Brennpunkt „System“: das Geschichtsbild Hegels

 

Es besteht ein „ausgesprochene[r] Widerwille vieler, ja der meisten Historiker gegen eine dialektische ‚Konstruktion‘ der Geschichte.“[1]

Das „System“ ist ein Brennpunkt der Kritik an Hegel. Von vielen Seiten wird es ihm angekreidet. Bekannt sind die Äußerungen F. Engels dazu. Es sei damals „Mode“ gewesen, ein eigenes „System“ zu entwickeln, sagt er entschuldigend und abwertend zugleich. Er sagt es zu einer Zeit, in der es „Mode“ war, kein „System“ zu haben. In seiner „Feuerbach-Schrift“ heißt es, Hegel versuche bürgerliche Gesellschaft und Gott zur Einheit zu bringen, womit er seine Philosophie entwerte und sie zahm und hoffähig mache. Eingepfercht darin „wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen.“[2] Marx/Engels, so ihr Anspruch, „retten“ daher den Kern der Hegelschen  Philosophie, indem sie das „System“ zerschlagen. Damit, so glauben sie, sei Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt.

Bis heute herrscht die Meinung vor, Hegel habe mit dem „System“ die Geschichte vergewaltigt.[3]  Doch wir werden sehen: Ohne das System wird Hegel kopflos gemacht. Oder ortlos – wenn man bedenkt, dass das „System“ seine Methode verortet. Und auch dies: erst das „System“ macht die Philosophie Hegels zu einer „Sozialphilosophie“[4].

Hegel lebt in einer „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode“[5]. Aber für ihn ist die Geschichte nicht die Geschichte von Klassenkämpfen, sondern in erster Linie die der Vermittlung des Antagonismus zweier wesensungleicher Naturen. Da im Deutschland seiner Zeit gerade das durch „Blut und Boden“ geprägte Gemeinwesen zerfällt, kann das nicht genug betont werden. Er fragt: Wer beerbt es, was folgt ihm nach?

Die Vertreter der Aufklärung haben bereits den Schluss gezogen, dass das „Gemeinwesen“ überhaupt aus der Welt ist. Erst in der Theorie und seit 1789 auch in der Praxis. Was darin eingebunden war ist nun frei: die bürgerliche Gesellschaft und die Atome, aus denen sie zusammengesetzt ist, die Individuen. Sie stehen nun im Licht. Ein „herrlicher Sonnenaufgang“, dem sich auch Hegel nicht verschließt. Aber, gibt er zu bedenken, das gerade aufgelöste Gemeinwesen war die Einheit zweier Naturen! Und über den Jubel hinweg fragt Hegel nach dieser anderen, nach der „vorgefundenen“[6] Natur. Was ist ihr Schicksal?  Teilt sie die Freiheit der „produzierten“ Natur? Und was ist mit dem Antagonismus, der zwischen den beiden Naturen steht und bisher über das Gemeinwesen vermittelt wurde?

Bereits Kant hatte sich das gefragt. Er hat den Standpunkt der Aufklärer  relativiert und lässt das von ihnen totgesagte Gemeinwesen wenigstens als „Ding an sich“ gelten. Aber das genügt Hegel nicht. Er ahnt es zunächst nur, ist sich dessen aber bald gewiss: Das Gemeinwesen ist nicht einfach zu Nichts geworden ist. Es existiert auch weiterhin. Jedoch nicht mehr als „Naturgestalt“, sondern als „Vernunftgestalt“. Er macht sich auf, diese „Vernunftgestalt“ sichtbar und zum Gegenstand einer praktischen Philosophie zu machen. Denn darüber ist er sich bereits im Klaren: Die Geschichte der Menschheit bleibt auch weiterhin eine Geschichte beider Naturen. Sie vollzieht sich nicht nur im Rahmen jener Natur, die jetzt als „bürgerliche Gesellschaft“ ins Licht getreten ist. Das weitere Schicksal der Menschheit ist von der „primären“ Natur nicht zu trennen. Sie wird daher notwendiger Teil auch der zukünftigen Geschichte sein.

Mit dem bisherigen Gemeinwesen ist ein „Ganzes“ zerbrochen. Zutage getreten sind seine Teile, die beiden Naturen. Aber zum Gegenstand jener Philosophien, die für Hegel bloße „Reflexion“ sind, wird nur die „produzierte“ Natur, wird nur ein Teil von zweien. Sie scheint an die Stelle des vormaligen „Ganzen“ getreten zu sein. Hegel hält dagegen: Zwei Naturen – nicht bloß die eine. Woraus folgt: weder ein Teil noch beide Teile zusammen sind das Ganze. Was sich jetzt auf der empirischen Ebene zeigt, die Teile, ist also nur ein Zwischenergebnis, das als solches auf ein neues „Ganzes“ verweist. Schon in Jena fixiert er dessen Umrisse. Das neue „Ganze“! Ihm sind seine Werke zur „Logik“, ihm ist auch seine „Rechtsphilosophie“ gewidmet.[7] 

Während die Reflexionsphilosophen am Sichtbaren kleben, geht es Hegel um den Nachweis, dass zum jetzigen Sein nicht nur das Sichtbare, sondern auch jenes Sichtbar-Unsichtbare zählt, das Gegenstand der Wesenslogik[8] ist. Ja, das „naturwüchsige“ Gemeinwesen ist zerfallen. Aber es zerfällt, indem es sich wandelt – und zwar aus einem biologisch bzw. organismisch geprägten Zusammenhang in den logisch geprägten des Ganzen und seiner Teile. Eine Konstante ist der Antagonismus zwischen den beiden Naturen, die jetzt zu „Teilen“ geworden sind. Ihn zu vermitteln ist die Aufgabe des neuen Ganzen, das aus der „Vernunft“ hervorgeht - die „Vernunftgestalt“.

Hegel prägt den Begriff der „relativen Totalität“[9]. Die aus dem Zerfall hervorgehenden Teile sind zwar Totalitäten, aber  sie sind eben nur relative Totalitäten. Das ist die Folge des Verbunds der Teile mit dem Ganzen; ebenso ist dieser Verbund die Quelle der „Vermittlung“. 

Die Abfolge von Gesellschaftsformationen unter Führung des „Naturprinzips“, diese Vorgeschichte, ist beendet. Die weitere Geschichte hat ihre Grundlage in der „Vernunft“.[10] Der bisherige biologisch geprägte Organismus hat der „Vernunftgestalt“ Platz gemacht. Das vormalige Ganze geht verloren, aber es wird nicht zu Nichts. Es verliert lediglich seine frühere Gestalt, wird „gestaltlos“ und harrt nun darauf, in die „Vernunftgestalt“ überführt zu werden. Diese historisch einmalige Situation, von Hegel im Deutschland dieser Zeit hautnah erlebt, wird der zentrale Gegenstand seiner praktischen Philosophie.

Die Frage, die Hegel bewegt: Wie sieht es aus – das jetzige auf Vernunft basierende „Ganze“? 

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System ist nicht gleich System. Das „wahre“ ist vom „falschen“, das wissenschaftliche vom unwissenschaftlichen zu unterscheiden.[11] Es führt zu nichts, nur das eine oder andere Teil zum „Ganzen“ zu erklären. Gegen  Spinoza gerichtet, schreibt Hegel: „[A]ls ob das wahre System dem falschen nur entgegengesetzt sei“[!] Es kommt auf den „Standpunkt“ an, den ich einnehme. Nur der „höchste Standpunkt“, der nicht der Standpunkt der „Entgegengesetzten“ sein kann, führt zum richtigen Ergebnis. Denn nur dieser „höchste Standpunkt“, der Standpunkt der „Vernunft“, enthält die untergeordneten in sich.[12] Die Frage muss also auf Basis der Dialektik gestellt und beantwortet werden, weil nur so das jetzige Ganze und mit ihm: die Vernunft, sichtbar wird. Und mit ihm die Vermittlungsinstanz, die sich auf die jetzige „Entgegensetzung“ bezieht und ihre Folgen korrigiert. Dieses Anliegen wird von Marx/Engels, überhaupt von allen, die die neue Zeit vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft beurteilen, übersehen und falsch gewürdigt.

Ausführlich äußert sich K. Rosenkranz in seiner Hegel-Biographie. Besonders aus der Sicht des hier zugrunde gelegten Ansatzes sind seine Ausführungen noch immer aktuell, ja tragen mehr zum Verständnis bei als viele neuere Arbeiten. Rosenkranz macht deutlich: Für die Anfänge mag gelten, was Engels spöttisch/nachsichtig dazu sagt. Angestachelt durch Schelling und dessen wissenschaftlichen Höhenflug, sah auch Hegel „sich genötigt, ein System zu machen.“[13] Mit einem solchen in der Tasche, gefertigt in der damals üblichen Manier, also überaus scholastisch, schwerfällig, spekulativ, begibt er sich von Frankfurt nach Jena, um sich dort als Wissenschaftler zu etablieren. Aber er erkennt bald das Ungenügende daran und ist in der ganzen Jenaer Zeit darum bemüht, es „nachzubessern“[14]. Es sind didaktische Gründe[15], vor allem aber solche, die sich aus den Erkenntnissen ergeben, die ihm zuwachsen - insbesondere aus seinem Studium der englischen Ökonomen sowie aus der immer tieferen geistigen Durchdringung der Fragestellungen der modernen Zeit. Erste größere Gelegenheit zur Korrektur und Ergänzung bot der „Naturrechtsaufsatz“ von 1802. „Hier war, wo er zuerst sein eigenes System bestimmter hervortreten ließ.“[16] Die Auseinandersetzung mit Kant, Fichte, dann auch mit Schelling bringt ihn darauf: „Die Einheit fehlte.“[17] Wo mit der Trias Idee, Geist, Natur zu arbeiten war, begnügte sich deren Philosophie mit dem althergebrachten Dualismus a la Aristoteles. Aber was über tausend Jahre ausreichte, taugt jetzt nicht mehr, war zu „Dogmatismus“[18] erstarrt. „Diese Dualität durchbrach Hegel.“[19] Was bei allen Abänderungen und Ergänzungen der Folgezeit „unerschütterlich“ bleibt: diese Trias. Mit ihr hat er die „dialektische Grundpaarung“ gefunden.

Die Ahnung davon, dass die heraufziehende neue Wirklichkeit nur als System zu erfassen ist, ist einer Gewissheit gewichen.

Sein ausgeprägter Wirklichkeitssinn lässt ihn nicht ruhen. Unermüdlich korrigiert und vervollkommnet er. Rosenkranz dazu: „So suchte Hegel die primitive Schwerfälligkeit seines Systems möglichst zu überwinden, durch Vereinfachung Alles systematischer in sich abzurunden, durch Beispiele, ja durch Beziehungen auf die nächste Gegenwart, fasslicher zu machen.“[20] Er stabilisiert die „Grundfigur“. Immer wieder überprüft er sie auf Tauglichkeit, darauf, ob die Logik des Systems mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

„System“ bedeutet ihm Reduktion der Geschichte auf den immanenten Zusammenhang, auf das logische Substrat, abgelöst also von der „Ungleichmäßigkeit und Verschlungenheit“ ihres realen Verlaufs.[21] Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft werden darin zusammengeführt.[22] Seinen Studenten verspricht er „nichts Neues“, sondern kündigt ihnen 1805 an, mit seiner Philosophie „eigentlich das älteste Alte wiederherzustellen und es von dem Missverstand zu befreien, worin es die neueren Zeiten der Unphilosophie begraben haben.“[23] Und was meint er damit? Das „Gemeinwesen“! Aber nicht das alte, gerade untergehende, sondern das jetzt aktuelle, allerdings vorerst noch „gestaltlose“ – jenes Gemeinwesen, dessen Gestalt herzustellen uns selbst auferlegt ist.

Das „Gängelband“ ist weg! Ein Bruch. Eine Befreiung. Aber wer/was führt uns nun durch die Geschichte? Reicht es, dass wir nun frei sind, dass wir in die Selbständigkeit entlassen sind? Wer ist der neue Führer, was ist der neue Maßstab?

Seine Antwort: Die Vernunft! Wir sind nun auf uns selbst gestellt - jetzt, nachdem die Bindung über „Blut und Boden“ abgestreift ist. Jetzt ist die Vernunft gefragt. Das „System“ jedenfalls fordert uns dazu auf, zu ihr aufzuschließen. Bisher bewahrte uns das Gängelband „Natur“ davor, über die Stränge zu schlagen, zwang uns dazu, uns „sittlich“ zu verhalten. Jetzt sagt uns die Vernunft, dass unsere jetzige „Freiheit“ nicht darin bestehen kann, uns nun unbeschränkt den Zwecken der „produzierten“ Natur zu unterwerfen.

Immer deutlicher sieht Hegel, dass das wahre „System“ die Zäsur aufzunehmen hat, die die Zerschlagung der „naturwüchsigen Gemeinwesen“ markiert. Vorgeschichte und Geschichte, Anfang und Ende, vor allem aber: Logik und Geschichte, sind darin gebündelt.[24] Später, in Nürnberg und Heidelberg wird er uns das „System“ in seiner „großen“ und „kleinen“ Logik nahe bringen. Besonders in der „Enzyklopädie“ übersetzt er die Geschichte in Logik, zeigt dort ihren logischen, von ihren tausend (unlogischen) Zufälligkeiten des Ortes und der Personen, der Irrungen und Wirrungen, der Sprünge und Seitensprünge[25] bereinigten, Verlauf. Und wozu? Um von diesem rationalen Kern auf die künftige Geschichte zu schließen. Die in Logik übersetzte Geschichte wird zur Orientierung; sie zeichnet den Weg vor, den die Menschheit vernünftiger Weise begehen sollte. Das „System“, fasst O. Pöggeler treffend zusammen, „ist für Hegel das höchste Bedürfnis der Zeit, weil es die Auflösung der Entzweiungen, das Flüssigmachen ihrer starren Positivitäten ist.“[26]

Bedeutet die jetzige Freiheit vom „naturwüchsigen“ Zusammenhang, dass die Herrschaft nun an die „produzierte“ Natur abgegeben bzw. auf sie übergewechselt ist? Dass diese nun schalten und walten kann, wie es ihrer Natur entspricht? Dass lediglich eine „Einseitigkeit“ durch die andere[27] ersetzt wird? Das wäre eine bloße Umkehrung – unlogisch, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der „Aufhebung“ betrachtet.

Die weitere Geschichte darf nicht zur Geschichte nur einer, nur dieser Natur werden. Das bisherige Korrektiv ist weggefallen. Dabei soll es auch bleiben. Aber ein Mangel wäre es, wenn der „Entzweiung“ nun gar kein Korrektiv zur Seite stünde. Und so zeigt Hegel uns mit seinem „System“, was zu tun ist, wenn die weitere Geschichte zu einer Geschichte der Vernunft werden soll.

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Während für Marx/Engels die Geschichte der Menschheit – in der bekannten Abfolge:

-          Urgesellschaft,

-          Sklaverei

-          Feudalismus

-          Kapitalismus

-          Kommunismus –

eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, ist für Hegel die gleiche Geschichte die des Verhältnisses zweier Naturen: der „primären“ bzw. „äußeren“ bzw. „vorgefundenen“ und jener Natur, die im „Geist“ ihren Ursprung hat und von diesem erst hervorgebracht[28] bzw. „produziert“ werden muss.

Hegel verweist darauf, dass die Aufklärung die bislang eine Welt in zwei Welten aufteilt, in das

-          „Reich der Bildung“;

-          „Reich des Wesens“[29].

Beide Reiche bilden für sie die zwei „entgegengesetzten Weisen der sittlichen Substanz“[30]. Das geht in Ordnung, denn insoweit reflektiert sie den Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“. Zu kritisieren ist aber: „Beide Welten … werden durch [die Aufklärung] … verwirrt und revolutioniert“ – und zwar dergestalt, dass sie auf das „Diesseits und Jenseits“ verteilt werden.[31] Für Hegel ein kardinaler Fehler. Ja, ab jetzt zwei Welten. Aber zwei irdische Welten! Nicht das Abschieben des „Reiches des Wesens“ in den Himmel ist die Aufgabe der Philosophie, diese besteht vielmehr darin, „das Wesen als wirkliches Selbst“ zu erkennen.[32] Aufgabe der Philosophie ist es also, die Materialität auch jenes Reiches aufzuzeigen, das fälschlich in den Himmel verlegt worden ist.

Die erste (Welt-)Periode, die bisher längste, umfasst jenen Zeitraum, in dem sich der „Geist“ mittels eines „Stoffwechsels“ zu einer eigenen Natur – zur „produzierten“ – materialisiert. Abertausende von Jahren zeigt sie sich als „anfangende“[33], erst im Werden begriffene, Natur, als einfache Töpferware, als Speer, als Pfeil und Bogen. Nur langsam kommt sie voran. Dann aber vollzieht sich ihre Entwicklung zunehmend rascher. Sie wird als eigenständige Natur erst sichtbar, dann unübersehbar. Aber was ihre Entwicklung in dieser Periode prägt: Sie vollzieht sich am Gängelband der „primären“ Natur. Sie ist noch nicht geboren. Sie steckt noch im Leib des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens, von dem sie umhüllt und verhüllt wird.

Nach der Marxschen Einteilung umfasst diese Periode die Urgesellschaft, die Sklaverei und den Feudalismus. Die „primäre“ Natur tritt uns hier in einer Doppelfunktion entgegen, als Teil und als Ganzes; sie stiftet daher zugleich die Einheit beider. Nach der spezifischen, d.h. dialektischen Schlusslehre des § 187/Z E ergibt sich daraus folgendes Bild:

 

                                                           Natur

                          Geist                                                           Idee

Ausgangs des Mittelalters ist die „produzierte“ Natur soweit fortgeschritten, ist so mächtig geworden, dass sie sich vom Gängelband der „primären“ Natur befreien will. Und das gelingt ihr auch. Sie verlässt den Mutterleib und konstituiert sich unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ als eigene Natur. Aber sie versteht ihre eigene Geburt und die damit errungene Freiheit so, als sei nun sie die einzige (und somit herrschende) Natur. Und in Bacon und Descartes findet sie Männer, die diesen Anspruch philosophisch untermauern. Ein Streit um die Naturen entbrennt.[34] Vom Ende des Mittelalters bis zu Beginn der Neuzeit gerät der Naturbegriff „in eine geradezu heillose Verwirrung“[35]. Hundert Jahre wird es dauern, bis die „produzierte“ Natur ihren Anspruch durchgesetzt hat – in der Praxis und auch in der Theorie. Seither sind die beiden Naturen „ausgetauscht“ geblieben, ja der Austausch ist theoretisch und praktisch so perfektioniert worden, dass bald in Vergessenheit geriet, dass es überhaupt je eine andere Natur, geschweige denn zwei Naturen gab und gibt.

Eine bloße Umkehrung, die zu folgendem Schlussbild führt:

                                                           Geist                               

                        Natur                                                              Idee

Jetzt ist es also die „produzierte“ Natur, die sich in einer Doppelfunktion sieht.

Wie gesagt, eine Umkehrung! Für die Fürsprecher dieser Natur die richtige Lösung. Der Endpunkt der Geschichte. Dabei soll es bleiben. Zeigt sie uns nicht einen erstrebenswerten Zustand? Zeigt sie nicht an, dass eine völlig neue Natur aus dem Dunkel der feudalen Verhältnisse emporgestiegen und in „Freiheit“ gesetzt ist? Die „menschliche“ Natur! Sie, so scheint es, ist das Fortschrittliche an sich. Und spricht nicht auch das materielle Glück für sie, das sie uns (oder wenigstens einigen von uns!) zu bieten hat?

Hegel sieht es so: Erreicht ist damit nur ein Durchgangspunkt, mit dem sich ein „abstrakter“, kein wirklicher Zustand verbindet. Ein Wegweiser, der uns sagen soll, woher wir kommen und wohin wir zu gehen haben. Verharren wir bei ihm, machen wir diesen Punkt „fest“, mag uns zwar dieses „Glück“ zuteil werden. Aber gewonnen ist es nur durch die gnadenlose Ausbeutung und Ausplünderung der „primären“ Natur. Wir laben uns an einem Glück, das zum Unglück der anderen Seite wird. Was wir gewinnen, ist also so notwendig wie fragwürdig zugleich. Und wie wir inzwischen wissen sollten: Die Glücksverheißung ist nur auf kurze Sicht einlösbar. Wir aber haben diesem Durchgangspunkt die Treue geschworen, haben ihn zum  „Glaubensbekenntnis“[36] gemacht. Und so halten wir an ihm fest, tun so, als sei die „primäre“ Natur eine unerschöpfliche Rohstoffquelle, obwohl die Fakten diesen Glauben längst widerlegt haben.

Maßhalten wäre geboten. Aber das Sagen hat jetzt eine Natur, zu deren Wesen die Maßlosigkeit[37] gehört. Die Folgen unseres Festhaltens an dieser Schlussfigur: Die „produzierte“ Natur wird zu einer Wucherung, zu einem Krebsgeschwür, das die „primäre“ Natur unter sich begräbt.

 

Soll die Schöpfung Bestand haben, darf die bloße Umkehrung laut Schlussfigur Nr. 2 nicht zum Endpunkt werden. Von hier werden wir vielmehr zur Schlussfigur Nr. 3 geführt. In ihrer Mitte steht die „Idee“.

                                                             Idee                                            

                             Geist                                                      Natur

Das „Ganze“ ist in die Mitte gerückt. Aber nur als Idee – nicht bereits als Gestalt. Denn im Unterschied zu den Teilen, die als „Gestalten“ aus dem Zerfall des Organismus hervorgehen, zeigt sich das „Ganze“ zunächst nur als „gestaltloses Sein“[38], das erst durch unser Zutun zur Gestalt, zur „Vernunftgestalt“, komplettiert wird.

Die „Idee“ erinnert an das untergegangene „Gemeinwesen“ sowie daran, dass dieser Untergang in der Form einer „Aufhebung“ bzw. einer „Negation der Negation“ erfolgte. Als „naturwüchsiges“ ist das Gemeinwesen für immer aus der Welt. Die „einfache“ Negation macht es insoweit „gestaltlos“, macht es aber nicht zu Nichts. Der Prozess reduziert es lediglich auf sein „Wesen“. Und dieses Wesen drängt zu einer neuen Gestalt, zur Vernunftgestalt. Keine Rückkehr zu den alten Verhältnissen, aber auch kein Verbleib beim Durchgangspunkt. Das Problem an der Sache: die „Vernunftgestalt“ stellt sich nicht von selbst her. Sie muss von uns gewollt sein und als Institution geschaffen und in die politische Praxis überführt werden.

Die „Idee“ erinnert uns, sie fordert uns auf, die Einheit der beiden Naturen über die zu schaffende „Vernunftgestalt“ herzustellen.

Nicht nach der einen jetzt der anderen Natur die Führung überlassen, sondern Führung als „Vermittlung“ verstehen! Zwei „Entgegengesetzte“, die beide ihr Dasein haben und behalten sollen. Aber nicht in der Weise, dass die eine die andere Natur unter ihre Botmäßigkeit bringt. Sie müssen beide miteinander auskommen; ihre Interessen müssen deshalb „vermittelt“ werden – und zwar über die „Vernunft“ und deren Gestalt, dem Staat.  

Zwar ist die (materielle) Glückseligkeit der Zweck des Handelns jenes Menschen, der der „produzierten“ Natur angehört. Aber der Mensch ist ebenso auch ein Teil der „primären“ Natur. Untergräbt er deren Existenz, untergräbt er damit auch die eigene. 

Die „Idee“ also; sie „selbst [ist] die Mitte; sie ist die absolute Substanz des Geistes wie der Natur, das Allgemeine, Alldurchdringende.“[39] Und im Staat ist ihr Gestalt zu geben!

 

 

Nochmals zur mittleren Figur.

Sie spiegelt eine Konstellation wider, die zwar den „unverrückbaren Ausgangspunkt“[40] bildet, weil darin das Fundament, das schroffe Gegeneinander der Naturen und ihrer jeweiligen Derivate, abgebildet ist. Das „Fundamentalprinzip“. Jahrtausendelang war dieses verdeckt, war es überlagert durch die „naturwüchsige Einheitsnatur“ und durch eine „naturwüchsige“ Sittlichkeit. Nun steht es im Licht. Die „produzierte“ Natur ist in Freiheit gesetzt. Das Ziel scheint erreicht zu sein. Das Endziel. Jedoch: ein Überleben ist damit nicht möglich. Hegel stellt das Neue nicht infrage. Aber er relativiert es. Er schaut nach hinten, zur bisherigen „Einheitsnatur“ und zur bisherigen Sittlichkeit: So also, auf diese Weise wurde damals vermittelt. Und heute und künftig? Jede der beiden Naturen ist nun (nur) frei in ihren „besonderen Sphären“, bezogen auf das „Ganze“: also nur relativ frei. Denn es bleibt dabei, dass beide Naturen weiterhin eingeschlossen sind in einer „Einheitsnatur“. Problem allerdings: diese scheint ein für alle Mal untergegangen zu sein, weil sie mit der „Naturgestalt“ ihre bisherige „Leiblichkeit“ verloren hat. Aber wie Hegel erkennt: Sie ist „aufgehobenes Sein“.[41] Sie ist zunächst vom sichtbaren zum unsichtbaren „Sein“, d.h. zum „Wesen“ übergewechselt. Für Philosophien, die nur das Sichtbare zum Gegenstand haben – und das gilt für die Philosophie der Aufklärung einschließlich Kant -, ist damit das „höhere Dritte“ aus der Welt[42], mindestens aber ist es vom „Diesseits“ in das „Jenseits“ verschoben. Nicht aber für Hegel, der in seiner „Wesenslogik“ zeigt, wie dieses Unsichtbare und Gestaltlose, diesmal durch unser Zutun, in eine neue Gestalt überführt wird – in die „Vernunftgestalt“.

 

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Dem Schluss nach § 187/Z E liegt die Tatsache zugrunde, dass beide Naturen und ihre jeweiligen Derivate als Teile nur relative Totalitäten sind. Das verweist uns auf § 141 R, wo Hegel den Begriff der „relativen Totalität“ prägt und die „relativen Totalitäten“ von den „abstrakten“, also „unvermittelten“, Totalitäten unterscheidet. „Relativität“, „Einheit“, „Ganzes“, „Vermittlung“ sind also Begriffe, die im Verbund zu sehen sind und die Hegel der „Identität“ entgegensetzt.

Schon seine Auseinandersetzung mit Fichte, später auch mit Schelling, kreiste um die Frage der „Identität“. Beiden hält Hegel vor, dass sie eine der beiden Entgegengesetzten, der eine den „Geist“, der andere die „Natur“, zu absoluten Totalitäten „steigern“ und sie damit in einen Rang erheben, der ihnen nicht zukommt. Jeder der beiden gelangt zu einer probaten, scheinbar in sich schlüssigen Lösung. Aber da beide den „Entgegengesetzten“ einen „verschiedenen Rang“ geben, die eine herrschen lassen und die andere „botmäßig“ machen[43], steuern beide auf die Herrschaft einer Natur über die andere, ins Politische übertragen: auf die Diktatur zu. Einmal, bei Fichte, käme der „Betriebsstaat“[44] heraus, zum anderen, bei Schelling, stünde am Ende die „Öko“-Diktatur. Resultat bei beiden: eine „gewaltsame Halbierung“, die zu den „schlechtesten Weisen der Einheit“[45] führt. Beide verfehlen den „Vernunftstaat“. Und Kant? Er hält sich, wie wir bereits sahen, heraus. Er hält sich an das Faktische: an die „Entzweiung“, an die „Entgegensetzung“. Ihre „Einheit“? Die mag es geben, jedoch nur außerhalb des Faktischen. Er fühlt sich nicht berufen, danach zu suchen. 

 

„Markenzeichen“ der beiden ersten Schlussbilder ist, dass – systemtheoretisch betrachtet – ein Extrem, eine der beiden entgegengesetzten Naturen, eines der Teile, zugleich die Aufgabe des „Ganzen“, die „Vermittlung“, übernimmt. Zuerst die „primäre“, dann, ab dem 17. Jahrhundert, die „produzierte“ Natur. Aristoteles hat das als erster erkannt und in seinem System verarbeitet. An ihn hält sich die Philosophie der Aufklärung. Und so muss man sich nicht wundern, dass ihr Weltbild von der ersten Schlussfigur geprägt ist. Was sie jedoch übersieht: Jetzt steht eine andere Natur, die „produzierte“, in der Mitte. Scheinbar bleibt man damit bei Aristoteles. Tatsächlich aber steht in der Mitte des jetzigen Schlusses der „Geist“ bzw. die Gegennatur. Im Endeffekt haben wir statt der Vorherrschaft der einen, nun die Vorherrschaft der anderen Natur.[46] Und was für einer Natur! Hegel erkennt damals bereits: Diese Natur ist drauf und dran, die andere unter sich zu ersticken. Wenn also damals die „Einheit“ unter dem Kommando der „primären“ und jetzt unter dem Kommando der „produzierten“ Natur steht, dann ist das nicht eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, die zum Zuge kommt. Der Mangel jenes Zustandes, den Schlussfigur 1 darstellt, wird durch den in Schlussfigur 2 dargestellten Zustand vielmehr potenziert. 

 

Die Vorherrschaft der primären Natur verband sich mit der Vorherrschaft einer Sittlichkeit, die Recht und Pflicht in sich birgt. Jetzt leben wir im Zustand des Rechts – und zwar eines Rechts, das seinen Inhalt aus der Entpflichtung gegenüber der „primären“ Natur bezieht. Aristoteles ist entschuldigt. Er war mit seiner Philosophie auf der Höhe der Zeit. Er musste aber korrigiert und weitergeführt werden, vielleicht auch bloß richtig verstanden werden, als mit Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ eine neue Lage entsteht. Eine „dialektische Logik“ ist jetzt gefordert, die die „Vernunft“ in die Mitte stellt. Übertragen auf unser Thema: Auch Recht und Moral sind zunächst „unvermittelt“, also „abstrakt“, befinden sich also im „Krankheitszustand“, von dem aus ein dritter, „diese beiden abstrakten Momente in sich vereinigenden und darum  konkreter[47], Zustand anzustreben ist. Also auch hier fortdenken zum Begriff, in dem beide vermittelt sind. 

 

Gegen die Vernunftgestalt werden seit Hegels Zeiten tausenderlei Einwände erhoben. Aber eigentlich sind es nur tausend Variationen des einen, des zentralen Einwands: dass nämlich durch sie die „Freiheit“ eingeschränkt wird, dass sie „freiheitsfeindlich“ ist. Oder, vom anderen Extrem her gesehen: dass die Vernunftgestalt „naturfeindlich“[48] ist. Richtig daran ist nur, dass dieser „dogmatische“ und von Hegel entschieden zurückgewiesene Standpunkt, dieser Standpunkt der Teile, „im Ganzen“ aufgehoben wird.[49]

 

Wer die Freiheit vom Teil her, wer sie als die Freiheit nur der „produzierten“ Natur sieht, verkennt das Wesen dessen, was Hegel unter „Vermittlung“ versteht.

„Vermittlung“ muss sein, sagt der Marxist G. Lukacs. Sie ist unverzichtbares Instrument „ontologischer Selbstkorrektur“[50]. Aber nicht die hegelsche Art. Wenn vermittelt werden muss, dann so, wie wir es bereits bei Aristoteles, Fichte, Schelling, vor allem dann bei Feuerbach praktiziert sehen: Als spezifische Weise der „Wechselwirkung“; Wechselwirkung bei „Übergreifen“ einer Seite.[51] Also eine Vermittlung, die bei Marx eingebettet ist in die „Einheit und den Kampf der Gegensätze“ und sich als Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen versteht. Das „Ganze“ Hegels - für Lukacs ohnehin eine Spukgestalt -  stört dabei, verfälscht das Ergebnis. Deshalb gefällt es ihm nicht, wie Hegel vermittelt.[52] Aufgrund des „Systems“ führe seine Vermittlung jedenfalls zu falschen Ergebnissen. Denn weil er sie bei der „Idee“ beginnen lasse, „muss er die sonst richtig erkannte Wechselbeziehung“ – die Beziehung der beiden Naturen zueinander – „ontologisch herabsetzen.“[53] Damit könne man nicht zufrieden sein, weil Betroffener solcher Herabsetzung ja die „produzierte“ Natur sei und diese ja „übergreife“[54]. Hegels Vermittlung hafte somit der Makel an, eine Homogenisierung der wechselwirkenden Gegenüber zu bewirken; sie ziele ab auf ein Gleichgewicht und damit: auf eine Gleichheit, beider Seiten.[55] Lukacs dazu: „Ohne Frage gibt es Fälle, wo dies [die Gleichgewichtslage- B.R.] den Tatsachen entspricht. Für die reale, für die ontologisch bedeutsame Entwicklung sind jedoch vor allem jene Wechselwirkungen ausschlaggebend, in denen das, was Marx später als das ‚übergreifende Moment‘ genannt hat, zur Geltung kommt.“[56] So aber, hier aber, trete eine Verzerrung der Wirklichkeit ein.

Richtig ist das Gegenteil. Zwar scheint diese Art der Wechselwirkung die „nächste Wahrheit des Verhältnisses von Ursache und Wirkung“ zu sein. Tatsächlich aber steht sie erst „an der Schwelle des Begriffs“[57] – des Begriffs „Vermittlung“. Mit „Wechselwirkung“, gerade auch jener bei „Übergreifen“ einer Seite, dürfe man sich daher nicht begnügen, wenn man der Vernunft genügen wolle. Nur über die „Vermittlung“ wird das Verhältnis der Naturen geradegerückt. Sie korrigiert, was wir bislang praktizieren: jene „schlechteste Weise der Einheit“, von der bereits die Rede war; jene Weise, die die eine Seite zum Herrn macht und die andere zum Knecht. Mit ihr wird erreicht, dass Gleichheit herrscht. Aber eine „lebendige“! Das ist eine Gleichheit, die durchaus Ungleichheit zulässt, wenn gesichert ist, dass sie „von der Gerechtigkeit zur Gleichheit zurückgebracht wird.“[58]

Mit einer „Vermittlung“ dieser Art kann sich nicht anfreunden, wer die eine oder andere Natur favorisiert. Sie wird daher perhorresziert, wie Hegel mit Blick auf Fichte und Schelling formuliert. Er hält dagegen: „Dies Perhorreszieren stammt aber … aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst.“[59]

Sein zentrales, immer wieder betontes Anliegen: Ein ausgewogenes Verhältnis der beiden Naturen zueinander auch jetzt, gerade jetzt, nach der „Entzweiung“, beizubehalten bzw. zurückzugewinnen. Dass dieses Verständnis von „Vermittlung“ dem Tatendrang der bürgerlichen Gesellschaft Grenzen setzt, ist richtig. Aber was ist daran angesichts der Schäden, die daraus erwachsen sind, auszusetzen?  

 

Anmerkung:

Warum betont Hegel in § 269 R, dass der Staat ein „Organismus“ ist, obwohl doch der Staat seiner Zeit dabei ist, seinen Organismuscharakter abzustreifen und sich zum „Vernunftstaat“ zu wandeln? Mir scheint, dass der Zusatz zu § 135 E eine Antwort darauf gibt. Dort zeigt Hegel auf, dass nicht jeder Zerfall eines Ganzen zu einem Verhältnis von Teil und Ganzen führt, sondern die Teile auch unter Vernichtung des Ganzen hervorgehen können. Am Beispiel „Mensch“: er kann nicht geteilt werden, ohne dass er sein Leben einbüßt und als „Ganzes“ aufhört zu bestehen. Anders aber beim Gemeinwesen und auch – wie wir noch später sehen werden[60] – bei der Familie. Hier wandelt sich ein „biologisch“ geprägter Zusammenschluss von „Gliedern“ im Rahmen einer „Aufhebung“ zu einem „logisch“ geprägten Zusammenschluss des Ganzen und der (relativ selbständigen) Teile; die „Leiblichkeit“ des Organismus wird ersetzt durch die „vernünftige Institution“.

 

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Beigefügt ist eine Handskizze, die den logischen Gang der Geschichte, wie er aus § 187/Z   E ersichtlich wird, verdeutlichen soll. Sie stammt aus 2014, ist also nicht auf dem letzten Stand meiner  Erkenntnis. Trotzdem halte ich sie für geeignet, den obigen Text zu veranschaulichen. Im Unterschied zur Darstellung als Dreieck oder Pyramide wird sichtbar, dass der „Zerfall“ des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens in zwei entgegengesetzte Naturen tatsächlich eine „Aufhebung“ ist. Die frühere Gestalt des Gemeinwesens, die „Naturgestalt“, geht verloren, ein Prozess der in der Entgegensetzung endet. Daran knüpft nahtlos der Prozess an, der – wie Hegel in § 122 E formuliert – „die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit oder des Seins“ bewirkt. Aufgabe des neu erstehenden Seins, der „Vernunftgestalt“, ist es, die beiden zutage getretenen Naturen, bei deren „Entgegensetzung“ es bleibt,  zu vermitteln.

 

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[1] W. Schönfeld, Puchta und Hegel, in: Karl Larenz (Hrsg.), Rechtsidee und Staatsgedanke, Festgabe für Julius Binder, Berlin 1930, S. 17.

[2] MEW Bd. 21, S. 268. Dagegen wendet sich E. Bloch („Problem der Engelsschen Trennung von ‚Methode‘ und ‚System‘ bei Hegel“ sowie „Hegel und die Gewalt des Systems“, beide abgedruckt in Werke Bd. 10, Frankfurt/M 1985, S. 461-481 u. 481-500, vor allem aber in „Prinzip Hoffnung II, Berlin 1955); er macht dort Einwände geltend, die auch dem Anliegen dieser Arbeit entsprechen. Sie trugen ihm seitens seiner realsozialistischen Kollegenschaft schärfste Kritik ein. Im vermeintlichen Interesse Hegels ist es eine bis heute verbreitete Strategie, wie L. Siep kritisiert, „die Ansprüche seines Systems abzuschwächen.“ (L. Siep, Zur Einführung“ (in das Kolloquium zu „System und Geschichte“), in: Die Weltgeschichte – das Weltgericht? hrsg. von R. Bubner u. W. Mesch, Stuttgart 2001, S. 92).

[3] Dazu informativ H. Kroner, System und Geschichte bei Hegel, Logos 20 (1931), S. 243-258.

[4] Siehe dazu: L. Siep, Hegels Holismus und die gegenwärtige Sozialphilosophie, in: A. Gethmann-Siefert/E. Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kunst, Kultur, Öffentlichkeit, Paderborn 2001, S. 69-80.

[5] Phän, S.18.

[6] § 39 R.

[7] Dazu der Aufsatz von O. Pöggeler, Hegels Jenaer Systemkonzeption, Philosoph. Jahrbuch 71. Jg. (1963/64), S. 286-318.

[8] Siehe dazu der Beitrag „Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen“ – hier auf dieser Plattform.

[9] § 141 R.

[10] Dazu S. Zizek, Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 333f.: Hegel schlägt mit seinem „System“ den Bogen von der „griechischen Polis als organischer Einheit von Individuum und Gesellschaft ... zu einer neuen organischen Einheit, einer neuen Polis ..., die dem Einzelnen ein tieferes Gefühl der sozialen Solidarität böte, welches über die ‚mechanistischen‘ Interaktionen und das individualistische Konkurrenzdenken der Bürgergesellschaft hinausginge.“

     Selbst füge ich hinzu: Der Gesichtspunkt „Klassen/Klassenantagonismus“ rückt weiter in die Mitte, wenn Ausgangspunkt nur die „produzierte“ Natur ist. Betrachtet man also (wie Marx) die Geschichte als Geschichte verschiedener Gestaltungen (nur) dieser Natur, rückt automatisch dieser Antagonismus an die Stelle des Antagonismus der beiden Naturen.

[11] Vgl. § 14/A E.

[12] L (B), S. 9.

[13] Aus Frankfurt schreibt er an Schelling, er habe „zwar auch ein System ... schaffen müssen“, hoffe aber trotzdem ihm als  Freund zu begegnen. (zitiert bei K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck Darmstadt 1977, S. 142).

[14] Seine zahlreichen System-Entwürfe künden davon.

[15] Dazu K. Rosenkranz, a.a.O., S. 178-198 unter der Überschrift: „Didaktische Modifikationen des Systems“.

[16] Ebd., S. 172.

[17] Ebd., S. 173. Auch Fichte und Schelling arbeiten mit zwei „entgegengesetzten“ Naturen. Im Unterschied zu Hegel siedeln sie jedoch eine von ihnen auf einer höheren Ebene an, von der aus sie die andere beherrscht. Fichte favorisiert die „produzierte“, Schelling die „primäre“. Hegel hingegen sieht in ihnen zwar entgegengesetzte, aber gleichgeordnete Naturen, die deshalb über eine dritte Natur vermittelt werden müssen.

[18] Siehe dazu § 32 E, wo sinngemäß ausgesagt wird: Die aristotelische Metaphysik wurde zum „Dogmatismus“,  weil sie nun, nach dem Untergang des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, in dem ein Teil (die „primäre“ Natur) das Ganze vertreten hatte, den Blick auf die neue Situation verstellt, die durch zwei Teile und ein Ganzes geprägt ist. Die alte Sichtweise wird fortgeführt. Geändert hat sich lediglich, dass jetzt die eine Natur durch die andere ersetzt wird. Das potenziert den Mangel der alten Metaphysik.

[19]  Rosenkranz, a.a.O., S 173. Siehe dazu auch die sehr anschauliche Darstellung bei O. Pöggeler, a.a.O.

[20]   Rosenkranz, S. 188; siehe auch die ganz ähnlich lautende Aussage bei G. Lukacs, Der junge Hegel, a.a.O., S. 329.

[21]   Vgl. G. Lukacs, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Zürich, Wien 1948, S. 6.

[22]  Hegel, MM 12 (VPhG), S. 96 f.: „Die Weltgeschichte ... ist also überhaupt  die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt.“

[23]   Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 192.

[24]   Siehe dazu: H. Kroner, System und Geschichte bei Hegel, a.a.O., besonders S. 251.

[25]   Hegel in § 189/Z R: In dem „Wimmeln von Willkür“, aus der „Masse von Zufälligkeiten“ die „Gesetze“ finden.

[26]   O. Pöggeler, a.a.O., S. 292.

[27] Und wie er immer bestimmter anhand des englischen und französischen Anschauungsmaterials sieht: weit gefährlichere und folgenreichere!

[28] In § 385 E spricht Hegel von „einer von ihm [dem „subjektiven Geist“] hervorzubringen und [bereits] hervorgebrachten Welt“ – die „objektiver Geist“ ist.

[29] Phän, S. 327.

[30] Ebd., S. 330.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

[33] Siehe dazu: L [S], S. 62 f.

[34] Anschaulich die Schilderung des Streits durch O. v. Gierke, Johann Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Aalen 1981 (7. Aufl.), S. 99 ff.

[35] V. Rüfner, Der Begriff der Natur innerhalb des Naturrechts, ARSP Bd. XXXIV (1940), S. 60.

[36] Hegel im Rahmen seiner Äußerungen zur Identitätsphilosophie – E/Vorrede v. 1827 (MM 8, S. 18).

[37] Siehe § 107/Z E, wo Hegel darauf hinweist, „dass alles Menschliche – Reichtum, Ehre, Macht und ebenso Freude, Schmerz usw. – sein bestimmtes Maß hat, dessen Überschreitung zum Verderben und zum Untergang führt.“

[38] Hegel definiert in der „Wesenslogik“ (L [W], S. 161) die Wirklichkeit als die „Einheit des Wesens und der Existenz“. Das Wesen für sich allein ist „gestaltlos“. Die Erscheinung für sich ist „haltlos“. Das Wesen, entnehme ich daraus, ist „gestaltloses Sein“. Siehe dazu auch die unter FN 7 angegebene Literatur.

[39] § 187/Z E.

[40]  O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 5.

[41] § 123/Z E.

[42] Vgl. dazu L. Siep, Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts, in: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Freiburg/München 1979, S. 76-86. Dort S. 80: „Dreierbeziehungen setzen die Existenz von Zweierbeziehungen voraus“. Aber letztere „tendieren zum Ausschluss des Dritten.“

[43]  DS MM 2, S. 48.

[44]  Wie er ja auch in seinem „Geschlossenen Handelsstaat“ antizipiert ist.

[45] E/Vorrede 1827 = MM 8, S. 18 u. 21.

[46]  Hegel gegen Kant:

     „Kant preist sonst die Logik, nämlich das Aggregat von Bestimmungen und Sätzen, das im gewöhnlichen Sinne Logik heißt, darüber glücklich, dass ihr vor anderen Wissenschaften eine frühe Vollendung zuteil geworden ist; seit Aristoteles habe sie keinen Rückschritt getan, aber auch keinen Schritt vorwärts; das letztere deswegen, weil sie allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheine.

     Wenn die Logik seit Aristoteles keine Veränderung erlitten hat ... , so ist daraus eher zu folgern, dass sie um so mehr einer totalen Umarbeitung bedürfe; denn ein zweitausendjähriges Fortarbeiten des Geistes muss ihm ein höheres Bewusstsein über sein Denken und über seine reine Wesenheit in sich selbst verschaffte haben.“ (L [S], S. 35 f.)

[47]   § 408/Z E (S. 170) – Hervorhebung bei Hegel.

[48]  A. Baeumler (Einführung zu: Hegels Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, Teil I: Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, Jena 1927, S. 67) schreibt: „Die Natur ist in Hegels Philosophie vernichtet. Sein Herz gehörte der städtischen Gesellschaft“.

[49]   Vgl. dazu die Ausführungen in § 32/Z E.

[50] Vgl. G. Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied u. Berlin 1971, S. 103.

[51] durch „Schwerpunktbildung“, wie Luhmann (Gesellschaft, a.a.O., S. 144) für die moderne Systemtheorie formuliert.

[52] Nämlich wie bereits in der „Phänomenologie“ (MM 3, S. 340) dargestellt: „Das Ganze ist ein ruhiges Gleichgewicht aller Teile.“

[53] Lukacs, a.a.O., S. 106.

[54] Marx, GR S. 20: „Die Produktion greift über“. Siehe auch die generellere Aussage von Marx zur „Vermittlung“ und zum „Übergreifen“ in MEW 1, S. 293f.

[55] Wie sehr Marx ein solches Gleichgewicht missfällt, zeigt sich in der Beurteilung des deutschen Kaiserreiches bzw. auch der davor bestehenden deutschen Staatlichkeit, die er, gemessen an  England, USA und Schweiz als zurückgeblieben ansieht, weil hier die Reste des früheren Gemeinwesens einer konsequenten Parteinahme des Staates für die bürgerliche Gesellschaft entgegenstehen. (siehe dazu MEW 3, S. 62) Das Kaiserreich ist für „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalen Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist“.(MEW 19, S. 29).     

[56] Lukacs, a.a.O. (Ontologie), S. 105 f.

[57] § 156/Z E.

[58] Phän, S. 340 – Hervorhebung bei H.

[59] Phän, S. 25.

[60] in dem geplanten Beitrag zur „Wirtschaftsfamilie“.

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