Beilage zum „Betriebsstaat“:

Babelsberg. Die Staats-und Rechtswissenschaft der DDR nach 1958

 

Vorstehend ist als das Markenzeichen des „Betriebsstaates“ die Vereinheitlichung der beiden Sphären des „Allgemeinen“, stehend für das „Politische“, und des „Besonderen“, stehend für das „Ökonomische“, herausgearbeitet worden. Hier soll am Beispiel der Staats- und Rechtsentwicklung in der DDR nach der berühmt/berüchtigten Rede W. Ulbricht’s in Babelsberg des Jahres 1958 gezeigt werden, welche Umwälzungen nötig waren,  um die Staats- und Rechtsordnung auf die Bedürfnisse des „Betriebsstaates“ auszurichten.

 

Was war zu tun?

Einerseits war eine antifaschistisch-demokratische Ordnung, basierend auf einem selektiven Volksbegriff und auf eine zur „demokratischen" Seite hin ergänzten Verfassung a la ,,Weimar", ausgerufen worden. Nach Leninschen Kriterien: die Verfassung für eine noch bürgerliche Ordnung. Andererseits war nicht nur Eingeweihten klar, dass die Ostzone, dann: die DDR für den Aufbau des Sozialismus vorgesehen war. Nur eine Frage der Zeit: Die Überleitung der ,,antifaschistisch-demokratischen" in eine „Sozialismus“ nach Art der Sowjetunion aufbauende Ordnung.

1952 dann der ,,Startschuss":

,,Aufbau des Sozialismus" hieß nun die Losung.

 

Aber staatlich-juristisch war man noch immer in der "Volksdemokratie". Die Verfassung von 1949 war, so sehr sie sich inhaltlich vom GG der benachbarten Bundesrepublik unterschied und bereits Weichenstellung hin zum anderen System war, noch weit von einer „sozialistischen“ entfernt. Abgesehen vom Bereich der Wirtschaft und vom Bereich des politischen Strafrechts, knüpfte die Rechtsordnung deutlich mehr an „Weimar“ an als an das sowjetische Recht. Und was bereits als Sonderrechte installiert war, trug den Charakter des Übergangs. Nur die grobe Kontur war bisher von der Siegermacht vorgegeben. Die SMAD-Befehle, mit denen sie in den Jahren 45-49 regierte, erwiesen sich zwar im Nachhinein als die Eckpunkte des neuen Rechts. Aber ein geschlossenes Bild ergab sich daraus noch nicht. Es war in vieler Hinsicht Recht, dass der Nachkriegs-Situation entsprach: grobschlächtig und der Not der Zeit angepasst. Und wer Optimist war konnte glauben, es werde über diese Zeit hinaus keinen Bestand haben.

Hinzu kam die personelle Situation:

Nur wenige Juristen von Rang, jene, die sich aus dem nationalsozialistischen Getriebe heraushalten konnten oder mussten, standen zur Verfügung. Ihr Nachteil und Ungenügen zeigte sich aber bald in ihren liberalen Ansichten vom Recht. Jene ihrer Kollegen, die gewusst hätten, was jetzt not tat bzw. von der Führung gefordert war: K. Larenz, E.R. Huber, Th. Maunz, W. Siebert u.a. standen bereits im Dienst des anderen deutschen Staates. Eine nicht geringe Ironie liegt also darin, dass jene, die der DDR auf dem Gebiete des Staates und des Rechts hätten theoretisch auf die Sprünge helfen können, sich nach 45 einem Staat in den Dienst stellten, der sich besonders laut auf ein individualistisches Recht berief. Die DDR und ihre Führung verlor indes wertvolle Zeit, ehe sie halbwegs adäquaten Ersatz herangezogen hatte.

 

Fachleute, die dem sozialistischen Recht bereits hatten nahe treten dürfen oder gar an dessen Erarbeitung hatten mitwirken können, waren also rar. Einer dieser ganz wenigen: Karl Polak. Er hatte die Zeit nach 1933 im sowjetischen Exil verbracht und etliche Jahre im Dunstkreis Wyschinskis gewirkt. Er wusste, wie der "Hase laufen" sollte. Und noch einer, ein Größerer, wusste davon: W. Ulbricht. 

 

Vorherrschend also: der personelle Neuanfang. Meist mit jungen, im Eilverfahren ausgebildeten Genossen, die nun vor der Aufgabe standen, das sozialistische Recht zu begründen.[1] Mühsam hatten sie Fuß gefasst und sich zu eigen gemacht, was die Genossen Stalin und Wyschinski für "sozialistisches" Recht ausgaben. Aber Vieles, sehr Vieles, ja das Allermeiste, war noch zu tun.

Dann hatte der XX. Parteitag der KPdSU von Februar 1956 dazwischen gefunkt. Chrustschow hatte die Verbrechen Stalins teilweise offen gelegt, hatte die Wiederherstellung der marxistisch-leninistischen Lehre und wirtschaftliche und soziale Reformen angekündigt.

 

Stalin und Wyschinski, diese einstigen Götter, waren tot. Ein Großteil des bereits Gelernten schien mit ihnen begraben zu sein. An wen sollte/konnte man sich jetzt halten? Wer/was galt jetzt?

 

Qualitativ neues Recht war gefordert; sozialistisches Recht. Soweit, so gut. Nur: wie sah dieses aus, wie war es theoretisch zu begründen? Und was war mit dem überkommenen Recht? Denn immerhin: noch galt eine Verfassung, die antifaschistisch-demokratisch, aber nicht sozialistisch geprägt war.

Alles Fragen, mit denen sich bereits die nationalsozialistischen ,,Rechtswahrer" zu befassen hatten und zu deren Lösung C. Schmitt vorgab:

,,Die neue Welt des nationalsozialistischen Rechts ist mit den Begriffen und Formen des Weimarer Systems in keiner Weise auch nur zu begreifen, viel weniger zu rechtfertigen oder zu begründen."[2]     

Von Schmitt hätte man lernen können. Er wusste vom ersten Tag an, dass mit der Machtergreifung Hitlers eine ganz andere Verfassungslage bestand, dass die Weimarer Rechtsverfassung damit außer Kraft gesetzt war. „Von Anfang an müssen wir uns darüber klar sein, dass jeder Versuch, den heutigen Staat von dorther, wenn auch nur ‚formal‘ oder ‚juristisch‘ zu rechtfertigen, entweder juristisch sinnlos oder aber politisch ein Ausdruck des Bestrebens ist, das heute geltende öffentliche Recht in die Gedankengänge des früheren Rechts zurückzuführen und dadurch entweder zu paralysieren oder doch wenigstens zu relativieren.“[3]

 

Weitere Ironie der Geschichte: Jener, von dem man hätte lernen können, der zum Platzen gefüllt war mit paratem, anwendungsbereitem Wissen, wurde in der DDR zum meistgeschmähten Juristen aus dieser Zeit.[4]

Und die jungen Genossen? Gemessen an dem Schwergewicht Schmitt sahen sie recht blass aus. Ratlos irrten sie im Bermuda-Dreieck von antifaschistisch-demokratischer Ordnung, Stalin/Wyschinski und Marx/Engels umher. Und nun das: einige von ihnen witterten Morgenluft.

In dieser Situation war „Führung“ angesagt.

 

W. Ulbricht und K. Polak traten auf den Plan.

Babelsberg im Frühjahr 1958. Dort bliesen diese beiden dem bemühten, aber unsicher im Dunkeln tappenden, juristischen Nachwuchs den Marsch. Stießen sie mit der Nase auf jene Grundwahrheit, die C. Schmitt, K. Larenz, E.R. Huber sehr viel schneller, eigentlich schon bei der Machtergreifung parat hatten: dass die Lehre von der Partei jetzt die Staatslehre war, dass es jetzt darauf ankam, in der Partei den Souverän des ,,Politischen" zu sehen.

1958 wiederholt sich also, was auch 1933 ff. auf der Tagesordnung stand: die Klärung des Verhältnisses von Staat und Partei.[5] Auch damals waren mehrere Führer-Reden, mehrere Fachtagungen nötig, um auch den begriffsstutzigen unter den „Rechtswahrern" klar zu machen, dass nicht der Staat der Partei befiehlt, sondern die Partei dem Staat.[6] Selbstverständlich hatten auch die jungen Genossen, denen jetzt die Staats- und Rechtswissenschaft der DDR anvertraut war, die ,,führende Rolle der Partei" bereits verinnerlicht. Aber das etatistische Denken! Es saß tief und kam hier und da, und insgesamt viel zu oft zum Vorschein. Wie es damals ,,immer wieder Versuche [gab], den Eigenwert des Staates zu retten"[7] - z.B. über die Betonung eines Verwaltungsrechts -, so auch jetzt in der DDR. Jedenfalls war trotz aller ,,klaren Worte des Führers", jetzt der ,,Führung", die geforderte Klarheit längst nicht erreicht."

Hier gab es also dringenden Handlungsbedarf.  Gerade auch deshalb, weil in Moskau jene Hoffnungen geweckt waren. Weit mehr Hoffnungen, als die hiesige Führung einzulösen gedachte. Einige der jungen Genossen, darunter H. Klenner, hatten sich eilig (voreilig, wie sich dann zeigte!) von Stalin und Wyschinski verabschiedet und mit frischem Elan auf die Klassiker ("abzüglich" Stalin) gestürzt, um von dort her den sozialistischen Staat und sein Recht zu begründen. Die Hinweise Marxens in der „Kritik des Gothaer Programms“, zum Staat und zum Recht in der sozialistischen Gesellschaft wurden zu Rate gezogen bzw. neu bewertet. Der fortbestehende, wenn auch eingeschränkte, „bürgerliche Rechtshorizont“ rückte in den Focus. Mit ihm das Individuum. Die Ökonomen Behrens und Benary hatten, im Gefolge Libermans, Thesen veröffentlicht, die im Prinzip auf eine "sozialistische Warenproduktion" hinauslaufen. Nicht wenige der jungen Genossen sahen hierin einen vielversprechenden Ausgangspunkt für die Lehre von Staat und Recht.

 

Und auch dies: Wie 30 Jahre vorher Paschukanis, stießen sie bei ihrer Suche auf das Thema "Absterben". Der sozialistische Staat als absterbender bürgerlicher Staat. Musste die Staatsfrage nicht so gesehen werden?

Das sah die Führung ganz anders!

"Es war doch geradezu grotesk, dass die Genossen Behrens, Benary und noch einige Genossen, die Ihnen besser bekannt sind als mir, die revisionistische Theorie vom Abbau des Staates zu einer Zeit begründeten, als der Angriff der imperialistischen Bourgeoisie gegen die DDR sich verschärfte und die Staatsmacht als Hauptinstrument zum Schutze der Errungenschaften des werktätigen Volkes und als Hauptinstrument des sozialistischen Aufbaus sich als besonders notwendig erwies."[8]

"Absterben" - das war nicht nur ein Irrweg; das war Revisionismus!

Ein unmissverständliches Stopzeichen wurde gesetzt. (Fast) bis zum (bitteren) Ende der DDR stand es und wurde es eingehalten.

 

H. Klenner, der sich am weitesten vorgewagt hatte, wurde besonders scharf gerügt, des Revisionismus bezichtigt, ja in die Nähe der Konterrevolution gerückt. Vielleicht gerade deswegen, weil er ein Hoffnungsträger war, einer, von dem die Partei Besseres erwarten durfte. Hatte er sich nicht erst 1955 für das ,,Geschenk" bedankt, das der Genosse Wyschinski in Gestalt seiner Rechts-Definition der Menschheit gemacht hatte. Hatte er nicht ganz zeitgemäß und ganz linientreu formuliert:

,,Unter Anleitung Stalins gelang es Wyschinski in den dreißiger Jahren, die trotzkistischen Schädlinge an der Rechtsfront mit ihrem bürgerlich-faschistischem Rechtsnihilismus zu entlarven und zu vernichten"?[9] Insofern entsprach der besonderen, nun enttäuschten, Erwartung an ihn der ,,Schuss vor den Bug", mit dem die Führung auf die jetzige intellektuelle Besserwisserei reagierte.

 

Hauptgrund, weshalb den führenden Genossen die ,,Entstalinisierung" zur Unzeit kam:

Die DDR hatte den "Umschlagspunkt" noch nicht erreicht; sie war, politisch gesehen, 1958 in etwa auf dem Stand der Sowjetunion Ende der 20-er Jahre. Bekanntlich gab es dort zu diesem Zeitpunkt jenen Kurswechsel in der Anschauung von Staat und Recht, der sich sinnfällig darstellt in den Personen Paschukanis, der von nun an unaufhaltsam abstieg, und Wyschinski, der von nun an ebenso unaufhaltsam zum Cheftheoretiker aufstieg. Dieser "Kurswechsel" (oder ,,Frontwechsel" - wie hier wie dort gerne formuliert wurde!) wird im ,,Dritten Reich" bis etwa 1935, wird in der SU in der ,,Ersten Unionskonferenz über Fragen der Wissenschaft des Sowjetrechts und des Sowjetstaates" vom 16. Juli 1938 endgültig dingfest gemacht! Die Betrachtung des Rechts ausgehend vom Individuum wird endgültig verabschiedet und durch einen Rechtsbegriff ersetzt, der von "Gemeinschaft" und "Führer" hier, von "Kollektiv" und "Führung" dort ausgeht.

 

Soweit war die DDR noch nicht. Die „Machtfrage“ war noch nicht entschieden; das war erst 1962 der Fall.[10] Und das ist 1958 der Punkt: ,,Das Zurückbleiben der Staats-und Rechtswissenschat beruht darauf, dass diese Hauptfrage, die Frage der politischen Macht, nicht zur Grundlage der gesamten Arbeit genommen wird."[11] Für die Führung der DDR stand aus diesen Gründen die Entstalinisierung nicht auf der Tagesordnung; sie musste verhindert werden.

Der Rubikon musste erst überschritten werden. Denn das ist eine alte Kutscherweisheit:

Die Zügel kann man erst locker lassen, wenn man sie in der Hand hält. Erst später konnte man darüber reden, ob es zweckmäßig ist, dem Bürger oder dem Betrieb das eine oder andere Recht "mehr" zuzuteilen im Interesse (z.B.) größerer ökonomischer Effizienz.

Noch stand man im Gelände des ,,neutralen" Staates und inmitten des ,,individualistischen" Rechts. Dort drüben aber wartete die „neue Welt“ des realsozialistischen Rechts. Zu ihr aufzuschließen: das „ist von allergrößter Bedeutung." [12]

 

Zwanzig Monate später prüft K. Polak nach, ob bzw. wieweit die Forderungen der Partei in die Arbeiten der jungen Genossen eingeflossen sind. Welche Lehren haben sie gezogen? Wie ist es ihnen gelungen, die vom Genossen W. Ulbricht aufgedeckten Fehler zu überwinden?

 

Hatte die "weitverbreitete, anfänglich lähmende Ratlosigkeit gegenüber den Aufgaben der Babelsberger Konferenz"[13] einem produktiven Eifer Platz gemacht; war der "Knoten geplatzt", hatten die Genossen begriffen", um was es der Partei ging?

lmmerhin war jetzt "durch die Hilfe der Partei und ihres ersten Sekretärs unserer Staats-und Rechtswissenschaft der Weg geebnet, befreit von den ideologischen Schlacken der alten, bürgerlichen Begriffswelt, mit größerer Bewusstheit den Boden der materialistischen und dialektischen Geschichtsauffassung zu beziehen."[14]

 

Das ist der Maßstab:

"Das Kollektiv ist die gesellschaftliche Organisationsform, zu der sich die Rechtsformen zu entwickeln haben."[15] Endlich hatten die jungen Genossen begriffen, was ein K. Larenz 20 Jahre vorher sehr viel schneller parat hatte:

Der Gemeinschaft entspricht ein Recht, das "grundsätzlich verschieden von allem Rechte [ist], dass die äußeren Beziehungen der als Subjekte anerkannten Lebewesen regelt."

Aber besser spät als nie. K. Polak sieht jedenfalls "ehrliches und intensives Bemühen." Wenn sich das  Neue auch nur mühsam Bahn bricht.[16]

Zufrieden kann die Partei also noch lange nicht sein. Was die jungen Genossen bisher in Sachen „Staat“ abgeliefert haben, zeigt nach wie vor, dass die "Abwendung von der abstrakt-bürgerlichen Betrachtungsweise noch nicht vollzogen“ ist. Das sei erkennbar daran, wie "das Verhältnis des 'neuen Staatsrechts' zur Arbeiterklasse und ihrem marxistisch-leninistischen Vortrupp bestimmt wird."[17] Nämlich: Der Staat werde gesehen als einer, der die Stellung der Partei sichere. Aber:

Das ist nichts Neues. Das versteht sich von selbst. Das ist auch die Funktion des bürgerlichen Staates.

Das Neue, das Revolutionäre, nämlich dass die Partei außerhalb des Staates und über ihm steht, ist darin nicht erfasst. Dieser Fakt sei noch nicht begriffen worden. Stattdessen bezeuge die beschriebene Position ein noch immer etatistisches, mithin bürgerliches Denken, das den Staat "über die gesellschaftliche Entwicklung" stellt und das "wahre Verhältnis von Staat und Gesellschaft wieder" umkehrt. "Auf diese Weise wird jedoch ... die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei zu einer staatsrechtlichen Institution, eine durch das Staatsrecht zu schützende und durchzuführende Einrichtung. Damit wird der Staat über die Arbeiterklasse und ihre Partei gestellt."[18]

Auch das deckt sich mit einem Satz aus der Feder K. Larenz, damals ebenfalls adressiert an immer noch ,,etatistisch" Denkende:

,,Ein folgerichtiges normatives Denken kann den König, den Führer, den Richter immer nur als Vollstrecker einer Norm betrachten; es vernichtet damit ihren wirklichen Rang, ihre Würde, erniedrigt sie zu bloßen Funktionären."[19]

Auch an C. Schmitt hätte man sich orientieren können:

,,Der Staat ... hat nicht mehr das Monopol des Politischen, sondern ist nur ein Organ des Führers der Bewegung."[20]

Gerade die Beispiele Larenz und C. Schmitt, die ihrer Führung alsbald nach der Machtergreifung mit der gewünschten Erkenntnis aufwarten konnten, zeigen, wie sehr die jungen Genossen im Rückstand waren.

So gesehen, war die an ihnen geübte Kritik mehr als berechtigt.

Die Partei ist etwas anderes, vor allem: sie ist mehr als der Staat. Sie steht vor und über ihm. Das gerügte Denken bringt sie also objektiv um ihre Bedeutung. Es verkleinert also hier wie dort den Rang, die dem Führer bzw. der Führung zukommen.

Bemerkenswert:

Ulbricht und Polak polemisieren damit indirekt gegen Auffassungen in der Sowjetunion, die scheinbar den Staat in die Mitte stellen, nicht aber die Partei. Und das wiederum erinnert daran, dass 25 Jahre zuvor in Deutschland ebenfalls die italienische Auffassung abgelehnt wurde, die in dem Satz Mussolinis kulminiert: ,,Der Staat ist ewig, die Partei ist vergänglich."

Dem hielt damals C. Schmitt entgegen, dass nach deutscher Auffassung gerade die gegenteilige Ansicht der Wirklichkeit entspreche.[21]

Unterstellt, W. Ulbricht und K. Polak haben die Ausführungen Schmitt's oder Höhns dazu nicht gekannt, hätten wir ein Lehrstück zum Thema vor uns, dass gleichartige  Verhältnisse auch gleichartige theoretische und praktische Lösungen hervorbringen.

Dass in der Sowjetunion, gerade auch unter dem Einfluss Wyschinskis, ,,etatistischer" formuliert wurde als es Ulbricht fordert, ändert nichts daran, dass freilich auch dort die Partei vor dem Staat stand. Und für Italien trifft das Gleiche zu.

 

Defizite sieht K. Polak auch bei den Zivilrechtlern. Hier ist es deren Neigung, das Recht als "individualistisches", wenn auch „absterbendes" individualistisches, Recht zu sehen. Zahlreich jene, "deren Konstruktionen in völliger Verkennung der wirklichen Gesetzmäßigkeiten heute danach streben, ein von der Gesamtentwicklung der Gesellschaft abgegrenztes Fundament für die Existenz des Individuums zu suchen." Speziell Such und Kleine bescheinigt er, dass bei ihnen "die alten bürgerlichen zivilrechtlichen Vorstellungen" Pate stehen, dass sie - und das ist der zentrale Punkt - das Zivilrecht unter "Beibehaltung der abstrakten Individualität" konzipieren.[22]

 

Merken wir uns diese "abstrakte Individualität" und erinnern wir uns auch in diesem Zusammenhang an die Kritik, die K. Larenz 1939 an A. Manigk übt, dem er ein Zurückbleiben im "Kampf gegen den bisherigen abstrakt-allgemeinen Vertragsbegriff“ bescheinigt.[23] Hintergrund der Vorwürfe ist beide Male der gleiche: die ,,Umkehrung" des Staats- und Rechtsbegriffs infolge der Wendung zum „Betriebsstaat“.

Wie damals die „Gemeinschaft“, ist jetzt das „Kollektiv“ Ausgangspunkt des Zivilrechts. Der Wischi-Waschi-Standpunkt, der sowohl dem Kollektiv wie dem Individuum gerecht zu werden sucht, genügt nicht. Ihm ist auch jetzt entgegen zu halten, was 25 Jahre zuvor R. Höhn zu sagen hatte:

„Gießt man nur „gemeinschaftsmäßiges Gedankengut in die individualistische Begriffswelt, so nimmt man diesem Gedankengut sein Wesen, seine Kraft und seine Eigentümlichkeit.“[24]

 

W. Ulbricht und K. Polak haben im sowjetischen Exil ein Recht kennengelernt, das nicht "absterbendes", sondern "aufblühendes", tonangebendes, omnipotentes Recht war. Und ganz wichtig: Ein Recht, dessen Quelle idealiter das "Kollektiv", realiter die Partei und der Staat ist. Ihnen dient es, von dorther ist es folglich zu beurteilen. Würde man akzeptieren, dass das Zivilrecht (nur) vom Leistungsprinzip her, mithin als "individualistisches", wenngleich "absterbendes", Recht konzipiert wird, käme man zu einer Zweigleisigkeit:

Recht, das vom ,,Kollektiv“ her konzipiert ist: sozialistisches Recht, und Recht, das "das die abstrakte lndividualität zu seiner Grundlage hat", individualistisches, bürgerliches Recht. Such u.a. schreiben sich also geradewegs in einen Konflikt hinein, der 25 Jahre zuvor einem Paschukanis das Leben kostete.

 

Was die jungen Genossen übersahen:

Es ging nicht bloß um eine Anpassung des bisherigen Privatrechts an die sozialistischen Verhältnisse. Es ging um einen „Neubau“ (Larenz), der vom „Kollektiv“ her zu errichten ist. Er führt weg von der „Person“ und ihren subjektiven Rechten und hin zum „Glied“ und dessen „Glied“- bzw. Rechtsstellung. Dieser Neubau ersetzt das bisherige, „pflichtlos“ verstandene durch ein „pflichtiges“ Recht. Es war G. Haney, der als einer der ersten jener jungen Genossen verstand, hierzu den Erwartungen der Partei zu entsprechen.[25]

 

K. Bönninger wird abgekanzelt, weil er einem "sozialistischen Verwaltungsrecht" das Wort redet. Was hat er mit diesem Verwaltungsrecht anderes im Sinn. als damit der "Bewusstheit" in den Arm zu fallen?

Das Verwaltungsrecht als eigenständige Disziplin wird daher gestrichen.

Wie schon E.R. Huber[26] für das "Dritte Reich" nachwies:

Das Verwaltungsrecht entstand unter dem Einfluss des Liberalismus durch Unterwerfung der ,,hoheitlichen Sphäre unter die individuellen Interessen". Das „Dritte Reich“ macht Schluss mit dieser „grundfalschen“, ja verhängnisvollen Entwicklung. ,,Im völkischen Recht vollzieht sich der umgekehrte Vorgang; das öffentliche Recht wird nicht nur unter das leitende Prinzip politischer Hoheit und Führung zurückgebracht, sondern dieser Grundsatz bestimmt auch das Gesamtgebiet des ,privaten Rechts'."[27]

Nichts anderes fordert W. Ulbricht. Auch für ihn sind ,,Staatsrecht und Verwaltungsrecht miteinander auf das engste verbunden", auch für ihn ist ,,die Trennung von Staatsrecht und Verwaltungsrecht ein bürgerliches Prinzip", das die Schlagkraft der politischen Macht schmälert.

Subjektiv-öffentliche Rechte? Sie stehen damals im Widerspruch zum ,,Gemeinschaftsmäßigen" und ,,Völkischen“ und sie stehen jetzt im Widerspruch zum ,,Kollektiv" und vor allem: zur ,,Führung". All das ist dem Nicht-Juristen W. Ulbricht besser bekannt als Bönniger und Co., die mit ihrem Verwaltungsrecht nichts anderes bezwecken, als dem Bürger eine Stellung gegenüber der Verwaltung zu verschaffen, die ihm nicht zusteht. Die Abschaffung (nicht der Verwaltung, sondern) des Verwaltungsrechts liegt daher ebenso in der Logik des kollektivistischen Rechtsbegriffs wie die bereits erfolgte Abschaffung (Außerkurssetzung) des Privatrechts im Bereich des Staatseigentums. Bis auf das Zivilrecht der Bürger, später geregelt im ZGB, ist damit sowohl das Privatrecht wie auch das Verwaltungsrecht, soweit es subjektiv-öffentliche Rechte enthält, von der "Ordnung" „geschluckt". An ihre Stelle tritt die "Direktion".

 

Wie gesagt:

Es gibt ein einheitliches sozialistisches Recht!

Es ist einheitlich, weil es in seiner Gesamtheit von den "Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung" determiniert ist, von denen später einer der jungen Genossen sagen wird, dass darunter die Parteibeschlüsse zu verstehen waren. Wie es 25 Jahre zuvor W. Siebert formuliert: Ausgangspunkt kann nicht die Frage sein, "was der einzelne zur Erhaltung seiner Individualsphäre verlangen kann, sondern ..., was der Gemeinschaftsgedanke verlangt, was der Gemeinschaftsgedanke dem einzelnen gestattet, welchen Umfang der Rechte die Gemeinschaft dem einzelnen zubilligt."

 

Das Leistungsprinzip und die mit ihm verbundenen Ware-Geld-Beziehungen können daher nicht primärer Anknüpfungspunkt sein. Täte man so, käme man geradewegs zur Verabsolutierung alter bürgerlicher Positionen.

 

Gefordert ist ein Recht, das – wie der Staat – Instrument des „Kollektivs“ ist und hilft, dessen Interessen zu exekutieren; ein instrumentales Recht.

 

 

Ein Problem, vor dem sie stehen, ist Marx. Dieser hat sich bei der Darstellung des "sozialistischen" Rechts beklagenswert kurz und dazu noch missverständlich geäußert.

Außerdem:

Marx war lange tot. Die Partei und ihr erster Sekretär aber lebten. Und Letztere wussten auf jeden Fall alles besser; auch besser als Marx.

Marx war also dort links liegen zu lassen, wo er den Eindruck erweckt, dass ein sozialistisches Recht nur "absterbendes". mithin "individualistisches" Recht sein kann, dass ein Zugehen auf den Kommunismus das Ende des Staates und des Rechts einläutet, dass dem Kommunismus ein eigener Staat, ein eigenes Recht abgeht.

Wäre es so, gäbe es keine Alternative zum individualistischen, zum bürgerlichen Recht und auch zum bürgerlichen Staat. Es gäbe dann nur deren Einschränkung - ausgedrückt in dem Wort "Absterben". Sozialistisches Recht wäre dann nichts weiter als absterbendes bürgerliches Recht.

 

Das ist der Partei entschieden zu wenig!

 

Besser ist es da noch, sich an Hegel zu orientieren, was einige der jungen Genossen, z.B. G. Haney, dann auch taten.

Wo Marx schweigt bzw. nur eine Lösung anbietet, die für die Partei mehr als unbefriedigend ist, scheint er Antworten parat zu haben, die den Führungsanspruch der Partei besser begründen helfen. Eine unerklärte, der ,,Sache“ wegen geduldete, Hegel-Renaissance setzt ein. Allerdings gilt für sie Ähnliches wie für den Neu-Hegelianismus a la Binder und Larenz:

Um den gewünschten Zweck zu erreichen, wird Hegel verfälscht; seine dialektische ,,Grundpaarung" wird in die Gesellschaft verlagert, wodurch die dort herrschende Willkür zur ,,Bewusstheit" erhoben werden kann.

Dass dadurch auch Marx verfälscht wird, versteht sich von selbst.

 

Während also die "Absterbe-Theorie" das Recht nach wie vor aus der kapitalistischen Gesellschaft, allgemeiner: aus den Ware-Geld-Kategorien ableitet, ist der jetzt geforderte theoretische Ausgangspunkt einem fiktiven "Kommunismus" und einer dort gegebenen, ebenso fiktiven, ,,Bewusstheit“ zu entnehmen. Ein zukünftiger oder gar "himmlischer" Zustand, gebunden lt. Marx an ein Niveau der Produktivkräfte, wie es die fortgeschrittenen Volkswirtschaften gegenwärtig  zu erreichen beginnen, wird, in die Niederungen der Gegenwart versetzt, zum aufgezwungenem Gemeinwesen, wird zur „abstrakten Kollektivität“. Und je mehr antizipiert wird, umso "zwanghafter" werden die werden deren Staat und deren Recht.[28]

Da ja die "abstrakte Individualität" vom Sockel gestoßen ist und keinen Schutz mehr bieten kann, steht der konkrete Mensch jetzt schutzlos vor der "abstrakten Kollektivität".

Kehren wir zu den jungen Genossen zurück:

Das alles ist nicht ganz leicht zu begreifen für sie. Aber langsam fällt nun doch der „Groschen" bei ihnen. Staat und Recht werden nunmehr unisono vom Kollektiv und der „Bewusstheit“ definiert. Und sie werden als „Instrumente“ gesehen – als Instrumente der Partei. Dabei bleibt es in der Folgezeit; kaum einer tanzt aus der Reihe.

 

Wie geht es weiter:

Nachdem die „Machtfrage“ entschieden und die Grenze dicht gemacht war, wurden die Zügel tatsächlich ein wenig gelockert. Die abstrakte Kollektivität wird theoretisch und praktisch ein wenig "berichtigt". Sie wird relativiert zugunsten der "Rechtsstellung" des Bürgers und auch der Betriebe. Dieser Trend gipfelt in der DDR in der altersklugen These W. Ulbrichts von der relativen Selbständigkeit des Sozialismus gegenüber dem Kommunismus. Eine These, die Druck aus dem Kessel hätte nehmen können, wäre sie weiter verfolgt worden. Aber die sowjetischen Genossen, die übergeordnete Führung, missbilligte diesen Vorstoß und sorgte dafür, dass ein folgsamerer Genosse, E. Honecker, die Zügel in die Hand nahm. Die Mitte der 60-er Jahre einsetzende Aufbruchsstimmung, die in Bewegung geratene Diskussion zu grundsätzlichen Fragen wurde fast zum Erliegen gebracht. Lediglich das Verwaltungsrecht wird wiederbelebt, weist aber auch am Ende der DDR nur schwache Konturen auf. Ebenfalls eine nur schwache Kontur gewinnt auch das "sozialistische Wirtschaftsrecht", das, gewissermaßen als Ersatz für das weggefallene Privatrecht, für den Bereich der Wirtschaft zuständig wird. Hier ist und bleibt es so, dass die als Rechtsnorm auftretende Weisung das Geschehen dominiert. Und sonst? Platter Positivismus macht sich breit. Die Zeit der Lehrbücher begann, in denen Autorenkollektive das Bestehende ausbreiteten, verherrlichten und darin wetteiferten. absolute Wahrheiten zu verlautbaren.

Das Ende der DDR und ihrer Staats-und Rechtswissenschaft war eingeläutet.

 

 

 



[1] Informativ dazu: Von den Anfängen der marxistisch-leninistischen Rechtswissenschaft, Ein Gespräch mit Teilnehmern des ersten Lehrgangs für wissenschaftliche Aspiranten (Forst Zinna 1951), NJ 1989, S. 351-355.

[2] C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1934, S. 6.

[3] C. Schmitt, Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts, Referat auf dem Deutschen Juristentag am 3.10. 1933 in Berlin, Berlin 1933, S. 243.

[4] C. Schmitt ist nahezu der einzige aus dieser Zeit, der in der DDR wenigstens ansatzweise wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Sonst aber: Schweigen im Walde! (Vgl. dazu: Karl-Heinz Schöneburg, Der deutsche faschistische Staat in staats- und rechtstheoretischer Sicht, in: Staat und Recht 1989, S. 531-541) Diese Gemeinsamkeit stand im Wege. Die verblüffende Übereinstimmung vieler wissenschaftlicher und praktischer Lösungen, die die Nähe beider Ordnungen anzeigt, schiebt man die jeweils andere Phraseologie beiseite, sollte nicht aufgedeckt werden. 

[5] Klar und deutlich für das „Dritte Reich“: R. Höhn, Partei und Staat, DR 1935, S. 474-478.

[6] Hitler 1936 in Nürnberg: „Die Partei befiehlt dem Staat!“

[7] R. Höhn, Staat als Rechtsbegriff,  DR 1934, S. 322.

[8] W. Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland, StuR 1958, S. 325-349 (S. 336).

[9] H. Klenner, Der Marxismus-Leninismus über das Wesen des Rechts, Berlin 1955, S.8.

[10] 1962 wurde der Sieg der der sozialistischen Produktionsverhältnisse verkündet.

[11] W. Ulbricht, a.a.O., S. 330 - Hervorh. bei W.U.

[12] Ebd.

[13] Arlt, Die Dialektik in der Staats- und Rechtswissenschaft durchsetzen! Zu Karl Polaks Werk ‚Zur Dialektik in der Staatslehre‘, StuR 1960, S. 230-248 (S. 230).

[14] K. Polak, Zur Lage der Staats- und Rechtswissenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik (1. Teil), StuR 1959, S. 1326 ff. (S. 28).

[15] Ebd., S.31.

[16] Ebd., S. 29.

[17] K. Polak, Zur Lage… (2. Teil), StuR 1960, S. 1ff. (S. 3).

[18] Ebd., S. 4.

[19] K. Larenz, Besprechung zu: C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, in: ZDK 1(1935), S. 113.

[20] C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 66.

[21] S. dazu: C. Schmitt, Faschistische und nationalsozialistische Rechtswissenschaft, DJZ 41 (1936), S. 620; G. Lo Verde, Faschismus und Staat, ARSP 30 (1936/37), S. 193-201.

[22] K. Polak, Zur Lage (Teil 1), a.a.O., S. 1337 u. 1340.

[23] K. Larenz, Neubau des Privatrechts, in: AcP 145 (1939), S. 91-107 (S. 92).

[24] R. Höhn, Staat als Rechtsbegriff, DR 1934, S. 323.

[25] Mit seiner (Habil-)Arbeit zu „Sozialistisches Recht und Persönlichkeit“, Berlin 1967.

[26] E.R. Huber. Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, DRW 1936, S. 143 ff.

[27] Ebd., S. 148 u.150.

[28] s. dazu: J.-U. Heuer, Staat und Revolution - heute gelesen, NJ 1987, S. 308.

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