Brennpunkt „System“: das Geschichtsbild Hegels
Es besteht ein
„ausgesprochene[r] Widerwille vieler, ja der meisten Historiker gegen eine
dialektische ‚Konstruktion‘ der Geschichte.“[1]
Das „System“ ist ein Brennpunkt der Kritik an Hegel. Von vielen
Seiten wird es ihm angekreidet. Bekannt sind die Äußerungen F. Engels dazu. Es
sei damals „Mode“ gewesen, ein eigenes „System“ zu entwickeln, sagt er
entschuldigend und abwertend zugleich. Er sagt es zu einer Zeit, in der es
„Mode“ war, kein „System“ zu haben. In seiner „Feuerbach-Schrift“ heißt es,
Hegel versuche bürgerliche Gesellschaft und Gott zur Einheit zu bringen, womit
er seine Philosophie entwerte und sie zahm und hoffähig mache. Eingepfercht
darin „wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden
konservativen.“[2] Marx/Engels, so ihr
Anspruch, „retten“ daher den Kern der Hegelschen Philosophie, indem sie das „System“
zerschlagen. Damit, so glauben sie, sei Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt.
Bis heute herrscht die Meinung vor, Hegel habe mit dem „System“ die Geschichte
vergewaltigt.[3] Doch wir werden sehen: Ohne das System wird
Hegel kopflos gemacht. Oder ortlos – wenn man bedenkt, dass das „System“ seine
Methode verortet. Und auch dies: erst das „System“ macht die Philosophie Hegels
zu einer „Sozialphilosophie“[4].
Hegel lebt in einer „Zeit der Geburt und des
Übergangs zu einer neuen Periode“[5].
Aber für ihn ist die Geschichte nicht die Geschichte von Klassenkämpfen,
sondern in erster Linie die der Vermittlung des Antagonismus zweier
wesensungleicher Naturen. Da im Deutschland seiner Zeit gerade das durch „Blut
und Boden“ geprägte Gemeinwesen zerfällt, kann das nicht genug betont werden. Er
fragt: Wer beerbt es, was folgt ihm nach?
Die Vertreter der Aufklärung haben bereits den
Schluss gezogen, dass das „Gemeinwesen“ überhaupt aus der Welt ist. Erst in der
Theorie und seit 1789 auch in der Praxis. Was darin eingebunden war ist nun
frei: die bürgerliche Gesellschaft und die Atome, aus denen sie zusammengesetzt
ist, die Individuen. Sie stehen nun im Licht. Ein „herrlicher Sonnenaufgang“,
dem sich auch Hegel nicht verschließt. Aber, gibt er zu bedenken, das gerade
aufgelöste Gemeinwesen war die Einheit zweier Naturen! Und über den Jubel
hinweg fragt Hegel nach dieser anderen, nach der „vorgefundenen“[6]
Natur. Was ist ihr Schicksal? Teilt sie die Freiheit der „produzierten“
Natur? Und was ist mit dem Antagonismus, der zwischen den beiden Naturen steht
und bisher über das Gemeinwesen vermittelt wurde?
Bereits Kant hatte sich das gefragt. Er hat den
Standpunkt der Aufklärer relativiert und
lässt das von ihnen totgesagte Gemeinwesen wenigstens als „Ding an sich“
gelten. Aber das genügt Hegel nicht. Er ahnt es zunächst nur, ist sich dessen aber
bald gewiss: Das Gemeinwesen ist nicht einfach zu Nichts geworden ist. Es existiert
auch weiterhin. Jedoch nicht mehr als „Naturgestalt“, sondern als „Vernunftgestalt“.
Er macht sich auf, diese „Vernunftgestalt“ sichtbar und zum Gegenstand einer praktischen Philosophie zu machen. Denn
darüber ist er sich bereits im Klaren: Die Geschichte der Menschheit bleibt
auch weiterhin eine Geschichte beider Naturen. Sie vollzieht sich nicht nur im
Rahmen jener Natur, die jetzt als „bürgerliche Gesellschaft“ ins Licht getreten
ist. Das weitere Schicksal der Menschheit ist von der „primären“ Natur nicht zu
trennen. Sie wird daher notwendiger Teil auch der zukünftigen Geschichte sein.
Mit dem bisherigen Gemeinwesen ist ein „Ganzes“
zerbrochen. Zutage getreten sind seine Teile, die beiden Naturen. Aber zum
Gegenstand jener Philosophien, die für Hegel bloße „Reflexion“ sind, wird nur
die „produzierte“ Natur, wird nur ein Teil von zweien. Sie scheint an die
Stelle des vormaligen „Ganzen“ getreten zu sein. Hegel hält dagegen: Zwei
Naturen – nicht bloß die eine. Woraus folgt: weder ein Teil noch beide Teile zusammen
sind das Ganze. Was sich jetzt auf der empirischen Ebene zeigt, die Teile, ist
also nur ein Zwischenergebnis, das als solches auf ein neues „Ganzes“ verweist.
Schon in Jena fixiert er dessen Umrisse. Das neue „Ganze“! Ihm sind seine Werke
zur „Logik“, ihm ist auch seine „Rechtsphilosophie“ gewidmet.[7]
Während die Reflexionsphilosophen am Sichtbaren
kleben, geht es Hegel um den Nachweis, dass zum jetzigen Sein nicht nur das
Sichtbare, sondern auch jenes Sichtbar-Unsichtbare zählt, das Gegenstand der
Wesenslogik[8] ist. Ja, das
„naturwüchsige“ Gemeinwesen ist zerfallen. Aber es zerfällt, indem es sich
wandelt – und zwar aus einem biologisch bzw. organismisch geprägten
Zusammenhang in den logisch geprägten des Ganzen und seiner Teile. Eine
Konstante ist der Antagonismus zwischen den beiden Naturen, die jetzt zu „Teilen“
geworden sind. Ihn zu vermitteln ist die Aufgabe des neuen Ganzen, das aus der
„Vernunft“ hervorgeht - die „Vernunftgestalt“.
Hegel prägt den Begriff der „relativen
Totalität“[9].
Die aus dem Zerfall hervorgehenden Teile sind zwar Totalitäten, aber sie sind eben nur relative Totalitäten. Das ist die Folge des Verbunds der Teile mit
dem Ganzen; ebenso ist dieser Verbund die Quelle der „Vermittlung“.
Die Abfolge von Gesellschaftsformationen unter
Führung des „Naturprinzips“, diese Vorgeschichte, ist beendet. Die weitere Geschichte
hat ihre Grundlage in der „Vernunft“.[10] Der bisherige biologisch geprägte Organismus
hat der „Vernunftgestalt“ Platz gemacht. Das vormalige Ganze geht verloren,
aber es wird nicht zu Nichts. Es verliert lediglich seine frühere Gestalt, wird
„gestaltlos“ und harrt nun darauf, in die „Vernunftgestalt“ überführt zu
werden. Diese historisch einmalige Situation, von Hegel im Deutschland dieser
Zeit hautnah erlebt, wird der zentrale Gegenstand seiner praktischen Philosophie.
Die Frage, die Hegel bewegt: Wie sieht es aus –
das jetzige auf Vernunft basierende „Ganze“?
***
System ist nicht gleich System. Das „wahre“ ist
vom „falschen“, das wissenschaftliche vom unwissenschaftlichen zu
unterscheiden.[11] Es führt zu nichts, nur
das eine oder andere Teil zum „Ganzen“ zu erklären. Gegen Spinoza gerichtet, schreibt Hegel: „[A]ls ob
das wahre System dem falschen nur entgegengesetzt sei“[!] Es kommt auf den
„Standpunkt“ an, den ich einnehme. Nur der „höchste Standpunkt“, der nicht der
Standpunkt der „Entgegengesetzten“ sein kann, führt zum richtigen Ergebnis.
Denn nur dieser „höchste Standpunkt“, der Standpunkt der „Vernunft“, enthält
die untergeordneten in sich.[12] Die Frage muss also auf Basis der Dialektik
gestellt und beantwortet werden, weil nur so das jetzige Ganze und mit ihm: die
Vernunft, sichtbar wird. Und mit ihm die Vermittlungsinstanz, die sich auf die
jetzige „Entgegensetzung“ bezieht und ihre Folgen korrigiert. Dieses Anliegen wird
von Marx/Engels, überhaupt von allen, die die neue Zeit vom Boden der
bürgerlichen Gesellschaft beurteilen, übersehen und falsch gewürdigt.
Ausführlich äußert sich K. Rosenkranz in seiner
Hegel-Biographie. Besonders aus der Sicht des hier zugrunde gelegten Ansatzes
sind seine Ausführungen noch immer aktuell, ja tragen mehr zum Verständnis bei
als viele neuere Arbeiten. Rosenkranz macht deutlich: Für die Anfänge mag gelten, was Engels
spöttisch/nachsichtig dazu sagt. Angestachelt durch Schelling und dessen
wissenschaftlichen Höhenflug, sah auch Hegel „sich genötigt, ein System zu
machen.“[13] Mit einem solchen in der
Tasche, gefertigt in der damals üblichen Manier, also überaus scholastisch,
schwerfällig, spekulativ, begibt er sich von Frankfurt nach Jena, um sich dort
als Wissenschaftler zu etablieren. Aber er erkennt bald das Ungenügende daran
und ist in der ganzen Jenaer Zeit darum bemüht, es „nachzubessern“[14].
Es sind didaktische Gründe[15],
vor allem aber solche, die sich aus den Erkenntnissen ergeben, die ihm
zuwachsen - insbesondere aus seinem Studium der englischen Ökonomen sowie aus
der immer tieferen geistigen Durchdringung der Fragestellungen der modernen
Zeit. Erste größere Gelegenheit zur Korrektur und Ergänzung bot der
„Naturrechtsaufsatz“ von 1802. „Hier war, wo er zuerst sein eigenes System
bestimmter hervortreten ließ.“[16]
Die Auseinandersetzung mit Kant, Fichte, dann auch mit Schelling bringt ihn
darauf: „Die Einheit fehlte.“[17]
Wo mit der Trias Idee, Geist, Natur zu arbeiten war, begnügte sich deren Philosophie
mit dem althergebrachten Dualismus a la Aristoteles. Aber was über tausend
Jahre ausreichte, taugt jetzt nicht mehr, war zu „Dogmatismus“[18] erstarrt. „Diese Dualität durchbrach Hegel.“[19]
Was bei allen Abänderungen und Ergänzungen der Folgezeit „unerschütterlich“
bleibt: diese Trias. Mit ihr hat er die „dialektische Grundpaarung“ gefunden.
Die Ahnung davon, dass die heraufziehende neue
Wirklichkeit nur als System zu erfassen ist, ist einer Gewissheit gewichen.
Sein ausgeprägter Wirklichkeitssinn lässt ihn
nicht ruhen. Unermüdlich korrigiert und vervollkommnet er. Rosenkranz dazu: „So
suchte Hegel die primitive Schwerfälligkeit seines Systems möglichst zu
überwinden, durch Vereinfachung Alles systematischer in sich abzurunden, durch
Beispiele, ja durch Beziehungen auf die nächste Gegenwart, fasslicher zu
machen.“[20] Er stabilisiert die
„Grundfigur“. Immer wieder überprüft er sie auf Tauglichkeit, darauf, ob die
Logik des Systems mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
„System“ bedeutet ihm Reduktion der Geschichte
auf den immanenten Zusammenhang, auf das logische Substrat, abgelöst also von
der „Ungleichmäßigkeit und Verschlungenheit“ ihres realen Verlaufs.[21] Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft
werden darin zusammengeführt.[22] Seinen Studenten verspricht er „nichts Neues“,
sondern kündigt ihnen 1805 an, mit seiner Philosophie „eigentlich das älteste
Alte wiederherzustellen und es von dem Missverstand zu befreien, worin es die
neueren Zeiten der Unphilosophie begraben haben.“[23]
Und was meint er damit? Das „Gemeinwesen“! Aber nicht das alte, gerade
untergehende, sondern das jetzt aktuelle, allerdings vorerst noch „gestaltlose“
– jenes Gemeinwesen, dessen Gestalt herzustellen uns selbst auferlegt ist.
Das „Gängelband“ ist weg! Ein Bruch. Eine
Befreiung. Aber wer/was führt uns nun durch die Geschichte? Reicht es, dass wir
nun frei sind, dass wir in die Selbständigkeit entlassen sind? Wer ist der neue
Führer, was ist der neue Maßstab?
Seine Antwort: Die Vernunft! Wir sind nun auf
uns selbst gestellt - jetzt, nachdem die Bindung über „Blut und Boden“
abgestreift ist. Jetzt ist die Vernunft gefragt. Das „System“ jedenfalls
fordert uns dazu auf, zu ihr aufzuschließen. Bisher bewahrte uns das Gängelband
„Natur“ davor, über die Stränge zu schlagen, zwang uns dazu, uns „sittlich“ zu
verhalten. Jetzt sagt uns die Vernunft, dass unsere jetzige „Freiheit“ nicht
darin bestehen kann, uns nun unbeschränkt den Zwecken der „produzierten“ Natur
zu unterwerfen.
Immer deutlicher sieht Hegel, dass das wahre
„System“ die Zäsur aufzunehmen hat, die die Zerschlagung der „naturwüchsigen
Gemeinwesen“ markiert. Vorgeschichte und Geschichte, Anfang und Ende, vor allem
aber: Logik und Geschichte, sind darin gebündelt.[24]
Später, in Nürnberg und Heidelberg wird er uns das „System“ in seiner „großen“
und „kleinen“ Logik nahe bringen. Besonders in der „Enzyklopädie“ übersetzt er
die Geschichte in Logik, zeigt dort ihren logischen, von ihren tausend
(unlogischen) Zufälligkeiten des Ortes und der Personen, der Irrungen und
Wirrungen, der Sprünge und Seitensprünge[25] bereinigten, Verlauf. Und wozu? Um von diesem
rationalen Kern auf die künftige Geschichte zu schließen. Die in Logik
übersetzte Geschichte wird zur Orientierung; sie zeichnet den Weg vor, den die
Menschheit vernünftiger Weise begehen sollte. Das „System“, fasst O. Pöggeler treffend zusammen, „ist für Hegel
das höchste Bedürfnis der Zeit, weil es die Auflösung der Entzweiungen, das
Flüssigmachen ihrer starren Positivitäten ist.“[26]
Bedeutet die jetzige Freiheit vom
„naturwüchsigen“ Zusammenhang, dass die Herrschaft nun an die „produzierte“
Natur abgegeben bzw. auf sie übergewechselt ist? Dass diese nun schalten und
walten kann, wie es ihrer Natur entspricht? Dass lediglich eine „Einseitigkeit“
durch die andere[27] ersetzt wird? Das wäre eine bloße Umkehrung –
unlogisch, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der „Aufhebung“ betrachtet.
Die weitere Geschichte darf nicht zur
Geschichte nur einer, nur dieser Natur werden. Das bisherige Korrektiv ist
weggefallen. Dabei soll es auch bleiben. Aber ein Mangel wäre es, wenn der
„Entzweiung“ nun gar kein Korrektiv zur Seite stünde. Und so zeigt Hegel uns
mit seinem „System“, was zu tun ist, wenn die weitere Geschichte zu einer
Geschichte der Vernunft werden soll.
***
Während für Marx/Engels die Geschichte der
Menschheit – in der bekannten Abfolge:
-
Urgesellschaft,
-
Sklaverei
-
Feudalismus
-
Kapitalismus
-
Kommunismus
–
eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, ist für
Hegel die gleiche Geschichte die des Verhältnisses zweier Naturen: der
„primären“ bzw. „äußeren“ bzw. „vorgefundenen“ und jener Natur, die im „Geist“
ihren Ursprung hat und von diesem erst hervorgebracht[28]
bzw. „produziert“ werden muss.
Hegel verweist darauf, dass die Aufklärung die
bislang eine Welt in zwei Welten aufteilt, in das
-
„Reich
der Bildung“;
-
„Reich
des Wesens“[29].
Beide Reiche bilden für sie die zwei
„entgegengesetzten Weisen der sittlichen Substanz“[30].
Das geht in Ordnung, denn insoweit reflektiert sie den Zerfall des
„naturwüchsigen Gemeinwesens“. Zu kritisieren ist aber: „Beide Welten … werden
durch [die Aufklärung] … verwirrt und revolutioniert“ – und zwar dergestalt,
dass sie auf das „Diesseits und Jenseits“ verteilt werden.[31]
Für Hegel ein kardinaler Fehler. Ja, ab jetzt zwei Welten. Aber zwei irdische Welten! Nicht das Abschieben
des „Reiches des Wesens“ in den Himmel ist die Aufgabe der Philosophie, diese
besteht vielmehr darin, „das Wesen als wirkliches Selbst“ zu erkennen.[32]
Aufgabe der Philosophie ist es also, die Materialität auch jenes Reiches
aufzuzeigen, das fälschlich in den Himmel verlegt worden ist.
Die erste (Welt-)Periode, die bisher längste,
umfasst jenen Zeitraum, in dem sich der „Geist“ mittels eines „Stoffwechsels“
zu einer eigenen Natur – zur „produzierten“ – materialisiert. Abertausende von
Jahren zeigt sie sich als „anfangende“[33],
erst im Werden begriffene, Natur, als einfache Töpferware, als Speer, als Pfeil
und Bogen. Nur langsam kommt sie voran. Dann aber vollzieht sich ihre
Entwicklung zunehmend rascher. Sie wird als eigenständige Natur erst sichtbar,
dann unübersehbar. Aber was ihre Entwicklung in dieser Periode prägt: Sie
vollzieht sich am Gängelband der „primären“ Natur. Sie ist noch nicht geboren.
Sie steckt noch im Leib des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens, von dem sie umhüllt
und verhüllt wird.
Nach der Marxschen Einteilung umfasst diese
Periode die Urgesellschaft, die Sklaverei und den Feudalismus. Die „primäre“
Natur tritt uns hier in einer Doppelfunktion entgegen, als Teil und als Ganzes;
sie stiftet daher zugleich die Einheit beider. Nach der spezifischen, d.h.
dialektischen Schlusslehre des § 187/Z E ergibt sich daraus folgendes Bild:
Natur
Geist Idee
Ausgangs des Mittelalters ist die „produzierte“
Natur soweit fortgeschritten, ist so mächtig geworden, dass sie sich vom
Gängelband der „primären“ Natur befreien will. Und das gelingt ihr auch. Sie
verlässt den Mutterleib und konstituiert sich unter dem Namen „bürgerliche
Gesellschaft“ als eigene Natur. Aber sie versteht ihre eigene Geburt und die
damit errungene Freiheit so, als sei nun sie die einzige (und somit herrschende)
Natur. Und in Bacon und Descartes findet sie Männer, die diesen Anspruch
philosophisch untermauern. Ein Streit um die Naturen entbrennt.[34]
Vom Ende des Mittelalters bis zu Beginn der Neuzeit gerät der Naturbegriff „in
eine geradezu heillose Verwirrung“[35].
Hundert Jahre wird es dauern, bis die „produzierte“ Natur ihren Anspruch
durchgesetzt hat – in der Praxis und auch in der Theorie. Seither sind die
beiden Naturen „ausgetauscht“ geblieben, ja der Austausch ist theoretisch und
praktisch so perfektioniert worden, dass bald in Vergessenheit geriet, dass es
überhaupt je eine andere Natur, geschweige denn zwei Naturen gab und gibt.
Eine bloße Umkehrung, die zu folgendem
Schlussbild führt:
Geist
Natur
Idee
Jetzt ist es also die „produzierte“ Natur, die
sich in einer Doppelfunktion sieht.
Wie gesagt, eine Umkehrung! Für die Fürsprecher
dieser Natur die richtige Lösung. Der Endpunkt der Geschichte. Dabei soll es
bleiben. Zeigt sie uns nicht einen erstrebenswerten Zustand? Zeigt sie nicht
an, dass eine völlig neue Natur aus dem Dunkel der feudalen Verhältnisse
emporgestiegen und in „Freiheit“ gesetzt ist? Die „menschliche“ Natur! Sie, so
scheint es, ist das Fortschrittliche an sich. Und spricht nicht auch das materielle Glück für sie, das sie uns (oder
wenigstens einigen von uns!) zu bieten hat?
Hegel sieht es so: Erreicht ist damit nur ein
Durchgangspunkt, mit dem sich ein „abstrakter“, kein wirklicher Zustand
verbindet. Ein Wegweiser, der uns sagen soll, woher wir kommen und wohin wir zu
gehen haben. Verharren wir bei ihm, machen wir diesen Punkt „fest“, mag uns zwar
dieses „Glück“ zuteil werden. Aber gewonnen ist es nur durch die gnadenlose
Ausbeutung und Ausplünderung der „primären“ Natur. Wir laben uns an einem
Glück, das zum Unglück der anderen Seite wird. Was wir gewinnen, ist also so
notwendig wie fragwürdig zugleich. Und wie wir inzwischen wissen sollten: Die
Glücksverheißung ist nur auf kurze Sicht einlösbar. Wir aber haben diesem
Durchgangspunkt die Treue geschworen, haben ihn zum „Glaubensbekenntnis“[36]
gemacht. Und so halten wir an ihm fest, tun so, als sei die „primäre“ Natur eine
unerschöpfliche Rohstoffquelle, obwohl die Fakten diesen Glauben längst
widerlegt haben.
Maßhalten wäre geboten. Aber das Sagen hat
jetzt eine Natur, zu deren Wesen die Maßlosigkeit[37]
gehört. Die Folgen unseres Festhaltens an dieser Schlussfigur: Die
„produzierte“ Natur wird zu einer Wucherung, zu einem Krebsgeschwür, das die
„primäre“ Natur unter sich begräbt.
Soll die Schöpfung Bestand haben, darf die
bloße Umkehrung laut Schlussfigur Nr. 2 nicht zum Endpunkt werden. Von hier
werden wir vielmehr zur Schlussfigur Nr. 3 geführt. In ihrer Mitte steht die „Idee“.
Idee
Geist
Natur
Das „Ganze“ ist in die Mitte gerückt. Aber nur
als Idee – nicht bereits als Gestalt. Denn im Unterschied zu den Teilen, die als
„Gestalten“ aus dem Zerfall des Organismus hervorgehen, zeigt sich das „Ganze“
zunächst nur als „gestaltloses Sein“[38],
das erst durch unser Zutun zur Gestalt, zur „Vernunftgestalt“, komplettiert
wird.
Die „Idee“ erinnert an das untergegangene
„Gemeinwesen“ sowie daran, dass dieser Untergang in der Form einer „Aufhebung“
bzw. einer „Negation der Negation“ erfolgte. Als „naturwüchsiges“ ist das Gemeinwesen
für immer aus der Welt. Die „einfache“ Negation macht es insoweit „gestaltlos“,
macht es aber nicht zu Nichts. Der Prozess reduziert es lediglich auf sein
„Wesen“. Und dieses Wesen drängt zu einer neuen Gestalt, zur Vernunftgestalt.
Keine Rückkehr zu den alten Verhältnissen, aber auch kein Verbleib beim
Durchgangspunkt. Das Problem an der Sache: die „Vernunftgestalt“ stellt sich
nicht von selbst her. Sie muss von uns gewollt sein und als Institution
geschaffen und in die politische Praxis überführt werden.
Die „Idee“ erinnert uns, sie fordert uns auf,
die Einheit der beiden Naturen über die zu schaffende „Vernunftgestalt“
herzustellen.
Nicht nach der einen jetzt der anderen Natur
die Führung überlassen, sondern Führung als „Vermittlung“ verstehen! Zwei
„Entgegengesetzte“, die beide ihr Dasein haben und behalten sollen. Aber nicht
in der Weise, dass die eine die andere Natur unter ihre Botmäßigkeit bringt.
Sie müssen beide miteinander auskommen; ihre Interessen müssen deshalb
„vermittelt“ werden – und zwar über die „Vernunft“ und deren Gestalt, dem
Staat.
Zwar ist die (materielle) Glückseligkeit der
Zweck des Handelns jenes Menschen, der der „produzierten“ Natur angehört. Aber
der Mensch ist ebenso auch ein Teil der „primären“ Natur. Untergräbt er deren
Existenz, untergräbt er damit auch die eigene.
Die
„Idee“ also; sie „selbst [ist] die Mitte; sie ist die absolute Substanz des
Geistes wie der Natur, das Allgemeine, Alldurchdringende.“[39]
Und im Staat ist ihr Gestalt zu geben!
Nochmals
zur mittleren Figur.
Sie
spiegelt eine Konstellation wider, die zwar den „unverrückbaren Ausgangspunkt“[40] bildet, weil darin das Fundament, das schroffe Gegeneinander der
Naturen und ihrer jeweiligen Derivate, abgebildet ist. Das „Fundamentalprinzip“.
Jahrtausendelang war dieses verdeckt, war es überlagert durch die
„naturwüchsige Einheitsnatur“ und durch eine „naturwüchsige“ Sittlichkeit. Nun steht
es im Licht. Die „produzierte“ Natur ist in Freiheit gesetzt. Das Ziel scheint
erreicht zu sein. Das Endziel. Jedoch: ein Überleben ist damit nicht möglich. Hegel
stellt das Neue nicht infrage. Aber er relativiert es. Er schaut nach hinten,
zur bisherigen „Einheitsnatur“ und zur bisherigen Sittlichkeit: So also, auf
diese Weise wurde damals vermittelt. Und heute und künftig? Jede der beiden
Naturen ist nun (nur) frei in ihren „besonderen Sphären“, bezogen auf das
„Ganze“: also nur relativ frei. Denn
es bleibt dabei, dass beide Naturen weiterhin eingeschlossen sind in einer
„Einheitsnatur“. Problem allerdings: diese scheint ein für alle Mal
untergegangen zu sein, weil sie mit der „Naturgestalt“ ihre bisherige „Leiblichkeit“
verloren hat. Aber wie Hegel erkennt: Sie ist „aufgehobenes Sein“.[41]
Sie ist zunächst vom sichtbaren zum
unsichtbaren „Sein“, d.h. zum „Wesen“ übergewechselt. Für Philosophien, die nur
das Sichtbare zum Gegenstand haben – und das gilt für die Philosophie der
Aufklärung einschließlich Kant -, ist damit das „höhere Dritte“ aus der Welt[42],
mindestens aber ist es vom „Diesseits“ in das „Jenseits“ verschoben. Nicht aber
für Hegel, der in seiner „Wesenslogik“ zeigt, wie dieses Unsichtbare und
Gestaltlose, diesmal durch unser Zutun, in eine neue Gestalt überführt wird – in
die „Vernunftgestalt“.
***
Dem Schluss
nach § 187/Z E liegt die Tatsache zugrunde, dass beide Naturen und ihre
jeweiligen Derivate als Teile nur relative
Totalitäten sind. Das verweist uns auf § 141 R, wo Hegel den Begriff der „relativen
Totalität“ prägt und die „relativen Totalitäten“ von den „abstrakten“, also
„unvermittelten“, Totalitäten unterscheidet. „Relativität“, „Einheit“,
„Ganzes“, „Vermittlung“ sind also Begriffe, die im Verbund zu sehen sind und
die Hegel der „Identität“ entgegensetzt.
Schon seine
Auseinandersetzung mit Fichte, später auch mit Schelling, kreiste um die Frage
der „Identität“. Beiden hält Hegel vor, dass sie eine der beiden
Entgegengesetzten, der eine den „Geist“, der andere die „Natur“, zu absoluten
Totalitäten „steigern“ und sie damit in einen Rang erheben, der ihnen nicht
zukommt. Jeder der beiden gelangt zu einer probaten, scheinbar in sich
schlüssigen Lösung. Aber da beide den „Entgegengesetzten“
einen „verschiedenen Rang“ geben, die eine herrschen lassen und die andere
„botmäßig“ machen[43],
steuern beide auf die Herrschaft einer Natur über die andere, ins Politische
übertragen: auf die Diktatur zu. Einmal, bei Fichte, käme der „Betriebsstaat“[44] heraus, zum anderen, bei Schelling, stünde am
Ende die „Öko“-Diktatur. Resultat bei beiden: eine „gewaltsame Halbierung“, die
zu den „schlechtesten Weisen der Einheit“[45]
führt. Beide verfehlen den „Vernunftstaat“. Und Kant? Er hält sich, wie wir
bereits sahen, heraus. Er hält sich an das Faktische: an die „Entzweiung“, an
die „Entgegensetzung“. Ihre „Einheit“? Die mag es geben, jedoch nur außerhalb
des Faktischen. Er fühlt sich nicht berufen, danach zu suchen.
„Markenzeichen“
der beiden ersten Schlussbilder ist, dass – systemtheoretisch betrachtet – ein
Extrem, eine der beiden entgegengesetzten Naturen, eines der Teile, zugleich
die Aufgabe des „Ganzen“, die „Vermittlung“, übernimmt. Zuerst die „primäre“,
dann, ab dem 17. Jahrhundert, die „produzierte“ Natur. Aristoteles hat das als
erster erkannt und in seinem System verarbeitet. An ihn hält sich die Philosophie
der Aufklärung. Und so muss man sich nicht wundern, dass ihr Weltbild von der
ersten Schlussfigur geprägt ist. Was sie jedoch übersieht: Jetzt steht eine
andere Natur, die „produzierte“, in der Mitte. Scheinbar bleibt man damit bei Aristoteles.
Tatsächlich aber steht in der Mitte des jetzigen Schlusses der „Geist“ bzw. die
Gegennatur. Im Endeffekt haben wir statt der Vorherrschaft der einen, nun die
Vorherrschaft der anderen Natur.[46] Und was für einer Natur! Hegel erkennt damals
bereits: Diese Natur ist drauf und dran, die andere unter sich zu ersticken.
Wenn also damals die „Einheit“ unter dem Kommando der „primären“ und jetzt
unter dem Kommando der „produzierten“ Natur steht, dann ist das nicht eine Art
ausgleichende Gerechtigkeit, die zum Zuge kommt. Der Mangel jenes Zustandes,
den Schlussfigur 1 darstellt, wird durch den in Schlussfigur 2 dargestellten
Zustand vielmehr potenziert.
Die
Vorherrschaft der primären Natur verband sich mit der Vorherrschaft einer
Sittlichkeit, die Recht und Pflicht in sich birgt. Jetzt leben wir im Zustand
des Rechts – und zwar eines Rechts, das seinen Inhalt aus der Entpflichtung
gegenüber der „primären“ Natur bezieht. Aristoteles ist entschuldigt. Er war
mit seiner Philosophie auf der Höhe der Zeit. Er musste aber korrigiert und
weitergeführt werden, vielleicht auch bloß richtig verstanden werden, als mit
Zerfall des „naturwüchsigen Gemeinwesens“ eine neue Lage entsteht. Eine
„dialektische Logik“ ist jetzt gefordert, die die „Vernunft“ in die Mitte
stellt. Übertragen auf unser Thema: Auch Recht und Moral sind zunächst „unvermittelt“, also
„abstrakt“, befinden sich also im „Krankheitszustand“, von dem aus ein dritter,
„diese beiden abstrakten Momente in
sich vereinigenden und darum konkreter“[47], Zustand anzustreben ist. Also auch hier
fortdenken zum Begriff, in dem beide vermittelt sind.
Gegen
die Vernunftgestalt werden seit Hegels Zeiten tausenderlei Einwände erhoben.
Aber eigentlich sind es nur tausend Variationen des einen, des zentralen
Einwands: dass nämlich durch sie die „Freiheit“ eingeschränkt wird, dass sie
„freiheitsfeindlich“ ist. Oder, vom anderen Extrem her gesehen: dass die
Vernunftgestalt „naturfeindlich“[48] ist. Richtig daran ist nur, dass dieser
„dogmatische“ und von Hegel entschieden zurückgewiesene Standpunkt, dieser
Standpunkt der Teile, „im Ganzen“ aufgehoben wird.[49]
Wer die
Freiheit vom Teil her, wer sie als die Freiheit nur der „produzierten“ Natur
sieht, verkennt das Wesen dessen, was Hegel unter „Vermittlung“ versteht.
„Vermittlung“
muss sein, sagt der Marxist G. Lukacs. Sie ist unverzichtbares Instrument
„ontologischer Selbstkorrektur“[50]. Aber nicht die hegelsche Art. Wenn vermittelt
werden muss, dann so, wie wir es bereits bei Aristoteles, Fichte, Schelling, vor
allem dann bei Feuerbach praktiziert sehen: Als spezifische Weise der
„Wechselwirkung“; Wechselwirkung bei „Übergreifen“ einer Seite.[51]
Also eine Vermittlung, die bei Marx eingebettet ist in die „Einheit und den
Kampf der Gegensätze“ und sich als Wechselwirkung ungleicher Kräfte und Größen
versteht. Das „Ganze“ Hegels - für Lukacs ohnehin eine Spukgestalt - stört dabei, verfälscht das Ergebnis. Deshalb
gefällt es ihm nicht, wie Hegel
vermittelt.[52] Aufgrund des „Systems“
führe seine Vermittlung jedenfalls zu
falschen Ergebnissen. Denn weil er sie bei der „Idee“ beginnen lasse, „muss er
die sonst richtig erkannte Wechselbeziehung“ – die Beziehung der beiden Naturen
zueinander – „ontologisch herabsetzen.“[53] Damit könne man nicht zufrieden sein, weil
Betroffener solcher Herabsetzung ja die „produzierte“ Natur sei und diese ja
„übergreife“[54]. Hegels Vermittlung hafte
somit der Makel an, eine Homogenisierung der wechselwirkenden Gegenüber zu
bewirken; sie ziele ab auf ein Gleichgewicht und damit: auf eine Gleichheit,
beider Seiten.[55] Lukacs dazu: „Ohne Frage
gibt es Fälle, wo dies [die Gleichgewichtslage- B.R.] den Tatsachen entspricht.
Für die reale, für die ontologisch bedeutsame Entwicklung sind jedoch vor allem
jene Wechselwirkungen ausschlaggebend, in denen das, was Marx später als das
‚übergreifende Moment‘ genannt hat, zur Geltung kommt.“[56] So aber, hier aber, trete eine Verzerrung der
Wirklichkeit ein.
Richtig
ist das Gegenteil. Zwar scheint diese Art der Wechselwirkung die „nächste
Wahrheit des Verhältnisses von Ursache und Wirkung“ zu sein. Tatsächlich aber
steht sie erst „an der Schwelle des Begriffs“[57]
– des Begriffs „Vermittlung“. Mit „Wechselwirkung“, gerade auch jener bei „Übergreifen“
einer Seite, dürfe man sich daher nicht begnügen, wenn man der Vernunft genügen
wolle. Nur über die „Vermittlung“ wird das Verhältnis der Naturen
geradegerückt. Sie korrigiert, was wir bislang praktizieren: jene „schlechteste Weise der Einheit“, von
der bereits die Rede war; jene Weise, die die eine Seite zum Herrn macht und
die andere zum Knecht. Mit ihr wird erreicht, dass Gleichheit herrscht. Aber eine
„lebendige“! Das ist eine Gleichheit, die durchaus Ungleichheit zulässt, wenn
gesichert ist, dass sie „von der Gerechtigkeit
zur Gleichheit zurückgebracht wird.“[58]
Mit
einer „Vermittlung“ dieser Art kann sich nicht anfreunden, wer die eine oder
andere Natur favorisiert. Sie wird daher perhorresziert, wie Hegel mit Blick auf
Fichte und Schelling formuliert. Er hält dagegen: „Dies Perhorreszieren stammt
aber … aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten
Erkennens selbst.“[59]
Sein
zentrales, immer wieder betontes Anliegen: Ein ausgewogenes Verhältnis der
beiden Naturen zueinander auch jetzt, gerade jetzt, nach der „Entzweiung“,
beizubehalten bzw. zurückzugewinnen. Dass dieses Verständnis von „Vermittlung“
dem Tatendrang der bürgerlichen Gesellschaft Grenzen setzt, ist richtig. Aber
was ist daran angesichts der Schäden, die daraus erwachsen sind, auszusetzen?
Anmerkung:
Warum
betont Hegel in § 269 R, dass der Staat ein „Organismus“ ist, obwohl doch der
Staat seiner Zeit dabei ist, seinen Organismuscharakter abzustreifen und sich
zum „Vernunftstaat“ zu wandeln? Mir scheint, dass der Zusatz zu § 135 E eine
Antwort darauf gibt. Dort zeigt Hegel auf, dass nicht jeder Zerfall eines
Ganzen zu einem Verhältnis von Teil
und Ganzen führt, sondern die Teile auch unter Vernichtung des Ganzen
hervorgehen können. Am Beispiel „Mensch“: er kann nicht geteilt werden, ohne
dass er sein Leben einbüßt und als „Ganzes“ aufhört zu bestehen. Anders aber
beim Gemeinwesen und auch – wie wir noch später sehen werden[60]
– bei der Familie. Hier wandelt sich ein „biologisch“ geprägter Zusammenschluss
von „Gliedern“ im Rahmen einer „Aufhebung“ zu einem „logisch“ geprägten
Zusammenschluss des Ganzen und der (relativ selbständigen) Teile; die
„Leiblichkeit“ des Organismus wird ersetzt durch die „vernünftige Institution“.
***
Beigefügt ist eine Handskizze, die den logischen
Gang der Geschichte, wie er aus § 187/Z
E ersichtlich wird, verdeutlichen soll. Sie stammt aus 2014, ist also
nicht auf dem letzten Stand meiner
Erkenntnis. Trotzdem halte ich sie für geeignet, den obigen Text zu
veranschaulichen. Im Unterschied zur Darstellung als Dreieck oder Pyramide wird
sichtbar, dass der „Zerfall“ des „naturwüchsigen“ Gemeinwesens in zwei
entgegengesetzte Naturen tatsächlich eine „Aufhebung“ ist. Die frühere Gestalt
des Gemeinwesens, die „Naturgestalt“, geht verloren, ein Prozess der in der
Entgegensetzung endet. Daran knüpft nahtlos der Prozess an, der – wie Hegel in
§ 122 E formuliert – „die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit oder des Seins“
bewirkt. Aufgabe des neu erstehenden Seins, der „Vernunftgestalt“, ist es, die
beiden zutage getretenen Naturen, bei deren „Entgegensetzung“ es bleibt, zu vermitteln.
[1] W. Schönfeld,
Puchta und Hegel, in: Karl Larenz (Hrsg.), Rechtsidee und Staatsgedanke,
Festgabe für Julius Binder, Berlin 1930, S. 17.
[2] MEW Bd. 21, S. 268. Dagegen
wendet sich E. Bloch („Problem der Engelsschen Trennung von ‚Methode‘ und
‚System‘ bei Hegel“ sowie „Hegel und die Gewalt des Systems“, beide abgedruckt
in Werke Bd. 10, Frankfurt/M 1985, S. 461-481 u. 481-500, vor allem aber in
„Prinzip Hoffnung II, Berlin 1955); er macht dort Einwände geltend, die auch
dem Anliegen dieser Arbeit entsprechen. Sie trugen ihm seitens seiner
realsozialistischen Kollegenschaft schärfste Kritik ein. Im vermeintlichen Interesse
Hegels ist es eine bis heute verbreitete Strategie, wie L. Siep kritisiert,
„die Ansprüche seines Systems abzuschwächen.“ (L. Siep, Zur Einführung“ (in das
Kolloquium zu „System und Geschichte“), in: Die Weltgeschichte – das
Weltgericht? hrsg. von R. Bubner u. W. Mesch, Stuttgart 2001, S. 92).
[3] Dazu informativ
H. Kroner, System und Geschichte bei Hegel, Logos 20 (1931), S. 243-258.
[4] Siehe dazu: L.
Siep, Hegels Holismus und die gegenwärtige Sozialphilosophie, in: A.
Gethmann-Siefert/E. Weisser-Lohmann (Hrsg.), Kunst, Kultur, Öffentlichkeit,
Paderborn 2001, S. 69-80.
[5] Phän, S.18.
[6] § 39 R.
[7] Dazu der Aufsatz von O.
Pöggeler, Hegels Jenaer Systemkonzeption, Philosoph. Jahrbuch 71. Jg.
(1963/64), S. 286-318.
[8] Siehe dazu der
Beitrag „Zwischen Sein und Bewusstsein: das Wesen“ – hier auf dieser Plattform.
[9] § 141 R.
[10] Dazu S. Zizek,
Weniger als
nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S.
333f.: Hegel schlägt mit seinem „System“ den Bogen von der „griechischen Polis
als organischer Einheit von Individuum und Gesellschaft ... zu einer neuen
organischen Einheit, einer neuen Polis ..., die dem Einzelnen ein tieferes
Gefühl der sozialen Solidarität böte, welches über die ‚mechanistischen‘
Interaktionen und das individualistische Konkurrenzdenken der
Bürgergesellschaft hinausginge.“
Selbst füge ich hinzu: Der Gesichtspunkt
„Klassen/Klassenantagonismus“ rückt weiter in die Mitte, wenn Ausgangspunkt nur
die „produzierte“ Natur ist. Betrachtet man also (wie Marx) die Geschichte als
Geschichte verschiedener Gestaltungen (nur) dieser Natur, rückt automatisch
dieser Antagonismus an die Stelle des Antagonismus der beiden Naturen.
[11] Vgl. § 14/A E.
[12] L (B), S. 9.
[13] Aus Frankfurt schreibt er an
Schelling, er habe „zwar auch ein System ... schaffen müssen“, hoffe aber
trotzdem ihm als Freund zu begegnen.
(zitiert bei K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844,
Nachdruck Darmstadt 1977, S. 142).
[14] Seine zahlreichen
System-Entwürfe künden davon.
[15] Dazu K. Rosenkranz, a.a.O.,
S. 178-198 unter der Überschrift: „Didaktische Modifikationen des Systems“.
[16] Ebd., S. 172.
[17] Ebd., S. 173. Auch Fichte
und Schelling arbeiten mit zwei „entgegengesetzten“ Naturen. Im Unterschied zu
Hegel siedeln sie jedoch eine von ihnen auf einer höheren Ebene an, von der aus
sie die andere beherrscht. Fichte favorisiert die „produzierte“, Schelling die
„primäre“. Hegel hingegen sieht in ihnen zwar entgegengesetzte, aber
gleichgeordnete Naturen, die deshalb über eine dritte Natur vermittelt werden
müssen.
[18] Siehe dazu § 32 E, wo
sinngemäß ausgesagt wird: Die aristotelische Metaphysik wurde zum
„Dogmatismus“, weil sie nun, nach dem
Untergang des „naturwüchsigen Gemeinwesens“, in dem ein Teil (die „primäre“
Natur) das Ganze vertreten hatte, den Blick auf die neue Situation verstellt,
die durch zwei Teile und ein Ganzes geprägt ist. Die alte Sichtweise wird
fortgeführt. Geändert hat sich lediglich, dass jetzt die eine Natur durch die
andere ersetzt wird. Das potenziert den Mangel der alten Metaphysik.
[19] Rosenkranz, a.a.O., S 173. Siehe dazu auch
die sehr anschauliche Darstellung bei O. Pöggeler, a.a.O.
[20] Rosenkranz, S. 188; siehe auch die ganz
ähnlich lautende Aussage bei G. Lukacs, Der junge Hegel, a.a.O., S. 329.
[21] Vgl. G. Lukacs, Der junge Hegel. Über die
Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Zürich, Wien 1948, S. 6.
[22] Hegel, MM 12 (VPhG), S. 96 f.: „Die
Weltgeschichte ... ist also überhaupt
die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im
Raume auslegt.“
[23] Zitiert bei Rosenkranz, a.a.O., S. 192.
[24] Siehe dazu: H. Kroner, System und Geschichte
bei Hegel, a.a.O., besonders S. 251.
[25] Hegel in § 189/Z R: In dem „Wimmeln von
Willkür“, aus der „Masse von Zufälligkeiten“ die „Gesetze“ finden.
[26] O. Pöggeler, a.a.O., S. 292.
[27] Und wie er immer bestimmter
anhand des englischen und französischen Anschauungsmaterials sieht: weit
gefährlichere und folgenreichere!
[28] In § 385 E
spricht Hegel von „einer von ihm [dem „subjektiven Geist“] hervorzubringen und
[bereits] hervorgebrachten Welt“ – die „objektiver Geist“ ist.
[29] Phän, S. 327.
[30] Ebd., S. 330.
[31] Ebd.
[32] Ebd.
[33] Siehe dazu: L
[S], S. 62 f.
[34] Anschaulich die
Schilderung des Streits durch O. v. Gierke, Johann Althusius und die
Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur
Geschichte der Rechtssystematik, Aalen 1981 (7. Aufl.), S. 99 ff.
[35] V. Rüfner, Der
Begriff der Natur innerhalb des Naturrechts, ARSP Bd. XXXIV (1940), S. 60.
[36] Hegel im Rahmen
seiner Äußerungen zur Identitätsphilosophie – E/Vorrede v. 1827 (MM 8, S. 18).
[37] Siehe § 107/Z E,
wo Hegel darauf hinweist, „dass alles Menschliche – Reichtum, Ehre, Macht und
ebenso Freude, Schmerz usw. – sein bestimmtes Maß hat, dessen Überschreitung
zum Verderben und zum Untergang führt.“
[38] Hegel definiert
in der „Wesenslogik“ (L [W], S. 161) die Wirklichkeit als die „Einheit des
Wesens und der Existenz“. Das Wesen für sich allein ist „gestaltlos“. Die
Erscheinung für sich ist „haltlos“. Das Wesen, entnehme ich daraus, ist
„gestaltloses Sein“. Siehe dazu auch die unter FN 7 angegebene Literatur.
[39] § 187/Z E.
[40] O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des
Privatrechts, Berlin 1889, S. 5.
[41] § 123/Z E.
[42] Vgl. dazu L.
Siep, Zweier- und Dreierbeziehungen in der Sozialphilosophie des 20.
Jahrhunderts, in: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie,
Freiburg/München 1979, S. 76-86. Dort S. 80: „Dreierbeziehungen setzen die
Existenz von Zweierbeziehungen voraus“. Aber letztere „tendieren zum Ausschluss
des Dritten.“
[43] DS MM 2, S. 48.
[44] Wie er ja auch in seinem „Geschlossenen
Handelsstaat“ antizipiert ist.
[45] E/Vorrede 1827 =
MM 8, S. 18 u. 21.
[46] Hegel gegen Kant:
„Kant preist sonst die Logik, nämlich das
Aggregat von Bestimmungen und Sätzen, das im gewöhnlichen Sinne Logik heißt,
darüber glücklich, dass ihr vor anderen Wissenschaften eine frühe Vollendung
zuteil geworden ist; seit Aristoteles habe sie keinen Rückschritt getan, aber
auch keinen Schritt vorwärts; das letztere deswegen, weil sie allem Ansehen
nach geschlossen und vollendet zu sein scheine.
Wenn
die Logik seit Aristoteles keine Veränderung erlitten hat ... , so ist daraus
eher zu folgern, dass sie um so mehr einer totalen Umarbeitung bedürfe; denn
ein zweitausendjähriges Fortarbeiten des Geistes muss ihm ein höheres
Bewusstsein über sein Denken und über seine reine Wesenheit in sich selbst
verschaffte haben.“ (L [S], S. 35 f.)
[47] § 408/Z E (S. 170) – Hervorhebung bei Hegel.
[48] A. Baeumler (Einführung zu: Hegels Schriften
zur Gesellschaftsphilosophie, Teil I: Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie,
Jena 1927, S. 67) schreibt: „Die Natur ist in Hegels Philosophie vernichtet.
Sein Herz gehörte der städtischen Gesellschaft“.
[49] Vgl. dazu die Ausführungen in § 32/Z E.
[50] Vgl. G. Lukacs, Zur Ontologie
des gesellschaftlichen Seins. Hegels falsche und echte Ontologie, Neuwied u.
Berlin 1971, S. 103.
[51] durch „Schwerpunktbildung“,
wie Luhmann (Gesellschaft, a.a.O., S. 144) für die moderne Systemtheorie
formuliert.
[52] Nämlich wie bereits in der
„Phänomenologie“ (MM 3, S. 340) dargestellt: „Das Ganze ist ein ruhiges
Gleichgewicht aller Teile.“
[53] Lukacs, a.a.O., S. 106.
[54] Marx, GR S. 20:
„Die Produktion greift über“. Siehe auch die generellere Aussage von Marx zur
„Vermittlung“ und zum „Übergreifen“ in MEW 1, S. 293f.
[55] Wie sehr Marx ein solches Gleichgewicht missfällt, zeigt sich in der Beurteilung des deutschen Kaiserreiches bzw. auch der davor bestehenden deutschen Staatlichkeit, die er, gemessen an England, USA und Schweiz als zurückgeblieben ansieht, weil hier die Reste des früheren Gemeinwesens einer konsequenten Parteinahme des Staates für die bürgerliche Gesellschaft entgegenstehen. (siehe dazu MEW 3, S. 62) Das Kaiserreich ist für „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalen Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist“.(MEW 19, S. 29).
[56] Lukacs, a.a.O. (Ontologie),
S. 105 f.
[57] § 156/Z E.
[58] Phän, S. 340 –
Hervorhebung bei H.
[59] Phän, S. 25.
[60] in dem geplanten
Beitrag zur „Wirtschaftsfamilie“.