Hegel und England (Reformbill-Schrift)[1]
Vorbemerkung:
Englands Weg zur Moderne (zur bürgerlichen
Gesellschaft) unterscheidet sich in einigen Hauptpunkten von jenem, den die
Staaten Kontinental-Europas einschlagen. Viele Faktoren kommen zusammen, die zu
einem englischen Sonderweg führen.
Einige seien hier genannt:
-
Der
Feudalismus, aus dem England ausgangs des Mittelalters als bürgerliche
Gesellschaft hervorgeht, ist spätestens seit der Magna Charta, vereinbart zwischen König und Baronen, ein modernerer als
der kontinental-europäische. In seiner reformierten Gestalt wird er zur
Grundlage eines scheinbar bruchlosen Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft. Pragmatismus
und Utilitarismus prägen das Bild. Was auf dem Kontinent Gegenstand
philosophischer „Kämpfe“ wird, besonders in Deutschland aber praktisch
unerledigt bleibt, wird in England über zahlreiche Einzelschritte in die Praxis
überführt.
-
Der
Absolutismus, diese für Kontinental-Europa typische und bedeutsame
Übergangsphase, bleibt den Engländern
(folglich) weitgehend erspart. Ebenso auch die philosophische Reaktion darauf,
die Aufklärungs-Philosophie. Sie wird auf dem Kontinent, besonders in
Frankreich, zum Fundament eines Denkens, welches der Herrschaft des absoluten
Monarchen die des Parlaments entgegensetzt und durch diese theoretische
Einseitigkeit zur Belastung wird, wo bzw. wenn es darum geht, das bloß
Entgegengesetzte mit dessen Einheit zu verknüpfen.
-
Was auf
dem Kontinent an staatlichen Funktionen dem absolut regierenden Monarchen
zuwächst, wächst in England dem Parlament zu. Die Folge: die englischen Könige
werden in einem mehrhundertjährigen Prozess in die Rolle eines bloßen
Titularkönigs abgedrängt. Das Besondere daran: der König bleibt offiziell
Inhaber der zum Parlament übergewechselten Rechte und Funktionen. Das verdeckt
den eingetretenen “Bruch“, nimmt ihm seine Schärfe, und erweckt den Eindruck
größerer Kontinuität.
-
Knüpft
man an den oberflächlichen Befund an, bietet England weiterhin das Bild einer
„ungetrennten substanziellen Einheit“. Die Ablösung des feudalen Gemeinwesens
durch die bürgerliche Gesellschaft erscheint als bloße Transformation. Dies
umso mehr, weil den Engländern der „Fingerzeig“, die Spaltung in Staat und bürgerliche Gesellschaft, fehlt, der
auf dem Festland den dortigen Beobachtern, darunter Hegel, als
Orientierungspunkt dient.
Der hier skizzierte Weg Englands zur Moderne,
die Effektivität dieses Weges, verdeckt jedoch ein ganz Wesentliches: Das vom Monarchen repräsentierte
„naturwüchsige Gemeinwesen“ ist die politische Organisation der „primären“ und der „produzierten“ Natur. Das
Parlament aber repräsentiert nur die „produzierte“ Natur. Die jetzige
politische Bedeutungslosigkeit des Königs verweist also darauf, dass der
bisherige Staat für beide Naturen zum Staat bloß einer Natur geschrumpft ist;
die „primäre“ Natur wird von ihm nicht mehr repräsentiert.
Die Aufklärungs-Philosophie des Kontinents
antizipiert, was in England längst dabei ist, Praxis zu werden. Aber die
Fronten sind hier verhärtet und es bedarf einer Revolution, um zum Ziel zu
gelangen. Am Ende aber steht ein Gleiches: eine politische Ordnung, aus der die
„vorgefundene“ Natur als Subjekt ausgestoßen ist. Unbeachtet bleibt also hier
wie dort, dass der „Bruch“ des bisherigen Gemeinwesens in erster Linie zu dessen
Zerfall in zwei Naturen führt. Aber diese sind nur relativ selbständig, was bedeutet, dass ihre Einheit fortbesteht.
Beruhte diese im „naturwüchsigen Gemeinwesen“ auf biologischer Grundlage, ist
jetzt eine neue Art von „Einheit“ notwendig, die ihre Grundlage in der Logik
hat. War das vormalige Gemeinwesen eine vom Monarchen repräsentierte
„Naturgestalt, so steht jetzt das Gemeinwesen als „Vernunftgestalt“ auf der
Tagesordnung. Was aber geschieht? Zur
Praxis wird, dass das ehemalige Ganze sich nur in einem der jetzigen Teile, der
„produzierten“ Natur, fortsetzt. Am Ende ist es so, dass die „primäre“ Natur
mehr und mehr an den Rand gedrängt wird und plötzlich außerhalb des Politischen
steht. Die Übernahme des englischen Weges führt also zur Reduktion des
Gemeinwesens auf die bürgerliche Gesellschaft; diese ist jetzt das „Ganze“. Der
Staat, früher die politische Organisation beider Naturen, ist damit nur noch
der Staat eines Teils. Damit ist die „primäre“ Natur zum „Outlaw“ gemacht.
Politisch ist sie jetzt mitsprachelos, wirtschaftlich ist sie jetzt bloßes
Objekt der Ausbeutung.
Der Monarch steht für ein Staatswesen, das politische Organisation beider Naturen
ist. Wo er funktionslos wird zeigt dies an, dass das „Ganze“ um seine Funktion
gebracht ist. An die Stelle einer Naturen-Dreiheit tritt die „produzierte“
Natur. Sie und ihre politische Organisation dulden einen Monarchen nur dann,
wenn dieser allen früheren, sich aus der Repräsentation des „Ganzen“
ergebenden, politischen Funktionen entsagt. Er wird genutzt, ein „Ganzes“
vorzuspiegeln, das längst der Herrschaft eines Teils weichen musste. Immerhin,
im Falle Englands hat sich diese „Spiegelei“ insofern „bezahlt“ gemacht, als
sie der dortigen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Organisation
eine insgesamt größere Akzeptanz und Stabilität beschert hat.
Im Deutschland
des Jahres 1820 hat sich längst herumgesprochen, dass in England die
„königliche Macht … zur bloßen Titularwürde herabgesunken“ ist.[2]
Das uneingeschränkte Budgetrecht liegt beim Parlament, die Minister sind
sämtlich Mitglieder des Parlaments. Aus der Sicht Hegels: Was in England als
Staat existiert, ist schon weitgehend zu dem geschrumpft, was er als den „Not-
und Verstandesstaat“ bezeichnet, also geschrumpft zum Staat bloß einer Natur.
Aber noch ist der Bereich der konstitutionellen Monarchie seines Verständnisses
nicht vollständig verlassen. Noch besteht Hoffnung, dass auch der englische
Staat sich zu jenem „Vernunftstaat“ mausert, der der Hegelschen
Staatsphilosophie zugrunde liegt.
…
Der Konstitutionalismus Hegels wird
missverstanden, wenn er nur als eine Aufteilung der Staatsgewalt auf den
Monarchen hier und auf ein Parlament dort verstanden wird. Sein Konstitut bezieht sich auf beide Naturen; beide sind darin als
Subjekte mit Rechten und Pflichten anerkannt. Das ist ein völlig anderer Ansatz
als jener, der in Frankreich, England und den USA bereits Praxis geworden ist
und auch in Deutschland der Jahre 1800 ff. Fuß zu fassen beginnt. Der liberale
Zeitgeist drängt zu einem Staat, der die „primäre“ Natur der bürgerlichen
Gesellschaft und ihren Mitgliedern als Objekt der Aneignung überlässt. Was
Hegel unter „Staat“ versteht, stößt deswegen bei den Liberalen, später auch bei
Marx/Engels, auf eine Ablehnung, bei der es bis heute geblieben ist. Der
Fortschritt ist in England zu finden. Die dortigen politischen Verhältnisse,
das, was dort „Staat“ ist, ist das Maß aller Dinge. Die deutsche Wissenschaft
überschlägt sich geradezu, das englische Beispiel zu propagieren.[3]
Wie also ist zu bewerten, was Hegel noch kurz
vor seinem Tode als „Reformbill-Schrift“ zu Papier bringt?
Frankreich
1830, England 1831: Hegel war „davon überzeugt, dass dies lange erträumte
Ideal“ – der „Vernunftstaat“ – „in seiner Gegenwart verwirklicht zu werden
beginnt.“[4]
Und was sieht er, was muss er erleben? „[D]ass der „Monarch … unaufhaltsam aus
dem Mittelpunkt des Geschehens“[5] rückt, dass „zusammen mit der Beamtenschaft …
die britische Monarchie … das Kampffeld der Politik“ verlässt.[6]
Er sieht, dass im europaweit fortgeschrittensten Land der „Parlamentsstaat“
triumphiert und nicht sein „Vernunftstaat“ - und was sich anbahnt: dass der
bisherigen Reihe „unvollkommener Staaten“ ein weiterer Staat, aus seiner Sicht:
der unvollkommenste überhaupt, hinzufügt werden soll. Vor seinen Augen werden
die Kernstücke seiner praktischen Philosophie, die „Vernunft“ und der
„Vernunftstaat“, zertreten. Der „Jubel des Verstandes und der Endlichkeit“[7]
gellt ihm in den Ohren. Der „Gesellschaftsstaat“ dekretiert sich als der Staat
der Moderne, als der „neue Staat“[8]. „[D]ieses aus der Not geborene Gefüge sich
wechselseitig bedingender Privatbedürfnisse und Privatverpflichtungen“[9],
der „Notstaat“, gewinnt das Rennen. Für Hegel der worst case. Und da
Deutschland zurückliegt, Preußen zumal, wird er wissen, dass die Entwicklung,
diese Fehlentwicklung, vor deren Grenzen nicht halt machen wird.
Die
Praxis selbst scheint seine Philosophie, zumal die Staatsphilosophie, ins
Unrecht zu setzen. Und von der
Praxis, zumal von der englischen, lassen sich immer mehr seiner Kollegen
leiten. Für sie, die das Vorbild in England sehen, ist das, was Hegel schreibt,
nichts anderes als Ausdruck einer Anglophobie. Sicher, was da geschrieben
steht, ist von „einer höchst respektablen Detailkenntnis“, gesteht ihm Haym, gestehen
auch heutige Autoren zu. Jedoch aufgeführt und interpretiert aus der Sicht
eines, dem „der lebendige Prozess der Freiheit nichts, … die geordnete, wenn
auch unfrei, polizeilich geordnete Freiheit Alles ist“[10].
Ein Gestriger, der über die Moderne urteilt. Ein Staatsphilosoph, der sich bei
seinem Dienstherrn bezahlt machen will.
Kaum
einer, der ihn versteht oder verstehen will. Selbst der ihm nahestehende E.
Gans interpretiert die „konstitutionelle Monarchie“ längst entschieden
liberalistisch.[11] Was also wird aus Hegels Hoffnung, aus seiner
philosophischen Gewissheit? Der preußische Staat dieser Zeit entspricht
keineswegs seinem Ideal, aber er steht diesem weit näher als der englische oder
auch französische. Hier ist das Pendel noch nicht zur anderen Seite, zum
anderen Extrem ausgeschlagen. Hier ist die Entscheidung noch nicht gefallen,
hier besteht noch die Hoffnung, zur Mitte zu gelangen.
England
wird gewogen und für zu leicht, für zu wenig „monarchisch“ befunden. Nicht der
König regiert dort, sondern: „Das Parlament regiert, wenn es auch die
Engländer nicht dafür ansehen wollen.“[12]
Schlimm genug, wie es jetzt schon steht. Aber was jetzt geplant ist, die
„endgültige Verlagerung des Machtzentrums in das Unterhaus“[13],
gibt der konstitutionellen Monarchie, gibt dem „Vernunftstaat“ den Rest.
Indem
Hegel also Preußen als positives Beispiel entgegenhält (und dabei
überzeichnet!), verteidigt er seinen „Vernunftstaat“. Nur mit ihm kann die
Alleinherrschaft der „produzierten“ Natur vermieden werden. Kurzum: Was der
Mainstream als ökonomischen und politischen Fortschritt ansieht, ist für ihn
ein Weg ins Verderben.
England ist für Hegel das Beispiel einer Entwicklung zur Moderne,
die außerhalb der von ihm durch „System und Geschichte“ abgesteckten Bahnen
verläuft. Sie verdeckt das Wesen der neuen Gestalt; sie ermöglicht, dass das
Neue über das Alte interpretiert wird. Dieser Sonderweg führt zu einer,
„logisch“ gesehen, „unsauberen“ Lösung, weil er den Eindruck erweckt als
wandele sich das „feudale Gemeinwesen“ gewissermaßen „im Stück“ in eine
„bürgerliche Gesellschaft“. Und bezogen auf den „Menschen“: Es entsteht der Eindruck
als wandle sich der ungeteilte „Feudalmensch“ in den ebenso ungeteilten
Menschen der bürgerlichen Gesellschaft. Der ganze, bereits geschilderte,
logische Gehalt der Entwicklung ist damit zu den Akten gelegt und durch
empirische Befunde ersetzt. Was sich aus dieser Sicht als eine Transformation
darstellt, ist in Wirklichkeit eine Reduktion. Was von „Gestalt“ zu „Gestalt“
übergeht, ist „wesenslogisch“ gesehen nur der „Schein“ vom „Menschen“.
Scheinbar wird eine feudale Form von „Demokratie“ - Demokratie, die auf den
Privilegien der englischen Barone gegenüber ihrem König beruht - in eine
„bürgerliche“ Demokratie überführt. Dieser „Schein“ - nach Hegel „der ganze
Rest, der noch von der Sphäre des [ehemaligen] Seins übriggeblieben ist“[14]
- wird als real existierend angesehen und in den Vordergrund gerückt. Er
verunklart das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, er hilft, ein an sich
Negatives in einem positiven Licht zu sehen. Ein Effekt, den der junge Marx in
der „Heiligen Familie“ wie folgt beschreibt: Ein „Schein des Menschlichen“
tritt auf, der auch „an den ökonomischen Verhältnissen geltend“ gemacht wird.
Aber er steht im Gegensatz dazu, dass diese Verhältnisse von „ihrem offen
ausgesprochenen Unterschied vom Menschen“ gefasst werden müssen und von der
Praxis ja auch „in ihrem strikt ökonomischen Sinn“ angewendet und verstanden
werden.[15]
Ein Schein wird „zum Zweck und Wesen des Ganzen“[16]
erhoben. Zwar ist es in England und den USA mit diesem Schein gelungen, der
Bevölkerung eine größere Zufriedenheit mit dem Bestehenden zu vermitteln als
dies auf dem europäischen Kontinent der Fall war und hat sich von daher bezahlt
gemacht. Aber das ändert nichts daran, dass damit ein falsches Prinzip heilig
gesprochen wird.
Maßstab ist der „Vernunftstaat“. Und siehe: es
gibt keine Annäherung an ihn. Im
Gegenteil: die Kluft wird immer größer, hier wie dort. In England ist
man dabei, die „Idee“ eines wahrhaft politischen Staates, eines Staates, der
als Interessenvertreter beider
Naturen auftritt, unter einem Staat zu begraben, der nur die Interessen einer
Natur vertritt. Wie also kann das, was jetzt in England geschieht, Vorbild
sein? Was dort – und in breiten Kreisen Deutschlands ebenfalls - für
Fortschritt gehalten wird, ist für Hegel als Fortschritt getarnter Rückschritt.
Die Standpunkte sind geradezu entgegengesetzt.[17] Der englische Staat ist laut Hegel „seiner
Idee gar nicht angemessen“, denn „Seele und Leib“ haben sich dort getrennt.
Jene ist entflohen „in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens“, dieser ist
„in die einzelnen Individualitäten zerfallen“[18]. Das düstere Bild eines „defigurierten“[19]
Staates ist beschworen. Geradezu „madig“ gemacht ist ein Staat, der schon zehn
Jahre später ganz unverhohlen das Vorbild der deutschen Liberalen, auch das von
Marx/Engels sein wird.
Wenn Rosenkranz also in Bezug auf den späten
Hegel meint, „[s]o kam es, dass seine politischen Ansichten immer konservativer
wurden“, ja dass seine „Reformbillschrift“ bereits ein Vorbote der späteren
Krankheit, wenn nicht selbst bereits Ausfluss eines erkrankten Geistes ist[20], ist ihm entgegenzuhalten:
Je mehr sich die „produzierte“ Natur
verselbständigte und unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ ihren Siegeszug
anzutreten begann und die „primäre“ Natur unter sich begrub – erst theoretisch,
dann praktisch -, umso unwohler wurde es Hegel. Schließlich sah er bereits in
seiner Jenaer Zeit einem solchen Siegeszug mit Sorge entgegen. Und auch seine
„Landständeschrift“ zeigt uns einen durchaus vergleichbaren Standpunkt. Ohne
die ihm nachgesagte Anpassungs-Not tritt er im württembergischen
Verfassungsstreit dem Monarchen bei. Schon das wirkte auf manchen seiner
Kollegen irritierend, schien sich damals aber noch mit einer liberalen
Grundhaltung zu vereinbaren. Immerhin schien die konstitutionelle Monarchie ein
erster Schritt in die richtige Richtung zu sein. Dass Hegel darunter etwas
grundlegend anderes verstand als die Kollegenschaft oder gar das Publikum,
wurde übersehen. Seine Gewissheit, dass der jetzt anstehende Staat, diese
konstitutionelle Monarchie, die Einheit zweier entgegengesetzter Naturen verkörpert,
blieb unverstanden. Der „Parlamentsstaat“ aber ist nur der Staat jener Natur,
die jetzt unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft“ Furore macht. Aus seiner
Sicht läuft es daher auf eine „Zertrümmerung“[21]
der „Einheit“ bzw. des „Einheitsstaates“ hinaus, wollte man ihm zur Herrschaft
verhelfen. Statt „Einheit“ entstünde nur eine Schein-Einheit – früher
verkörpert durch den absolut regierenden Monarchen und nun durch das absolut
regierende Parlament. Ein „törichtes“ Wechseln vom „Entweder“ zum „Oder“. Das
Eine wie das Andere verstößt gegen den Begriff des Staates und führt zu dessen
Privatisierung nach der einen oder anderen Seite. Beide Male bleibt die
„ursprünglich substantielle Einheit“ unberücksichtigt“, wenn vom Gegenteil,
„nämlich der gleichen Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit beider Teile
gegeneinander ausgegangen wird.“[22]
Kurz gesagt:
Der (Staats-)Absolutismus ist so einseitig wie
der (Staats-)Liberalismus. Beide laufen auf eine Privatisierung des Staates
hinaus, die sich wiederum daraus ergibt, dass sich ein Teil, dass sich eine
Natur zum „Ganzen“ aufschwingt.
Die Vernunft würde sich durchsetzen, hoffte
Hegel. Das ist nicht so, sieht er nun. Das Rennen macht nicht sie, sondern die
Unvernunft. Der Abstand vergrößert sich. Da Hegel bei seiner Meinung bleibt,
konnte er (zu seinen Gunsten) zwar 1817 noch „liberal“ gedeutet werden, nicht
mehr aber 1831. Jetzt zeigt sich in aller Deutlichkeit, was schon damals
zwischen ihm und der liberalen Kollegenschaft stand: eine völlig andere
Vorstellung von dem, was unter der „konstitutionellen Monarchie“ zu verstehen
ist. Was für die einen ein Zwischenstadium ist, ist für Hegel der „Endstaat“.
Fassen wir zusammen:
Hegel kämpft mit seiner praktischen Philosophie
gegen die philosophische Halbheit der „Aufklärerei“ an, die darin besteht, dass
diese ganz einseitig für jene Natur Partei ergreift, die auch in Deutschland
dabei ist, als bürgerliche Gesellschaft Gestalt zu gewinnen. Notwendig ist aus
seiner Sicht eine Philosophie und – ihr folgend – eine Praxis, die für eine
politische Organisation Sorge tragen, in der zwei gleichberechtigte Naturen,
die „vorgefundene“ und die „produzierte“, zur „Einheit“ zusammengeführt sind.
Das ist der philosophische Hintergrund auch der Reformbill-Schrift. Nur, dass
Hegel hier nicht die Aufklärungs-Philosophie kritisch hinterfragt, sondern das
in England bereits vorliegende praktische Ergebnis.
In England ist die Alleinherrschaft der
bürgerlichen Gesellschaft zu besichtigen. Aus Hegels Sicht: eine Fehlentwicklung, wie er am Beispiel der
Staats- und Rechtsentwicklung nachzuweisen sucht. Im zurückgebliebenen
Deutschland ist das Ergebnis erst in der Philosophie der Aufklärung
antizipiert, schickt sich aber längst auch dort an, Praxis zu werden.
Einen unschätzbaren Vorteil bringt der
englische Sonderweg mit sich: Weil er auf Pragmatismus und Utilitarismus beruht
und seine Herausbildung nicht von einer beschönigenden bzw. rechtfertigenden
Philosophie begleitet wird, ist der sich in England herausbildende Staat
leichter als bloßer „Not-und Verstandesstaat“ zu durchschauen, als das auf dem
Kontinent der Fall ist. Ein klares Bild zeigt sich: Ein Staat, dessen Aufgabe
darin bestand, die Einheit beider Naturen zu exekutieren, wird abgelöst durch
einen Staat, der bloß einer Natur verpflichtet ist. Aus der Sicht Hegels: der
„Gemeinwesenstaat“ wird ersetzt durch den „Gesellschaftsstaat“. Der echte Staat
weicht einem „Halbstaat“. Schon begrifflich zeigt sich das. Der „Not- und
Verstandesstaat“ entsteht hier als klar vom Begriff „Staat“ abgegrenztes (Self-)Government,
als Exekutivapparat der bürgerlichen Gesellschaft, als „Parlamentsstaat“.
[1] Mehr dazu: B.
Rettig, Hegels sittlicher Staat, S. 55-79 und Staat – Recht – Ökologie, S.
261-272.
[2] F. Klenk, Die
Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl,
Tübingen 1930, S. 7 – mit Hinweis auf die Arbeiten von Archenholz und
Beschorner.
[3] O. Spengler,
Preußentum und Sozialismus, München 1925, S. 36f.: „Unsere Schriftsteller und
Professoren haben mit der Fruchtbarkeit von Feldmäusen Deutschland mit Büchern
und Systemen bevölkert, in denen die englischen Schlagworte des freien Staates,
des freien Bürgers … aus der Wirklichkeit englischer Kontore in die deutschen
Wolken erhoben wurde.“
[4] G. Lukacs, Zur
Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Berlin u. Neuwied 1971 (Auszug aus Bd.
13/14 der Werkausgabe), S. 26 – mit Hinweis aus Phän, S. 18.
[5] H. Boldt, Hegel und die konstitutionelle
Monarchie, in: E. Weisser-Lohmann/D.
Köhler (Hrsg.), Verfassung und Revolution (HS Beiheft 42), Hamburg 2000, S.
173.
[6] Gerhard A.
Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein
verfassungsgeschichtlicher Vergleich, Tübingen 1962, S. 28.
[7] GuW, S. 321.
[8] § 260/Z R.
[9] Theodor
Litt, Hegel, Heidelberg 1953,
S. 116.
[10] R. Haym, Hegel
und seine Zeit, Leipzig 1927, S. 456 f. Siehe dazu auch: W. Steinmetz,
Erfahrung und Erwartung als Argumente in Hegels Reformbill-Schrift und in der
parlamentarischen Debatte in England, in: Ch. Jamme/E. Weisser-Lohmann, Politik
und Geschichte. Zu den Intentionen G.W.F. Hegels Reformbill-Schrift, Bonn 1995,
S. 127-150.
[11] Vgl. H. Boldt, a.a.O., S.
175. Und bereitet damit – wie es Beyer (Gans‘ Vorrede, a.a.O., S. 261) sieht –
den Boden für „den Freiheitsbegriff
einer unterdrückten, aber geschichtlich vor dem Abschütteln dieses Jochs
stehenden Klasse“.
[12] VPhG, S. 537
(Hervorh. bei H.).
[13] E. Vollrath,
Hegels Wahrnehmung Englands, in: Politik und Geschichte, a.a.O., S. 196.
[14] Logik II, S. 9.
[15] MEW Bd. 2, S. 34.
[16] NR, S. 441.
[17] E.
Vollrath (Hegels Wahrnehmung Englands, in: Jamme/Weisser-Lohmann, Politik und
Geschichte (HS Beiheft 35) 1995, S. 192) vertritt hierzu die „Grundthese ...,
dass bei Hegel unter dem Politischen etwas anderes ... verstanden wird, als dies durchgängig in
der englischen politischen Apperzeption der Fall ist.“ Das ist so.
[18] Logik (B), S. 208.
[19] Vgl. § 258/Z R.
[20] K. Rosenkranz
(Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck 1977, S. 414 u. 419).
Er meint, dass Hegel bei der Beurteilung Englands über die Stränge schlägt,
weil er Englands Schattenseite mit zu schwarzen, Deutschlands Lichtseite mit zu
glänzenden Farben malte. … Man fühlt dem Aufsatz, so gediegen er ist, … doch
schon eine krankhafte Verstimmung an.“
[21] LS, MM 4, S.
503.
[22] Ebd., S. 505.