mitglieder. Seine Hauptaufgaben sind, die Aneignung der „primären“ Natur zu garantieren sowie, daraus folgend, „die Sicherung und der Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit“[16]. Er ist ein Staat gegen die „primäre“ Natur. Da er nicht von heute auf morgen hergestellt ist, zumal in Deutschland nicht, scheint jener des Jahres 1820 ein Staat des Übergangs zu sein. Und Hegel scheint jemand zu sein, der nicht sehen kann oder will, dass er auch in Preußen früher oder später dem „richtigen“, dem zeitgemäßen Staat Platz machen wird. Aber für Hegel ist gerade in dem, was den meisten seiner Kollegen als der „zeitgemäße“ Staat gilt, die „Idee des Staats“[17] verletzt. Er sieht ihn weiter von der Vernunft entfernt als den vom Sockel gestoßenen Feudalstaat, der, wie unvollkommen und nun auch: wie überlebt auch immer, beide Naturen repräsentierte. Jetzt aber ist das „Ganze“ außer Kurs gesetzt; mit dem „Not- und Verstandesstaat“ beginnt die Herrschaft des Teils. Philosophisch gesehen ist er ein Rückfall auf den Standpunkt der „Identität“, politisch gesehen auf den der „Totalität“. Er ist „total“ gegenüber der „primären“ Natur. Seine Daseinsweisen als „Rechtsstaat“ und „Betriebsstaat“[18], sind bereits porträtiert worden.   

Im „Vernunftstaat“ ist die Vereinseitigung und Hierarchisierung zugunsten der „produzierten“ Natur und der „Person“ rückgängig gemacht. Das zerstörerische Gegeneinander ist durch ein vernünftiges Miteinander ersetzt. Bliebe es bei der bloßen Umkehrung, bliebe es bei der bloßen Austauschung des „Naturprinzips“ durch das „Verstandesprinzip“, wäre das Schicksal der „primären“ Natur und des „tierischen“ Menschen besiegelt: Erstere unterläge der Zerstörung durch übermäßige Ausbeutung, letzterer unterläge dem „Artensterben“.

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Wir leben in einer „weltbürgerlichen“ Gesellschaft! War im 19. Jahrhundert und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Nationalstaat die zureichende politische Organisation der bürgerlichen Gesellschaft, so ist dieser schon längst von der Entwicklung überholt und zu Grabe getragen. Er unterlag und unterliegt dem Gericht des „allgemeinen Geistes“[19]; selbst die größeren unter ihnen erfahren inzwischen ihre „Denationalisierung“[20]. Und mit dem Nationalstaat wird das „Naturprinzip“ außer Kurs gesetzt; er kann auch das Wenige an Vermittlung, das von ihm ausging, nicht mehr leisten. Er ist dabei, zur nationalen Agentur eines verdeckt existierenden und agierenden Welt-Notstaates zu werden. Eine Entwicklung, die nicht zurückgedreht werden kann und deren Folgen am schwersten die „primäre“ Natur treffen, die jetzt global dem Angriff der anderen Seite ausgesetzt ist.

Aus dem Zerfall der „naturwüchsigen Gemeinwesen“ gingen die um konkrete Völker und Territorien, um konkrete geographische und klimatische Bedingungen zentrierten Nationalstaaten hervor. Mit ihnen entsteht ein Mix aus „Produktionsprinzip“ und „Naturprinzip“, also kein reiner „Not- und Verstandesstaat“. Die Herrschaft haben dort „die Penaten, die bürgerliche Gesellschaft und die Völkergeister in ihrer bunten Wirklichkeit“[21] inne. „Im friedlichen Zustande“ reicht ihr Regiment aus, um die bürgerliche Gesellschaft „sittlich“ zu halten, jedoch ist es „teils nur die Weise der bewusstlosen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag zur gegenseitigen Erhaltung und zur Erhaltung des Ganzen umschlägt …, teils aber ist es die direkte Einwirkung von oben, wodurch sie sowohl zu dem Zwecke des Ganzen fortdauernd zurückgeführt und danach beschränkt als angehalten werden, zu dieser Erhaltung direkte Leistungen zu machen“[22]. Eine, wenn auch nur indirekte und im Nachhinein wirkende, Korrektur des „Produktionsprinzips“ durch das „Naturprinzip“ findet statt. Eine lokal beschränkte, eine auch zeitlich beschränkte Lösung. Aber keine Dauerlösung. Der Nationalstaat „hat eine Geschichte innerhalb seiner.“ Aber als „beschränkter Geist ist seine Selbständigkeit ein Untergeordnetes“. Er ist durch das „Moment geographischer und klimatischer“ Besonderheiten bestimmt“ und als so „bestimmte[r] Volksgeist“[23] objektiv nicht imstande, der Zerstörung jener Natur entgegenzuwirken, die keinem einzelnen „Volksgeist“ zugeordnet ist. Aber die Gegenwart zeigt uns: Gerade diese Natur ist in Not; und „im Zustande der Not“[24] ist mehr gefordert, nämlich das Geltendmachen der Souveränität des Staates gegen die (selbst-)zerstörerischen Kräfte gerade auch der weltbürgerlich gewordenen Gesellschaft.

 

Längst also zeigt sich die „Endlichkeit dieser [nationalen] Geister“[25]; längst ist daher der Welt(vernunft)staat das Gebot der Zeit.

 

Bereits zur Zeit des Nationalstaates war die Natur und ihr Erhalt vielerlei „Zufälligkeiten“[26] ausgesetzt. Schon deshalb, weil das „sittliche Ganze“ auf globaler Ebene zu Hause ist, nicht auf nationaler. Einen mehr oder weniger umfassenden Schutz konnte daher allenfalls jene Natur erhoffen, die sich im „Privateigentum“ der jeweiligen Nation befand. Aber was ist mit der „Welt-Allmende“, also jener Natur, die außerhalb des Nationalstaates gelegen ist? Schon längst vollzieht sich vor unseren Augen die Tragödie der Gemeingüter, wie ein Blick auf den verpesteten Luftraum, auf die überfischten und verdreckten Weltmeere und auf das Klima zeigt – und auf die Folgen daraus, die wir Jahr für Jahr deutlicher zu spüren bekommen. Ihr Schutz muss auf globaler Ebene organisiert und exekutiert werden. Längst macht der „Geist der Welt“, der „unbeschränkte“ Geist, „sein Recht“ geltend – „und sein Recht ist das allerhöchste“[27]. Er fordert uns auf, den Weltstaat zu errichten, jenen Staat, der „Träger und Vollstrecker eines Rechts [ist], vor dem die Rechte aller einzelnen Staaten zurückzutreten haben, ja das geradezu einem an ihnen allen auszuübenden Gericht gleichkommt.“[28] .

 

Mit dem Nationalstaat hat sich die Geschichte des Staates noch nicht vollendet. Er verkörpert die erste Stufe des „Vernunftstaates“, d.h. die Stufe „unmittelbare[r] natürliche[r] Prinzipien“[29]. Doch längst unterliegt er und seine „beschränkten Prinzipien“ einem „Weltgerichte“[30], aus dem der  „Weltvernunftstaat“ hervorgeht.

Die Geschichte selbst hat die „Hieroglyphe“ entschlüsselt. Sie hat eine Lage herbeigeführt, die auf den „Welt-Vernunftstaat“ verweist. Er scheint mir angesprochen, wenn M. Riedel formuliert: „Der hegelsche Staatsbegriff, der nach rückwärts die Auflösung der ‚substantiellen Einheit‘ der alten und die eingetretene Differenz mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung hat, bezieht sich nach vorwärts auf eine weitere Sphäre – die der Weltgeschichte.“[31] Also kein „Ende der Geschichte“, natürlich nicht, „vielmehr das Ende einer Geschichtsperiode, den geschichtlichen Abschluss einer Welt“[32], die um den Nationalstaat zentriert war. Die von ihm umfassten „Völkergeister“ agieren mit abnehmender sittlicher Kraft, bleiben jedoch erhalten. In puncto „Sittlichkeit“ werden sie insoweit durch den „Welt-Vernunftstaat“ ersetzt. „Indem so die Philosophie des Staates sich auf dem Wege über die Vielheit der Staaten zur Weltgeschichte ausweitet, beginnt ein in den Grundlagen von Hegels System angelegter Gedanke seine bedeutsamen Konsequenzen zu entfalten“, merkt Litt[33] dazu an.

Was aber ist, wenn diese Entwicklung, die ja unserer Mitwirkung bedarf, ausbleibt? Nun, fehlt es dauerhaft an der vermittelnden Instanz, rückt jenes „vernunftentblößte Tun“ in den Vordergrund, das sich, wie Litt formuliert[34], am deutlichsten in der „Verneinung des Allgemeinen“ zeigt. Die Folge: die „primäre“ Natur gerät ins Hintertreffen - und dies umso mehr, je mehr der Nationalstaat durch eine weltbürgerliche Gesellschaft außer Kraft gesetzt wird.

Hegel ist Realist. Mit Aus- und Höhenflügen ins Utopische hält er sich zurück. Er überlässt der Geschichte, in welcher konkreten Gestalt der Weltstaat auftreten wird. Mehr als grobe Konturen zeichnet er nicht. Diese Unschärfe lässt H. Ottmann fragen, ob nicht, nachdem zunächst zum Staat als der institutionalisierten Sittlichkeit aufgestiegen wird, jetzt in diesem letzten Teil „ein seltsamer Abstieg“[35] herauszulesen ist? Verzichtet er am Ende seiner „Rechtsphilosophie“ „auf alles Fordern und Postulieren“? Lässt er „die Welt der Staaten, wie sie ist“?[36] Noch kritischer beurteilt V. Hösle den Schluss, den uns Hegel im Teil (C) der Staatsphilosophie bietet. Lässt Hegel alles beim „Naturzustand“ enden, aus dem doch gerade dem gesamten Inhalt seiner Philosophie nach herauszugehen ist? Weshalb der „Rückfall auf eine Ebene, die in den ersten Paragrafen der Rechtsphilosophie schon überwunden sein sollte“?[37]

Solche Fragen, solche Urteile messen an Kant und seinem Weltstaatenbund. Diesem aber liegt der „Vertragsstaat“ zu Grunde. Und dieser zielt darauf ab, die Kräfte gegen die „primäre“ Natur zu bündeln, er zielt auf Absprachen, die ihrer effektiveren Ausbeutung dienen sollen. Allein die Logik sagt uns, dass er den „Weltstaat“ bereits begrifflich ausschließt. Denn er basiert auf dem eigennützigen Vertrag, nicht auf der gemeinnützigen Vernunft. Im § 333/A R spricht Hegel aus, was ihm daran nicht genügt: „Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise, d.i. nach besonderen Willen.“ Es bleibt bei unverbindlichen Traktaten, es bleibt „beim Sollen“.[38] Und dieser Zustand wäre auch nicht dadurch gebessert, wenn die „Zusammenschmelzung“ der vielen Nationalstaaten  „durch eine, die anderen überwachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht“[39] gelänge und mittels ihrer Herrschaft  „Einstimmigkeit“ erzwungen werden könnte. Es bliebe trotzdem beim „Willkürwillen“. Ein Oberteufel hätte sich die anderen Teufel botmäßig gemacht. Aus der Sicht Hegels: ein globaler „Not- und Verstandesstaat“. Aber wenn Hegel eines nicht will, dann ihn. Denn mit ihm wäre die Entgegensetzung „fest“ gezurrt. Der Bock wäre zum Gärtner gemacht. Heraus käme das Übelste an „Staat“, was der „primären“ Natur geschehen könnte. Jede Korrekturinstanz wäre mit ihm beseitigt. Die richtige Natur wäre ihrem Gegenüber auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

 

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Hegel und Kant unterscheiden sich darin, dass Kant nur bis zur Idee des „Vernunftstaates“ gelangt. Weil er aber die Idee nicht als „gestaltloses Sein“, nicht als den Übergang vom „naturwüchsigen Gemeinwesen“ zum „Vernunftstaat“ versteht, endet er insoweit beim bloßen „Sollen“, tatsächlich aber bei der Akzeptanz des „Not- und Verstandesstaates“. Weil bei ihm die Idee „Idee“ bleibt, muss es in der Praxis wenigstens zur Umwandlung des „Jeder gegen jeden“ der bürgerlichen Gesellschaft – „wenn nicht alles verloren werden soll“ – durch das bloß „negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden … Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten“[40]. Ein Burgfriede für die Zeit unseres Krieges gegen die andere Natur. Und selbst er ist durch solchen Bund keineswegs sichergestellt, sondern „in beständiger Gefahr“[41].

Der „Not- und Verstandesstaat“ versteht sich bereits aus der Logik des Begriffs „Vertrag“ heraus nur als eine Mehrheit von Staaten. Der Atomismus der „produzierten“ Natur, ausgedrückt in der „Person“, setzt sich auf der Ebene des Staates fort. Was auf der privatrechtlichen Ebene der Verbund von „Personen“ ist, ist also hier, auf dieser Ebene, der Staatenbund. Weltbürgerrecht und Staatenbund bilden von daher eine Einheit; beide folgen der Vertrags-Logik. Doch wie schon gezeigt: der Bund solcher „Vertragsstaaten“ als Reaktion auf die jetzt weltbürgerliche Gesellschaft bliebe ein Bündnis gegen die andere Natur. Er bliebe, was er auch auf nationaler Ebene war: der „willenlose Mittelpunkt“[42] der „produzierten“ Natur. 

1820 war die Zeit für den „Weltvernunftstaat“ noch nicht reif, er lag noch zu weit in der Zukunft. Der „Weltgeist“ musste erst “Objektivität … in Gesetzen“ und Institutionen erlangen, ehe er „in den Zustand eines Staates“ übergeht.[43] Wir brauchen uns also nicht „abgespeist“ fühlen, wenn Hegel ihn uns nur im Umriss zeigt. In der „Weltgeschichte“ ist er als Staat der Zukunft durchaus vorweggedacht. Das wird übersehen, wenn gefragt wird[44], worin sich Hegel von Kant und dessen Weltbürgerrecht und Weltstaatenbund unterscheidet und weshalb er seine „Rechtsphilosophie“ nicht ebenfalls in solche Forderungen einmünden lässt.

Der Schluss, mit dem Hegel aufwartet, ist also nicht „eigenartig“ oder gar „unhaltbar“, sondern, wie M. Pawlik[45] urteilt, „systematisch vollkommen konsequent“. Richtig ist aber: Wo Kant etwas Handfestes parat hat – und trotzdem keine Lösung -, ist bei Hegel einerseits noch alles offen und andererseits doch schon der Weg gewiesen. Die „Weltgeschichte“ als Teil des Begriffs „Staat“ zeigt es uns; mit ihr zeigt er, dass er das Problem im Blick hat. Zu Hegels Zeit ist die Weltgestalt des „Vernunftstaates“ nicht aktuell. Doch die Geschichte ruht nicht; sie wird dem Weltstaat den Boden bereiten. Die historische Mission des Nationalstaates hingegen wird sich erschöpfen – was nicht heißt, dass die  ethnischen, sprachlichen, kulturellen u.a. Besonderheiten verschwinden.[46]

Was 1820 noch „allgemeine Idee“[47] war, ist heute längst das dringende, ja überfällige Erfordernis der Zeit. Hier, auf Weltebene, entfaltet der „Vernunftstaat“ sein Potential. Hier bleibt die „bunte Wirklichkeit“ der „Völkergeister“ außer Betracht. Hier interessiert die Weltgeschichte nur als Resultat und als die Wahrheit aller Geschichte, als „geistige Wirklichkeit“[48]. Hier geht es nicht um die Belange einzelner Völker, Nationen oder Rassen, sondern um die „Gattung“[49]. Hier geht es um das universell gewordene „Gemeinwesen“, in welchem wahr wird, was E. Gans schon 1833 zum Ausdruck bringt:  „[W]as die vergangenen Jahrhunderte trennten, muss sich jetzt wieder zusammentun und organisch auszubilden suchen.“[50] Unter dem Zepter der Vernunft wiederholen sich in ihm die „ungetrennten“, auf lokaler Ebene existierenden, Miniatur-Gemeinwesen der Antike.

 

Der Weltstaat als Korrektor der weltbürgerlichen Gesellschaft. Ein Weltstaat und viele Nationalstaaten, die sich um „dessen Thron“[51] scharen. Ein Weltbundesstaat anstatt des Weltstaatenbundes. Welch ein „ungeheures Schauspiel“! „Von der Höhe des Staates aus sieht man die einzelnen Staaten, als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen, und der kurze Abriss der Entwicklung derselben ist nur die Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen.“[52] Eine kühne, bis heute eher missverstandene Vision, ausgesprochen zu einer Zeit, als der Nationalstaat der letzte „Schrei“ der Geschichte ist. Dem Weltstaat ist zu leisten auferlegt, was die „Völkergeister“ nicht zu leisten vermögen. Diese bleiben. Aber sie sind jetzt an ihren richtigen Platz gestellt. Wohin es führt, wollte man sie ignorieren, deutet Hegel an mehreren Stellen an. „Das Volk als Staat“ bleibt. Jeder „Völkerstaat“ bleibt „gegen die andern in souveräner Selbständigkeit.“[53] Aber die Bedeutung hat sich umgekehrt. Die Vermittlung der beiden Naturen wird zur Aufgabe des Weltstaates. Ihn zu installieren und handlungsfähig zu machen wäre deshalb das bedeutsamste Geschehnis der Zukunft. Mit ihm wäre die Führungslosigkeit des Gemeinwesens auf jener Ebene beendet, wo der Staat als adäquates Gegengewicht der weltbürgerlichen Gesellschaft auftreten kann.

Wie die alten Griechen, wie auch unsere germanischen Vorfahren mit ihrer selbstgeschaffenen und mit der „vorgefundenen“ Natur in einem „naturwüchsigen“ Gemeinwesen zusammengefasst waren und damit auskommen mussten, so wird auch der „Vernunftstaat“ Hegels uns und damit beide zu uns gehörende Naturen zusammen fassen. Während den Alten aber dieses „Zusammen“ auferlegt war und über „Blut und Boden“ exekutiert wurde, ist uns auferlegt, es uns selbst zu schaffen. Der „Vernunftstaat“ kommt also nicht von allein. Wir entscheiden mit unserem Denken und Handeln darüber, ob es ihn gibt oder nicht. Aber eines zeichnet sich bereits deutlich ab: die Zeit ihn zu errichten ist überreif. Und wenn er ausbleibt, ist unser Schicksal besiegelt.

Die Nationalgeschichte des Staates weicht seiner Weltgeschichte. Die „sittliche Substanz“ des Nationalstaates ist „eine besondere und beschränkte“[54]. Sie ist durch viele „Zufälligkeiten“ geprägt. Anders beim Weltvernunftstaat. Dort erhebt sich das Zufällige zur „Wesentlichkeit“.[55]  Der beschränkte Geist geht „in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besondern Völkergeister, das Weltgericht, darstellen.“[56] Der Nationalstaat geht nicht verloren. Er wird jedoch gegenüber dem Weltvernunftstaat ein „Untergeordnetes“.

Mit der „Weltgeschichte“ zielt Hegel auf die Zukunft. Diese geht auf den Weltstaat zu; sie gebiert ihn zu gegebener Zeit; er ist ihr Endzweck. [57] Zur Entstehung gelangt, ist er die „absolute Macht gegen die individuellen Staaten“[58], ist ihnen gegenüber die „übergreifende Einheit“, ist „ein drittes Verbindendes über ihnen“[59]. Nur er kann den zerstörerischen Kräften Paroli bieten, die von einer weltbürgerlich gewordenen Gesellschaft ausgehen. Und es wäre geradezu eine Einladung an diese, wenn er ausbliebe. Der globalisierte Kapitalismus, der seit den 90er Jahren in Orkanstärke über die Erde fegt, sollte uns dies längst gezeigt haben. Mit ihm hat die „produzierte“ Natur ihr Ziel erreicht: sie ist nahezu völlig frei geworden, sie hat sich nahezu aller Kontrolle entzogen. Sie ist nahezu bar jeder Verpflichtung der Schöpfung gegenüber. Was ihr als Staat entgegentritt, die rund 200 Nationalstaaten, ist, hier deutlich, dort weniger deutlich, in die Knie gezwungen. Stück für Stück geben selbst die reichen und großen unter ihnen ihre sozialen und sittlichen Kompetenzen preis und werden zum Spielball, ja zu ihrem Handlanger. Die kriegerischen Konflikte, die Flüchtlingsströme, der weltweite Terrorismus zeigen uns: Die Erde ist zum „Ganzen“ geworden. Täglich haben wir die globalen Auswirkungen unseres Tuns vor Augen. Global muss daher vermittelt und gegengesteuert werden. Der jetzige Zustand jedenfalls ist nicht nur ein Hindernis bei der Lösung der Umweltprobleme, sondern ist längst zum Verschiebebahnhof der Probleme geworden. Reiche Länder können es sich leisten, ihre nationale Umwelt sauber zu halten, weil sie „schmutzige“ Industrien in ärmere Länder verlagern. Sie können den eigenen Waldbestand schonen und schützen zu Lasten der Wälder des Amazonas- und Kongogebietes. Dies alles gebietet den Weltstaat. Dass er auch die zahlreichen Oasen für eine wachsende Zahl Wirtschaftskrimineller und Steuerflüchtlinge trocken legen könnte, sei nur am Rande erwähnt.

Der Weltvernunftstaat böte eine Alternative zu den Versuchen, der Umweltkrise mit den „Wunderwaffen“ der bürgerlichen Gesellschaft: „Privateigentum“ und „Privatisierung“, zu Leibe zu rücken, um auch daraus noch eine Quelle des Profits zu machen. Aber privatisierte Natur ist versklavte und vom Gemeingebrauch ausgeschlossene Natur. Jede gentechnisch veränderte Natur (zum Beispiel) ist Ware geworden, ist Natur, von der jeder andere ausgeschlossen ist, es sei denn, er zahlt dafür. Man denke das weiter: Sind Luft und Wasser dreckig genug, wird es saubere Luft, sauberes Wasser, abgefüllt in Flaschen, im Supermarkt geben – alternativlos, wenn man überleben will. Und ein „Bombengeschäft“ für jene, die solche „Produkte“ auf den Markt bringen.

 

Im Zusatz zu § 279 R heißt es: „Bei der Organisation des Staates … muss man nichts vor sich haben, als die Notwendigkeit der Idee in sich: alle anderen Gesichtspunkte müssen verschwinden“. Damit ist betont, dass die Vermittlung der Naturen die Hauptaufgabe geworden ist. Der „Vernunftstaat“ hat jetzt jene „letzte Entscheidung“ zu treffen, die die antiken Völker „aus ganz äußeren Erscheinungen genommen haben, aus den Orakeln, den Eingeweiden der Opfertiere, aus dem Flug der Vögel“. Es folgt ein Satz, eine Aufforderung, den/die wir heute wörtlich nehmen sollten: Uns zur Natur „als zu einer Macht verhalten, die da verkündet und ausspricht, was den Menschen gut sei.“ Wir sind fortgeschritten genug, dass wir heute unser Handeln nicht mehr auf Orakelsprüche und dergleichen stützen müssen. Es reicht, wenn wir wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen folgen würden. Wir wissen längst,  was zu tun ist. Und die Natur selbst zeigt uns immer eindringlicher und spürbarer ihren Unmut.

 

Zusammenfassend kann man sagen, dass Hegels Staat auf zwei Ebenen existiert:

a)      als Staat der „Völkergeister“, d.h. als Nationalstaat. Er verschafft den unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, sprachlichen, geographischen Unterschieden und Besonderheiten im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler bzw. nationaler Ebene Geltung;

b)      als Staat des globalen „Ganzen“; der Weltstaat. Dessen Kernkompetenz: die „Naturfrage“.

 

Der sittliche Staat versteht sich somit als ein als Weltbundesstaat, dessen Glieder den heutigen Nationalstaaten entsprächen. Und die Souveränitätsverluste, die er mit sich brächte? Mindestens uns Europäern wären sie nicht neu. Wir brauchen nur an die EU denken, auf die in den Jahren ihres Bestehens Schritt für Schritt nationale Kompetenzen verlagert wurden. Allerdings sind diese eher ein Beispiel für einen supranationalen „Not- und Verstandesstaat“, nicht aber für einen „Vernunftstaat“. Im Übrigen ginge es einzig und allein um Einschränkungen der Souveränität zu Gunsten der „primären“ Natur; es ginge um eine Reduzierung der nur angemaßten Souveränität.

Oberste Ziele des Weltvernunftstaates müssten sein:

Kein Wachstum der „produzierten“ Natur auf Kosten der Substanz der anderen Natur. Ausgeglichene Staatshaushalte und ausgeglichene Naturhaushalte. Also Abstimmung der „Produktivitäten“ beider Naturen aufeinander.

Um das zu erreichen, müssen ihm die nötigen Mittel, auch polizeiliche und militärische, an die Hand gegeben werden.

Wir brauchten nicht bei Null anfangen, wollten wir ihn errichten. Es gibt die UN. Deren Ohnmacht zeigt derzeit zwar nur auf, wie sehr die „primäre“ Natur an den Rand geschoben ist. Aber das wäre änderbar. Ihr umfangreicher, eingeübter bürokratischer Apparat, ihr  Sachverstand, ihre Baulichkeiten stünden bereit und könnten als Keimzelle dienen. Und wir brauchten für den Weltstaat auch keinen Monarchen, denn das Entscheidende an der konstitutionellen Monarchie ist nicht er, sondern die Konstitution. Diese verweist auf ein Gremium, in dem beide Naturen und ihre Interessen gleichberechtigt vertreten sind und auf eine Regierung, die frei und mächtig genug ist, das als vernünftig Erkannte und Beschlossene zu exekutieren. Ein Staat, der sich nach Organisation und Inhalt deutlich vom „Not- und Verstandesstaat“ unterscheidet. Ein Staat, der der bürgerlichen Gesellschaft und den dort Agierenden ihre Grenzen aufzeigt und diese Grenzen auch durchsetzt. Verantwortung trügen im „Vernunftstaat“ Mitmenschen, die integer, sachkundig, politisch wie ökonomisch unabhängig sein müssten – Beamte im besten Sinne des Wortes. Auszuschließen wäre das heute in den oberen Etagen des Politikbetriebes schon fast üblich gewordene Wechselns vom „Amtsverhältnis“ in das „Vertragsverhältnis“[60]; die „Oberherrschaft“ des bürgerlichen Rechts müsste auf dieser Ebene gebrochen werden.[61]



[1] § 39 R.

[2] Wird zur „Objektivation mit ontisch eigener Aktualität“, wie es bei M. Winkler (a.a.O., S. 209) heißt.

[3] A. Adam, Despotie der Vernunft, Freiburg/München 1999, S. 253. Dieser Bruch verbindet sich mit dem Aufstieg des „Vertragsdenkens“, dieser „privatrechtlichen Antwort“ auf ein Problem, „das gerade nicht privatrechtlicher Art ist.“ (ebd., S. 251f.)

[4]  Adam, a.a.O., S. 252.

[5] in der Reformbillschrift von 1831.

[6] Ich verweise dazu auf den Beitrag „Hegel und England“.

[7] § 273/A R. Rosenzweig (Hegel und der Staat, hrsg. v. Frank Lachmann, Berlin 2010., S 412) interpretiert: „Monarchie, Aristokratie, Demokratie stehen nicht als gleichberechtigte Möglichkeiten nebeneinander. … Die moderne konstitutionelle Monarchie kann gar nicht … neben Aristokratie und Demokratie als dritte Form treten.“

[8] Hegel VPhG, MM 12, S. 527. Die Vernunft wird jetzt „zum Zweck und Wesen des Ganzen“ gemacht – nicht mehr (irgend)eine „Einzelheit“ und das „Gequäle darüber“, welche von ihnen der richtige Ausgangspunkt ist. (NR, S. 441).

[9] Ebd., S. 524: „Mit diesem formell absoluten Prinzip [der  Vernunft – B.R.] kommen wir an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.“ (Hervorhebung bei H.).

[10] In der Terminologie des Marxismus: es endet die „Vorgeschichte“ der politischen Organisation und ihre eigentliche Geschichte  beginnt (vgl.MEW Bd. 13, S. 9 u. S. 475).

[11] § 260/Z R - also von Monarchie, Aristokratie und Demokratie.

[12] § 185/Z R.

[13] Deshalb hebt M. Wolff (Hegels staatstheoretischer Organizismus, HS 19 [1985], S. 147-178) ihre ganz entgegengesetzten Strukturen, die „atomistische“ hier, die „organismische“ dort, hervor.

[14] Als ein Beispiel sei auf J. Hyppolite (Der Hegelsche Staatsbegriff und seine Kritik durch Karl Marx, in: M. Riedel, Materialien 2, S. 441-461) verwiesen.

[15] G. Giese, Hegels Staatsidee und der Begriff der Staatserziehung; Halle/Saale 1926, S. 4.

[16] § 258/A R.

[17] § 258/Z R.

[18] Siehe dazu: B. Rettig, Hegels sittlicher Staat, S. 300 ff. sowie der Beitrag zum „Betriebsstaat“ auf dieser Plattform.

[19] § 341 R.

[20] W. Pauly, Hegel und die Frage nach dem Staat, Der Staat 39 (2002), S. 393.

[21] § 341 R.

[22] § 278/A R. – Hervorhebungen bei H.

[23] § 548 E.

[24] § 278/A R.

[25] § 340 R.

[26] Vgl. ebd.

[27] Ebd. Siehe auch B. Bourgeois (Der Begriff des Staates, in: L. Siep [Hrsg.], G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 228): „Für Hegel ist das unwiderstehlichste Staatsrecht das Recht des Weltgeistes“.

[28] Theodor Litt, Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, S. 122.

[29] § 346 R.

[30] § 340 R.

[31] M. Riedel, Zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 59.

[32] R. Kroner, System und Geschichte bei Hegel, Logos 20 (1931), S. 251.

[33] Litt, a.a.O., S. 123.

[34] Litt, a.a.O., S. 127.

[35] H. Ottmann, Die Weltgeschichte, in: L. Siep (Hrsg.), G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 282.

[36] Ebd., S. 267.

[37] V. Hösle, Der Staat, in: C. Jermann (Hrsg.), Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, S. 219f.

[38] … was uns an die UNO und deren klägliches Agieren in den zahlreichen kriegerischen Konflikten unserer Zeit erinnern sollte.

[39] Kant, Zum ewigen Frieden (ZEF), Wke. Bd. 6, S. 118 (Dritter Definitivartikel, Erster Zusatz).

[40] Kant, ZEF, Zweiter Definitivartikel.

[41] Ebd.

[42] VPhG, S. 61.

[43] § 349 R.

[44] Ottmann, Die Weltgeschichte, a.a.O., S. 267.

[45] M. Pawlik, Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen, Der Staat 41 (2002), S. 185.

[46] Versuche, sie auszumerzen oder zu ignorieren, das hat die Geschichte oft genug gezeigt, führen zu  Fehlentwicklungen, die Auslöser von  Kriegen und Bürgerkriegen sein können. Sie müssen also weiterhin respektiert werden.

[47] § 259 R.

[48] § 341 R.

[49] § 259 R.

[50] In der Vorrede der von ihm 1833 herausgebrachten 2. Auflage der „Rechtsphilosophie“, enthalten in der Edition Ilting Bd. I, S. 593.

[51] § 352 R.

[52] E. Gans, a.a.O.

[53] § 331; vgl. auch § 322/A R.

[54] Vgl. § 552 E. Er verweist auf „das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit“ = die „Naturseite“ (§ 548 E).

[55] Ebd. (§ 552 E).

[56] § 548 E.

[57] § 549/A E: „Dass der Geschichte und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an-und-für-sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisiert worden sei und werde, - der Plan der Vorsehung“.

[58] § 259 R.

[59] § 259/Z R.

[60] Vgl. § 294/A R.

[61] Wie Hegel bereits im NR-Aufsatz (S. 518) fordert. Damit wäre eine Quelle jenes üblich gewordenen, bereits von M. Weber (Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in ders., Wirtschaft, Staat, Sozialpolitik, Schriften und Reden   1900-1912, Gesamtausgabe I/8, Tübingen 1998, S. 273) angeprangerten, Geschäftssinns trocken gelegt, mit dem Politik zunehmend betrieben wird.  

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