Hegel und England (Reformbill-Schrift)[1]

Vorbemerkung:

Englands Weg zur Moderne (zur bürgerlichen Gesellschaft) unterscheidet sich in einigen Hauptpunkten von jenem, den die Staaten Kontinental-Europas einschlagen. Viele Faktoren kommen zusammen, die zu einem  englischen Sonderweg führen. Einige seien hier genannt:

-          Der Feudalismus, aus dem England ausgangs des Mittelalters als bürgerliche Gesellschaft hervorgeht, ist spätestens seit der Magna Charta, vereinbart  zwischen König und Baronen, ein modernerer als der kontinental-europäische. In seiner reformierten Gestalt wird er zur Grundlage eines scheinbar bruchlosen Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft. Pragmatismus und Utilitarismus prägen das Bild. Was auf dem Kontinent Gegenstand philosophischer „Kämpfe“ wird, besonders in Deutschland aber praktisch unerledigt bleibt, wird in England über zahlreiche Einzelschritte in die Praxis überführt.

-          Der Absolutismus, diese für Kontinental-Europa typische und bedeutsame Übergangsphase,  bleibt den Engländern (folglich) weitgehend erspart. Ebenso auch die philosophische Reaktion darauf, die Aufklärungs-Philosophie. Sie wird auf dem Kontinent, besonders in Frankreich, zum Fundament eines Denkens, welches der Herrschaft des absoluten Monarchen die des Parlaments entgegensetzt und durch diese theoretische Einseitigkeit zur Belastung wird, wo bzw. wenn es darum geht, das bloß Entgegengesetzte mit dessen Einheit zu verknüpfen. 

-          Was auf dem Kontinent an staatlichen Funktionen dem absolut regierenden Monarchen zuwächst, wächst in England dem Parlament zu. Die Folge: die englischen Könige werden in einem mehrhundertjährigen Prozess in die Rolle eines bloßen Titularkönigs abgedrängt. Das Besondere daran: der König bleibt offiziell Inhaber der zum Parlament übergewechselten Rechte und Funktionen. Das verdeckt den eingetretenen “Bruch“, nimmt ihm seine Schärfe, und erweckt den Eindruck größerer Kontinuität.

-          Knüpft man an den oberflächlichen Befund an, bietet England weiterhin das Bild einer „ungetrennten substanziellen Einheit“. Die Ablösung des feudalen Gemeinwesens durch die bürgerliche Gesellschaft erscheint als bloße Transformation. Dies umso mehr, weil den Engländern der „Fingerzeig“, die Spaltung in Staat und bürgerliche Gesellschaft, fehlt, der auf dem Festland den dortigen Beobachtern, darunter Hegel, als Orientierungspunkt dient.

 

Der hier skizzierte Weg Englands zur Moderne, die Effektivität dieses Weges, verdeckt jedoch ein ganz Wesentliches: Das vom Monarchen repräsentierte „naturwüchsige Gemeinwesen“ ist die politische Organisation der „primären“ und der „produzierten“ Natur. Das Parlament aber repräsentiert nur die „produzierte“ Natur. Die jetzige politische Bedeutungslosigkeit des Königs verweist also darauf, dass der bisherige Staat für beide Naturen zum Staat bloß einer Natur geschrumpft ist; die „primäre“ Natur wird von ihm nicht mehr repräsentiert.

Die Aufklärungs-Philosophie des Kontinents antizipiert, was in England längst dabei ist, Praxis zu werden. Aber die Fronten sind hier verhärtet und es bedarf einer Revolution, um zum Ziel zu gelangen. Am Ende aber steht ein Gleiches: eine politische Ordnung, aus der die „vorgefundene“ Natur als Subjekt ausgestoßen ist. Unbeachtet bleibt also hier wie dort, dass der „Bruch“ des bisherigen Gemeinwesens in erster Linie zu dessen Zerfall in zwei Naturen führt. Aber diese sind nur relativ selbständig, was bedeutet, dass ihre Einheit fortbesteht. Beruhte diese im „naturwüchsigen Gemeinwesen“ auf biologischer Grundlage, ist jetzt eine neue Art von „Einheit“ notwendig, die ihre Grundlage in der Logik hat. War das vormalige Gemeinwesen eine vom Monarchen repräsentierte „Naturgestalt, so steht jetzt das Gemeinwesen als „Vernunftgestalt“ auf der Tagesordnung.  Was aber geschieht? Zur Praxis wird, dass das ehemalige Ganze sich nur in einem der jetzigen Teile, der „produzierten“ Natur, fortsetzt. Am Ende ist es so, dass die „primäre“ Natur mehr und mehr an den Rand gedrängt wird und plötzlich außerhalb des Politischen steht. Die Übernahme des englischen Weges führt also zur Reduktion des Gemeinwesens auf die bürgerliche Gesellschaft; diese ist jetzt das „Ganze“. Der Staat, früher die politische Organisation beider Naturen, ist damit nur noch der Staat eines Teils. Damit ist die „primäre“ Natur zum „Outlaw“ gemacht. Politisch ist sie jetzt mitsprachelos, wirtschaftlich ist sie jetzt bloßes Objekt der Ausbeutung.

Der Monarch steht für ein Staatswesen, das politische Organisation beider Naturen ist. Wo er funktionslos wird zeigt dies an, dass das „Ganze“ um seine Funktion gebracht ist. An die Stelle einer Naturen-Dreiheit tritt die „produzierte“ Natur. Sie und ihre politische Organisation dulden einen Monarchen nur dann, wenn dieser allen früheren, sich aus der Repräsentation des „Ganzen“ ergebenden, politischen Funktionen entsagt. Er wird genutzt, ein „Ganzes“ vorzuspiegeln, das längst der Herrschaft eines Teils weichen musste. Immerhin, im Falle Englands hat sich diese „Spiegelei“ insofern „bezahlt“ gemacht, als sie der dortigen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Organisation eine insgesamt größere Akzeptanz und Stabilität beschert hat.

Im Deutschland des Jahres 1820 hat sich längst herumgesprochen, dass in England die „königliche Macht … zur bloßen Titularwürde herabgesunken“ ist.[2] Das uneingeschränkte Budgetrecht liegt beim Parlament, die Minister sind sämtlich Mitglieder des Parlaments. Aus der Sicht Hegels: Was in England als Staat existiert, ist schon weitgehend zu dem geschrumpft, was er als den „Not- und Verstandesstaat“ bezeichnet, also geschrumpft zum Staat bloß einer Natur. Aber noch ist der Bereich der konstitutionellen Monarchie seines Verständnisses nicht vollständig verlassen. Noch besteht Hoffnung, dass auch der englische Staat sich zu jenem „Vernunftstaat“ mausert, der der Hegelschen Staatsphilosophie zugrunde liegt.

                                                               

Der Konstitutionalismus Hegels wird missverstanden, wenn er nur als eine Aufteilung der Staatsgewalt auf den Monarchen hier und auf ein Parlament dort verstanden wird. Sein Konstitut bezieht sich auf beide Naturen; beide sind darin als Subjekte mit Rechten und Pflichten anerkannt. Das ist ein völlig anderer Ansatz als jener, der in Frankreich, England und den USA bereits Praxis geworden ist und auch in Deutschland der Jahre 1800 ff. Fuß zu fassen beginnt. Der liberale Zeitgeist drängt zu einem Staat, der die „primäre“ Natur der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Mitgliedern als Objekt der Aneignung überlässt. Was Hegel unter „Staat“ versteht, stößt deswegen bei den Liberalen, später auch bei Marx/Engels, auf eine Ablehnung, bei der es bis heute geblieben ist. Der Fortschritt ist in England zu finden. Die dortigen politischen Verhältnisse, das, was dort „Staat“ ist, ist das Maß aller Dinge. Die deutsche Wissenschaft überschlägt sich geradezu, das englische Beispiel zu propagieren.[3]

Wie also ist zu bewerten, was Hegel noch kurz vor seinem Tode als „Reformbill-Schrift“ zu Papier bringt?

Frankreich 1830, England 1831: Hegel war „davon überzeugt, dass dies lange erträumte Ideal“ – der „Vernunftstaat“ – „in seiner Gegenwart verwirklicht zu werden beginnt.“[4] Und was sieht er, was muss er erleben? „[D]ass der „Monarch … unaufhaltsam aus dem Mittelpunkt des Geschehens“[5] rückt, dass „zusammen mit der Beamtenschaft … die britische Monarchie … das Kampffeld der Politik“ verlässt.[6] Er sieht, dass im europaweit fortgeschrittensten Land der „Parlamentsstaat“ triumphiert und nicht sein „Vernunftstaat“ - und was sich anbahnt: dass der bisherigen Reihe „unvollkommener Staaten“ ein weiterer Staat, aus seiner Sicht: der unvollkommenste überhaupt, hinzufügt werden soll. Vor seinen Augen werden die Kernstücke seiner praktischen Philosophie, die „Vernunft“ und der „Vernunftstaat“, zertreten. Der „Jubel des Verstandes und der Endlichkeit“[7] gellt ihm in den Ohren. Der „Gesellschaftsstaat“ dekretiert sich als der Staat der Moderne, als der „neue Staat“[8]. „[D]ieses aus der Not geborene Gefüge sich wechselseitig bedingender Privatbedürfnisse und Privatverpflichtungen“[9], der „Notstaat“, gewinnt das Rennen. Für Hegel der worst case. Und da Deutschland zurückliegt, Preußen zumal, wird er wissen, dass die Entwicklung, diese Fehlentwicklung, vor deren Grenzen nicht halt machen wird.

Die Praxis selbst scheint seine Philosophie, zumal die Staatsphilosophie, ins Unrecht zu setzen. Und von der Praxis, zumal von der englischen, lassen sich immer mehr seiner Kollegen leiten. Für sie, die das Vorbild in England sehen, ist das, was Hegel schreibt, nichts anderes als Ausdruck einer Anglophobie. Sicher, was da geschrieben steht, ist von „einer höchst respektablen Detailkenntnis“, gesteht ihm Haym, gestehen auch heutige Autoren zu. Jedoch aufgeführt und interpretiert aus der Sicht eines, dem „der lebendige Prozess der Freiheit nichts, … die geordnete, wenn auch unfrei, polizeilich geordnete Freiheit Alles ist“[10]. Ein Gestriger, der über die Moderne urteilt. Ein Staatsphilosoph, der sich bei seinem Dienstherrn bezahlt machen will.

Kaum einer, der ihn versteht oder verstehen will. Selbst der ihm nahestehende E. Gans interpretiert die „konstitutionelle Monarchie“ längst entschieden liberalistisch.[11] Was also wird aus Hegels Hoffnung, aus seiner philosophischen Gewissheit? Der preußische Staat dieser Zeit entspricht keineswegs seinem Ideal, aber er steht diesem weit näher als der englische oder auch französische. Hier ist das Pendel noch nicht zur anderen Seite, zum anderen Extrem ausgeschlagen. Hier ist die Entscheidung noch nicht gefallen, hier besteht noch die Hoffnung, zur Mitte zu gelangen.

England wird gewogen und für zu leicht, für zu wenig „monarchisch“ befunden. Nicht der König  regiert dort, sondern: „Das Parlament regiert, wenn es auch die Engländer nicht dafür ansehen wollen.“[12] Schlimm genug, wie es jetzt schon steht. Aber was jetzt geplant ist, die „endgültige Verlagerung des Machtzentrums in das Unterhaus“[13], gibt der konstitutionellen Monarchie, gibt dem „Vernunftstaat“ den Rest. 

Indem Hegel also Preußen als positives Beispiel entgegenhält (und dabei überzeichnet!), verteidigt er seinen „Vernunftstaat“. Nur mit ihm kann die Alleinherrschaft der „produzierten“ Natur vermieden werden. Kurzum: Was der Mainstream als ökonomischen und politischen Fortschritt ansieht, ist für ihn ein Weg ins Verderben.

England ist für Hegel das Beispiel einer Entwicklung zur Moderne, die außerhalb der von ihm durch „System und Geschichte“ abgesteckten Bahnen verläuft. Sie verdeckt das Wesen der neuen Gestalt; sie ermöglicht, dass das Neue über das Alte interpretiert wird. Dieser Sonderweg führt zu einer, „logisch“ gesehen, „unsauberen“ Lösung, weil er den Eindruck erweckt als wandele sich das „feudale Gemeinwesen“ gewissermaßen „im Stück“ in eine „bürgerliche Gesellschaft“. Und bezogen auf den „Menschen“: Es entsteht der Eindruck als wandle sich der ungeteilte „Feudalmensch“ in den ebenso ungeteilten Menschen der bürgerlichen Gesellschaft. Der ganze, bereits geschilderte, logische Gehalt der Entwicklung ist damit zu den Akten gelegt und durch empirische Befunde ersetzt. Was sich aus dieser Sicht als eine Transformation darstellt, ist in Wirklichkeit eine Reduktion. Was von „Gestalt“ zu „Gestalt“ übergeht, ist „wesenslogisch“ gesehen nur der „Schein“ vom „Menschen“. Scheinbar wird eine feudale Form von „Demokratie“ - Demokratie, die auf den Privilegien der englischen Barone gegenüber ihrem König beruht - in eine „bürgerliche“ Demokratie überführt. Dieser „Schein“ - nach Hegel „der ganze Rest, der noch von der Sphäre des [ehemaligen] Seins übriggeblieben ist“[14] - wird als real existierend angesehen und in den Vordergrund gerückt. Er verunklart das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, er hilft, ein an sich Negatives in einem positiven Licht zu sehen. Ein Effekt, den der junge Marx in der „Heiligen Familie“ wie folgt beschreibt: Ein „Schein des Menschlichen“ tritt auf, der auch „an den ökonomischen Verhältnissen geltend“ gemacht wird. Aber er steht im Gegensatz dazu, dass diese Verhältnisse von „ihrem offen ausgesprochenen Unterschied vom Menschen“ gefasst werden müssen und von der Praxis ja auch „in ihrem strikt ökonomischen Sinn“ angewendet und verstanden werden.[15] Ein Schein wird „zum Zweck und Wesen des Ganzen“[16] erhoben. Zwar ist es in England und den USA mit diesem Schein gelungen, der Bevölkerung eine größere Zufriedenheit mit dem Bestehenden zu vermitteln als dies auf dem europäischen Kontinent der Fall war und hat sich von daher bezahlt gemacht. Aber das ändert nichts daran, dass damit ein falsches Prinzip heilig gesprochen wird.

Maßstab ist der „Vernunftstaat“. Und siehe: es gibt keine Annäherung an ihn. Im  Gegenteil: die Kluft wird immer größer, hier wie dort. In England ist man dabei, die „Idee“ eines wahrhaft politischen Staates, eines Staates, der als Interessenvertreter beider Naturen auftritt, unter einem Staat zu begraben, der nur die Interessen einer Natur vertritt. Wie also kann das, was jetzt in England geschieht, Vorbild sein? Was dort – und in breiten Kreisen Deutschlands ebenfalls - für Fortschritt gehalten wird, ist für Hegel als Fortschritt getarnter Rückschritt. Die Standpunkte sind geradezu entgegengesetzt.[17] Der englische Staat ist laut Hegel „seiner Idee gar nicht angemessen“, denn „Seele und Leib“ haben sich dort getrennt. Jene ist entflohen „in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens“, dieser ist „in die einzelnen Individualitäten zerfallen“[18]. Das düstere Bild eines „defigurierten“[19] Staates ist beschworen. Geradezu „madig“ gemacht ist ein Staat, der schon zehn Jahre später ganz unverhohlen das Vorbild der deutschen Liberalen, auch das von Marx/Engels sein wird.

Wenn Rosenkranz also in Bezug auf den späten Hegel meint, „[s]o kam es, dass seine politischen Ansichten immer konservativer wurden“, ja dass seine „Reformbillschrift“ bereits ein Vorbote der späteren Krankheit, wenn nicht selbst bereits Ausfluss eines erkrankten Geistes ist[20], ist ihm entgegenzuhalten:

Je mehr sich die „produzierte“ Natur verselbständigte und unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ ihren Siegeszug anzutreten begann und die „primäre“ Natur unter sich begrub – erst theoretisch, dann praktisch -, umso unwohler wurde es Hegel. Schließlich sah er bereits in seiner Jenaer Zeit einem solchen Siegeszug mit Sorge entgegen. Und auch seine „Landständeschrift“ zeigt uns einen durchaus vergleichbaren Standpunkt. Ohne die ihm nachgesagte Anpassungs-Not tritt er im württembergischen Verfassungsstreit dem Monarchen bei. Schon das wirkte auf manchen seiner Kollegen irritierend, schien sich damals aber noch mit einer liberalen Grundhaltung zu vereinbaren. Immerhin schien die konstitutionelle Monarchie ein erster Schritt in die richtige Richtung zu sein. Dass Hegel darunter etwas grundlegend anderes verstand als die Kollegenschaft oder gar das Publikum, wurde übersehen. Seine Gewissheit, dass der jetzt anstehende Staat, diese konstitutionelle Monarchie, die Einheit zweier entgegengesetzter Naturen verkörpert, blieb unverstanden. Der „Parlamentsstaat“ aber ist nur der Staat jener Natur, die jetzt unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ Furore macht. Aus seiner Sicht läuft es daher auf eine „Zertrümmerung“[21] der „Einheit“ bzw. des „Einheitsstaates“ hinaus, wollte man ihm zur Herrschaft verhelfen. Statt „Einheit“ entstünde nur eine Schein-Einheit – früher verkörpert durch den absolut regierenden Monarchen und nun durch das absolut regierende Parlament. Ein „törichtes“ Wechseln vom „Entweder“ zum „Oder“. Das Eine wie das Andere verstößt gegen den Begriff des Staates und führt zu dessen Privatisierung nach der einen oder anderen Seite. Beide Male bleibt die „ursprünglich substantielle Einheit“ unberücksichtigt“, wenn vom Gegenteil, „nämlich der gleichen Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit beider Teile gegeneinander ausgegangen wird.“[22]

Kurz gesagt:

Der (Staats-)Absolutismus ist so einseitig wie der (Staats-)Liberalismus. Beide laufen auf eine Privatisierung des Staates hinaus, die sich wiederum daraus ergibt, dass sich ein Teil, dass sich eine Natur zum „Ganzen“ aufschwingt.

Die Vernunft würde sich durchsetzen, hoffte Hegel. Das ist nicht so, sieht er nun. Das Rennen macht nicht sie, sondern die Unvernunft. Der Abstand vergrößert sich. Da Hegel bei seiner Meinung bleibt, konnte er (zu seinen Gunsten) zwar 1817 noch „liberal“ gedeutet werden, nicht mehr aber 1831. Jetzt zeigt sich in aller Deutlichkeit, was schon damals zwischen ihm und der liberalen Kollegenschaft stand: eine völlig andere Vorstellung von dem, was unter der „konstitutionellen Monarchie“ zu verstehen ist. Was für die einen ein Zwischenstadium ist, ist für Hegel der „Endstaat“.

Fassen wir zusammen:

Hegel kämpft mit seiner praktischen Philosophie gegen die philosophische Halbheit der „Aufklärerei“ an, die darin besteht, dass diese ganz einseitig für jene Natur Partei ergreift, die auch in Deutschland dabei ist, als bürgerliche Gesellschaft Gestalt zu gewinnen. Notwendig ist aus seiner Sicht eine Philosophie und – ihr folgend – eine Praxis, die für eine politische Organisation Sorge tragen, in der zwei gleichberechtigte Naturen, die „vorgefundene“ und die „produzierte“, zur „Einheit“ zusammengeführt sind. Das ist der philosophische Hintergrund auch der Reformbill-Schrift. Nur, dass Hegel hier nicht die Aufklärungs-Philosophie kritisch hinterfragt, sondern das in England bereits vorliegende praktische Ergebnis. 

In England ist die Alleinherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft zu besichtigen. Aus Hegels Sicht: eine  Fehlentwicklung, wie er am Beispiel der Staats- und Rechtsentwicklung nachzuweisen sucht. Im zurückgebliebenen Deutschland ist das Ergebnis erst in der Philosophie der Aufklärung antizipiert, schickt sich aber längst auch dort an, Praxis zu werden.

Einen unschätzbaren Vorteil bringt der englische Sonderweg mit sich: Weil er auf Pragmatismus und Utilitarismus beruht und seine Herausbildung nicht von einer beschönigenden bzw. rechtfertigenden Philosophie begleitet wird, ist der sich in England herausbildende Staat leichter als bloßer „Not-und Verstandesstaat“ zu durchschauen, als das auf dem Kontinent der Fall ist. Ein klares Bild zeigt sich: Ein Staat, dessen Aufgabe darin bestand, die Einheit beider Naturen zu exekutieren, wird abgelöst durch einen Staat, der bloß einer Natur verpflichtet ist. Aus der Sicht Hegels: der „Gemeinwesenstaat“ wird ersetzt durch den „Gesellschaftsstaat“. Der echte Staat weicht einem „Halbstaat“. Schon begrifflich zeigt sich das. Der „Not- und Verstandesstaat“ entsteht hier als klar vom Begriff „Staat“ abgegrenztes (Self-)Government, als Exekutivapparat der bürgerlichen Gesellschaft, als „Parlamentsstaat“. 

 

 



[1] Mehr dazu: B. Rettig, Hegels sittlicher Staat, S. 55-79 und Staat – Recht – Ökologie, S. 261-272.

[2] F. Klenk, Die Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl, Tübingen 1930, S. 7 – mit Hinweis auf die Arbeiten von Archenholz und Beschorner.

[3] O. Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1925, S. 36f.: „Unsere Schriftsteller und Professoren haben mit der Fruchtbarkeit von Feldmäusen Deutschland mit Büchern und Systemen bevölkert, in denen die englischen Schlagworte des freien Staates, des freien Bürgers … aus der Wirklichkeit englischer Kontore in die deutschen Wolken erhoben wurde.“

[4] G. Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Berlin u. Neuwied 1971 (Auszug aus Bd. 13/14 der Werkausgabe), S. 26 – mit Hinweis aus Phän, S. 18.

[5]  H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle Monarchie, in: E. Weisser-Lohmann/D. Köhler (Hrsg.), Verfassung und Revolution (HS Beiheft 42), Hamburg 2000, S. 173.

[6] Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich, Tübingen 1962, S. 28.  

[7]  GuW, S. 321.

[8]  § 260/Z R.

[9]  Theodor  Litt, Hegel, Heidelberg 1953, S. 116.

[10] R. Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 1927, S. 456 f. Siehe dazu auch: W. Steinmetz, Erfahrung und Erwartung als Argumente in Hegels Reformbill-Schrift und in der parlamentarischen Debatte in England, in: Ch. Jamme/E. Weisser-Lohmann, Politik und Geschichte. Zu den Intentionen G.W.F. Hegels Reformbill-Schrift, Bonn 1995, S. 127-150.

[11] Vgl. H. Boldt, a.a.O., S. 175. Und bereitet damit – wie es Beyer (Gans‘ Vorrede, a.a.O., S. 261) sieht – den Boden für „den  Freiheitsbegriff einer unterdrückten, aber geschichtlich vor dem Abschütteln dieses Jochs stehenden Klasse“.

[12] VPhG, S. 537 (Hervorh. bei H.).

[13] E. Vollrath, Hegels Wahrnehmung Englands, in: Politik und Geschichte, a.a.O., S. 196.

[14] Logik II, S. 9.

[15] MEW Bd. 2, S. 34.

[16] NR, S. 441.

[17] E. Vollrath (Hegels Wahrnehmung Englands, in: Jamme/Weisser-Lohmann, Politik und Geschichte (HS Beiheft 35) 1995, S. 192) vertritt hierzu die „Grundthese ..., dass bei Hegel unter dem Politischen etwas anderes  ... verstanden wird, als dies durchgängig in der englischen politischen Apperzeption der Fall ist.“ Das ist so.

[18] Logik (B), S. 208.

[19] Vgl. § 258/Z R.

[20] K. Rosenkranz (Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck 1977, S. 414 u. 419). Er meint, dass Hegel bei der Beurteilung Englands über die Stränge schlägt, weil er Englands Schattenseite mit zu schwarzen, Deutschlands Lichtseite mit zu glänzenden Farben malte. … Man fühlt dem Aufsatz, so gediegen er ist, … doch schon  eine krankhafte Verstimmung an.“

[21] LS, MM 4, S. 503. 

[22] Ebd., S. 505.

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